Moralpolitik

Die öffentliche Meinung ist bemüht, dass jegliches Handeln der sog. Politik in der Matrix von Political Correctness gemessen wird. Mir ist nicht richtig klar, welcher Kompass sonst der richtige wäre. Ich vermute dahinter den Begriff der Realpolitik: man muss schließlich versuchen, die Umwelt nicht nur mit einer fixen Matrix zu verstehen.

Es wird auch von der Sozialdemokratisierung der großen parteipolitischen Linien gesprochen. Die ‚Konservativen‘ beschweren sich, dass sie zusehends an den Rand gedrängt werden.

Hermann Lübbe hat 1984 einen Beitrag geschrieben, der den Absolutismus und die fachliche Ignoranz der sog. Moralpolitik verdammt. Überzeugend erklärt er, dass die Beziehung der eigenen Argumentation auf die Moral jegliche fachliche Diskussion zugunsten des Moralisten entscheiden wird. Schlimmer noch ist: sie löst die fachlichen Probleme nicht.

Ein gutes Beispiel könnte die Dimension von Frauen, Migranten oder Behinderten sein. Wer ein Problem aufwirft, ist per se (nein, wegen seiner vermeintlichen moralischen Lage) schuldig und im Unrecht. Sehr eindrücklich wird dies bei gelichtet Kritik gegen Israel: sie ist verboten, weil es die Juden verhöhnen könnte. Das krasse Vorgehen gegen die Palästinenser wird somit mit höherer Moral gerechtfertigt.

Wolf Biermann hat stets von der Auschwitz-Keule gesprochen. Er meinte damit das provozierte Ende jeglicher politischen Debatte: weil ich ein Alt-Opfer von Auschwitz bin, habe ich immer recht – basta?!

Auch wenn das alles politisch klingt, so kennen wir doch dieses Muster auch aus normalen sozialen Interaktionen nur allzu gut. Denn auch dort hat der schwächere immer recht, der Kranke, der Alte, das Kind, die Frau usw.

Meines Erachtens ist es vor allem gedankliche Faulheit und Bequemlichkeit, die Moralisten ausmacht: die Welt instinktiv Gut und Böse einteilen, wie in einer Dorfkirche des Mittelalters. Und schon damals war klar: wer gut und böse definiert, hat die Macht. Er ist derjenige, der sich auf die letzte Instanz, nämlich Gott, beziehen kann. Er behauptet es einfach.

Moralpolitik ist daher auch zutiefst un-sachlich. Es ist eine Einladung vor allem zum eigenen Narzissmus: ich bin auf der Seite der Richtigen und Guten: die anderen sind doof. Und so kann man sich mit einem guten Gefühl zurücklehnen – zumindest für den Moment.

Wettbewerb im Nichtstun

Kürzlich erzählte mir doch jemand mit Schmunzeln von einem Kollegen, der sich brüstet, besser im Vermeiden von Arbeit zu sein als die anderen. Es hat gar ein inneres Konto aufgemacht, indem er die Paarungen summiert: gegen x steht es jetzt 2 : 5.

Dabei schmunzeln die Protagonisten über ihre Leistung. Sie sind offensichtlich stolz darauf. Sie wissen zu vermeiden. Sie können ihren Willen jemandem anderen aufdrücken. Sie sind besser.

Manche Menschen könnten dies als einen lustigen Zug des Handelns betrachten. Dahinter steckt jedoch ein Weltbild, das a-sozial und zugleich menschlich ist. Gerade Männer suchen den Wettbewerb, wo auch immer er lauern könnte. Das gehört wohl zum sog. Spieltrieb.

Doch gleichzeitig wollen die so Handelnden genauso soziale Anerkennung wie alle anderen Menschen auch. Ihr Publikum ist nicht die öffentliche protestantische Moral, sondern die des Gauners, der sich durchsetzt. Es ist das Schmunzeln des Kleinkriminellen.

Von Dritten werden diese Protagonisten aber als Trittbrettfahrer betrachtet. Denn sie genießen die Privilegien, aber scheuen die Pflichten. Es sind die Wheeler Dealer, die Schmarotzer, die Cleveren, die Bauernschlauen – die eben mit geringstem Aufwand das Meiste herausholen.

Dabei hat der Faulpelz immer schon einiges an Sympathie genossen. Das begann wohl mit Diogenes in der Tonne, über den verklärenden Blick von Eichendorffs (aus dem Leben eines Taugenichts) bis hin zu der neuesten modernen französischen Lektüre von ‚die Entdeckung der Faulheit‘.

Auch die Hochstapler können auf den sozialen Resonanzboden der Sympathie vertrauen. Auch literarische Zeugnisse sind hier zu nennen, vor allem wenn man an Vorstellung von Horst Buchholz im Film des Felix Krull denkt. Es ist wohl die (Bauern-) Schläue, die uns gefällt: so wie die von Gerd Postel, dem Gauner Dagobert oder anderen. In Filmen wird dieses vom Zuschauer beneidet, wobei es oft der moralisch einwandfreie Gauner ist, der die Beute nicht braucht – und besser noch an die Armen und Bedürftigen verteilt.

Doch gibt es eben diejenigen, die immer und überall die Vorteile des Systems für sich zu nutzen wissen. Die sagen, dass dieses Eindringen in das System schon eine Leistung an sich ist. Das erinnert mich auch an diejenigen, die während ihres Jurastudiums gesagt hatten, dass es eigentlich langweilig sei: doch die Erschließung des Systems hätte ihnen große Freude bereitet.

Wer sind diese Typen, die sich mit Stolz brüsten, wenn sie sich Vorteile mit dem geringsten Aufwand besorgen? Ist das tatsächlich nur eine Minderheit? Oder ist es nicht gar ein anthropologisches Prinzip, was eben durch Moral gehemmt wird? Man erinnere sich an den Slogan ‚geiz ist geil‘, der eine Art von Legitimation erbringt, wenn man im Wettbewerb mit den anderen ein Produkt mit weniger Aufwand erhascht. Ist nicht die Gelegenheit, die Diebe macht, auch nur eine Normalität? Und sagt nicht auch der Schüler mit den guten Noten, er habe nicht viel lernen müssen? Ist es nicht einfach so etwas wie ein Fingerzeig auf sich selbst, dass man im abstrakten Wettbewerb mit allen anderen schneller an das Ziel gelangt, das alle zu erreichen versuchen?

Wie viel Selbstliebe erträgt meine Umwelt?

Ein wichtiges Thema bleibt den Menschen: ihr Blick auf sich selbst. Bin ich eigentlich ok? Was meinen die anderen? Inwieweit soll ich meine Interessen gegen die der anderen durchsetzen? Ist es wichtiger, dass ich mit mir im Einklang bin – oder die anderen mich mögen?

Die Hochphase dieser Auseinandersetzung ist die Pubertät: dann will man wissen, worauf man sich einlässt und wie es weitergeht. Offensichtlich erzwingt der interne biologische hormonelle Aufruhr diese Auseinandersetzung.

Doch bleibt es stets ein Lebensthema: denn die Bedürfnisse nach Wertschätzung von außen und Zufriedenheit von innen bleiben immer in einer heiklen Balance – meist stark beeinflusst von den eigenen Stimmungen und dem Lebensumfeld.

Die eine Fraktion rät zum Leben, das bewusst auf die Erwartungen der Umwelt reagiert. Vor allem die Tipps und Empfehlungen in der Business Welt zeugen von der steten Annäherung an den Mainstream: wie man sich beim Abschied aus der Firma verhält, wen man duzt oder was man an Kleidung trägt. Die Autoren scheuen sich nicht, den Zeitgeist in konkrete Handlungsanweisungen zu packen. Das ähnelt dem Zureden der Eltern in der eigenen Jugend.

Die andere Fraktion rät zur dominanten Orientierung an den eigenen Bedürfnissen. Nur so entstünde innerer Friede. Es wird das Bild des inneren Kindes ins Feld geführt, wonach die Trotzphase des vier-jährigen Vorbild für jeden Erwachsenen ist. Nur so kann sich die eigene Identität entwickeln und mit Zufriedenheit einhergehen. Geht man nicht den Weg, wird man nach den Vorhersagen der Autoren krank.

Die riesige Fülle von Ratgeberliteratur zeigt, dass das Bedürfnis nach einem Leben ohne Konflikte mit sich oder der sozialen Umwelt immer präsent ist. Nur im Alter, so könnte man meinen, schwindet der Anspruch. Dann lebt man ohnehin nur noch nach seinen ureigensten schrulligen Bedürfnissen; was die Nachbarn sagen, wird zunehmend gleichgültig; die Fokussierung auf das geistige und körperliche Können determiniert dann auch das Wollen.

Zur Frage zurück: was passiert denn, wenn die anderen die Augenbrauen heben, getuschelt wird und zweideutige Bemerkungen gemacht werden? Ist es nur Anlass für ein Innehalten, ein Spüren, ein Reflektieren? Oder wirft es uns vielleicht in eine mentale Krise? Option B wäre die schon körperliche Bewegung, Rückgrat steif, Brust heraus. Soll man eher im vertrauten Kreise der Familie und Freunde aufgehen – oder mit sich ins Reine kommen wollen? Wohl wird nur das konkrete Leben darauf Antworten finden.

Die Unverschämten sind immer im Vorteil

Im Konflikt von Menschen zieht der häufig den Kürzeren, der die Werte eines gelingenden sozialen Miteinanders wahren will. Denn das verfängt bei dem Unverschämten gegenüber nicht. Und man ist auch weniger geübt darin als sein Widersacher, selbst unverschämt zu sein.Eine typische Auseinandersetzung zwischen einem älteren Menschen und einem Halbstarken endet immer gleich: Lautstärke und Ich-Ansage obsiegen. Der Ältere ist verblüfft und entsetzt. Er glaubt, die Welt ginge unter.Donald Trump ist ein Mensch, der vor Unverschämtheiten strotzt: eigentlich ist der Mensch einfach nur unhöflich. Er kennt keine Scham, wenn es um ‚schlechtes‘ Verhalten geht. Er macht weiter, da ihn keine ethische Instanz sanktionieren kann.Eine Waffengleichheit der Pole gibt es also nicht: bemüht sich der eine um einen verständigen Ausgleich; so ist der andere eher auf Durchsetzung seiner Interessen und Launen gepolt. Eine Auseinandersetzung ist eben nicht die wie in einem Duell, bei dem sich die beiden Duellanten auf Regeln verständigt hatten, wie beispielsweise die Anzahl der Schritte, bevor sie sich drehen. Ohne Verabredung der Regeln keine Fairness und kein echter Vergleich!Es ist also wie bei einem Aufeinandertreffen im Namen der Gewalt: der sie ausübt, gewinnt. Nur handelt es sich meist um Wortgefechte. Wer das letzte Wort hat, gewinnt; wer lauter ist, gewinnt; wer den anderen mehr beleidigt gewinnt; wer mehr redet, gewinnt; …

Es dreht sich derjenige zuerst ab, der sich von dem anderen bedrängt fühlt; wer versteht, dass es keinen Ausgleich gibt; wer sich das Verhalten des anderen nicht erklären kann … der aufhört, hat verloren. Denn im Tierreich ist es ebenso: es weicht der, der sich nicht durchsetzen kann. Dann kommt der Mensch aber mit einem Trick, und ist eben doch der Gewinner – indem er den anderen aus dem Kollektiv des Menschenverstandes, der sozialen Normalität und des Anstandes schubst: „solch‘ eine Unverschämtheit!“

Politik als Projektionsfläche

Die Politik hat etwas Faszinierendes. Sie ist in aller Munde und dennoch fern und unbekannt (wenn man an den realen Politikbetrieb denkt). Sie ist wie ein Platzhalter außerhalb jeglicher mathematischen Berechenbarkeit. Und einzigartig zumindest für die Demokratie: jeder kann, darf und soll mitreden.

Und so ist ‚Politik‘ ein Spielfeld der grenzenlosen Gedankenspielereien, ein eigenes philosophisches Genre für die Massen. Denn jeder einzelne kann sich seine Utopien basteln. Es ist Privatsache und eben nicht nur eine öffentliche Sache. Jeder hat seine politische Anschauung; und Politik ist nicht nur das, was als öffentliche Angelegenheiten bezeichnet wird. Immerhin gibt es gar Vokabeln dafür, wie beispielsweise die ‚Politik der Straße‘.

Den Realitätstest müssen gedankliche Spielereien und Phantasien nicht machen. Eher geht es um grundsätzliche Entwürfe und Wünsche / Werte eines menschlichen Zusammenlebens. Die Umsetzung wird somit vollständig ausgeblendet; das können dann die vielen Heinzelmännchen, die Beamten machen, die Politik konkretisieren müssen.

In diesem Dia- und Multilog passieren Dinge, die dem komplexen Klimageschehen gleichen. Denn es gibt Gesetzmäßigkeiten, die so richtig von niemanden, eben auch nicht von den Teilnehmern selbst verstanden werden.

Insoweit muss man auch das Wesen der Politik weder in seinen institutionellen Strukturen noch den immanenten Verfahren kennen. Der Stammtisch kann sich somit voll entfalten, ohne sich an Realitäten halten zu müssen. Somit können Faszination und Anmutungen von Verschwörung wie persönliche subjektive Glaubenssätze im Konvolut des Austausches greifen; wie im Rausch.

Politik definiert sich nicht mehr als Thema, das wichtig für die Gesamtheit der Menschen ist. Das wären Themen wie Krieg und Frieden oder die Ernährung der Bevölkerung. Politik ist heutzutage vor allem ein Synonym für das Auslassen von Fürsorge: Politik kümmert sich nicht; vor allem nicht um meine privaten Bedürfnisse. Das muss sie aber tun.

In der Geschichte der Menschheit betete man zu einem unbekannten Gott, der sich der konkreten Probleme des Alltags annehmen möge. Heutzutage erwartet man von der Politik, dass sie seinen Platz einnehmen möge. Nur: es gibt keinen Ausschluss mehr, keine Exkommunikation und keine Verantwortung für seinen Glauben – wie bequem.

Krisenmanager

Gerade jetzt in der Krise merkt man, wie sehr die Brust schwillt unter dem Eindruck, das Schicksal anderer (mit-)bestimmen zu können. Dabei ist der Stolz auf die gerichtet, die man ‚rettet‘; sollte es nicht klappen, lässt sich das noch immer auf die schwierigen Rahmenbedingungen schieben.

Und dann gibt es auch noch einen Wettbewerb über die härtesten und entschiedensten Maßnahmen. Das kann man ganz gut bei Boris Johnson beobachten. Besser noch ist die Konkurrenz der Bundesländer in der Pandemie, zuerst bei dem gegenseitigen Überbieten bei Restriktionen, dann bei den Lockerungen.

Krisenmanager sind gefragt, erfreuen sich einer großen Beliebtheit. Es gilt für viele die historischen Figuren, symbolisiert durch Helmut Schmidt bei der Großen Hamburger Flut 1963.

Man kann hinter solchen Personen gute Organisatoren sehen, nicht Strategen, Vordenker, Charismatiker, Redner oder andere Typen. Es handelt sich eigentlich um den typischen deutschen Landrat, meist gelernter Jurist.

Zu unterscheiden sind dann diejenigen, die Scharfmacher bei den radikalen Lösungen zur Abwehr sind. Es sind diejenigen, die ‚den Stecker ziehen‘ (s.a. Heute Journal am Samstag, den 25.04. Unternehmer: „Es Ist so leicht, einfach den Stecker zu ziehen.“) Daneben sind es konstruktiven Löser, die auf die andere Partei zugehen oder eine konkrete Bewältigung der schwierigen Rahmenbedingungen suchen. Gefragt sind freilich eher diejenigen, die uns wieder in die Normalität zurückkehren lassen; gleichwohl: sie geraten für die große Masse schnell wieder aus dem Blick. Gefahr und Schrecken gehen ins Mark; die Wiederkehr zur Normalität ist das Aufatmen, das einen die Überwindung der Krise spüren lässt. Darüber gerät der homo faber aber in Vergessenheit. Es geht wenigen wie Ludwig Erhard, der als Schöpfer noch heute verehrt wird.

Es gilt das Zitat: „Krisen bringen immer das Beste im Menschen hervor.“ Wenn das einmal stimmte, würde es uns alle freuen können. Die anfängliche Solidarität wird im Wiederaufbau nach der Pandemie möglicherweise schnell in den Kampf um die Verteilung der Chancen und Mittel umschlagen. Wir werden sehen.

Andererseits ist richtig, dass erst das Schwanken und das Bröckeln der Normalität die Kreativität anspornen, ja geradezu neu erfinden. Und sind denn auch die verschiedenen Plakate in den Straßen schön zu lesen: „Schwierige Wege ergeben häufig die schönsten Filme.“

Zeit der Welterklärer

Die Stammtische habe ich im Ohr, wenn ich daran denke, was mir meine letzten verbliebenen sozialen Kontakte so alles mitteilen: ‚es sei so und so‘. Es würde so und so.

Tatsächlich bäumt sich plötzlich eine Welle von Personen auf, die Wichtiges zu sagen haben. Es scheint in Zeiten der Krise zu größeren Einsichten und zum Nachdenken zu kommen, daher auch das öffentliche Verlautbaren. Tja, wenn man zu Hause in der Stille sitzt, dann ließe sich tatsächlich der ein oder andere Gedanke gründlich vertiefen, ohne gestört zu werden.

So will jeder die Bedeutung des nicht Normalen mit einer höheren Bedeutung versehen, dann gar erläutern. Die Welt wird des Anders-seins muss ja irgendwie greifbar und für alle verstehbar gemacht werden. Vor allem geistliche und säkulare Denker machen sich auf, der Krise eine Bedeutung, ja einen höheren Sinn zu verleihen: „die Zeit nach der Krise könnte eine bessere sein!“

Dem gegenüber könnte man erwidern, dass eben auch ganz rational mit dieser Pandemie umgegangen werden kann. Es ist keine existentielle Krise für die Menschheit, sondern nur eine verdammte biologische Seuche. Und das sieht dann eben genauso so aus, wie es gerade ist. Schön war hier das Interview mit Bill Gates, der den Sachverhalt erklärte, ohne in das Vokabular der Evangelikalen zu verfallen.

Zurück zur Welterklärung: es werden große Gedanken formuliert. Das ist wie das Offenlegen des Innersten, wenn man stirbt. Diese betroffenen Tagebücher kennen wir beispielsweise von Hermsdorf oder Schlingensief.

Und zwischenzeitlich gibt es auch eine Gegenbewegung, die sich zart an diese ‚bedeutungsschwangere‘ Pathetik heranmacht. Der Spiegel zitierte die Autorin Spinney: „es scheint momentan fast so, als erzählte unser Leben.“ Und das ist eher zweifelnd gemeint.

Und gleichzeitig erheben sich die Weltverschwörungstheoretiker von ihren Couches: es sind die Juden; es handelt sich um eine Strafe Gottes. Es paart sich mit dem Klimawandel und den Heuschreckenplagen in Ostafrika. Doch: alles hat Erklärungen. Und an allen Krisen ist der Mensch maßgeblich beteiligt. Wir tragen dafür Verantwortung, haben uns also schuldig gemacht.

Auf Leben und Tod

Die Corona-Beschallung der letzten Wochen hat so etwas wie einen emotionalen Overload hinterlassen, den man wohl mit zunehmender Gleichgültigkeit quittieren wird. Die Erfurter Forscherin Betsch nennt das disaster fatigue.

Es war das Arsenal emotionalisierter Beschreibung und damit auch Wertung, das auf uns einströmte und uns erfasste. Man konnte sich nicht erwehren. Denn jede Ecke des Lebens wurde mit Corona gespiegelt, ob es der Zoo oder die Ernährung war. Und die Worte wurden von den Journalisten, den Monopolisten unter den Erklärern und Berichterstattern so wiedergegeben, dass der Zuhörer glauben musste, das Ende stehe unmittelbar bevor.

Die Lage ist dramatisch;
Die Systeme kollabieren;
Die Helden kämpfen bis zur Erschöpfung;
Die Kliniken sind dem Zusammenbruch nahe;
Die Stimmung kippt;
Das Personal ist an der Belastungsgrenze …

Gleichzeitig wurden heldische Topoi in die Berichterstattung geworfen: Sie arbeiten mit Hochdruck; und unermüdlich; Tag und Nacht; ohne ihre Familien zu sehen; ohne Rücksicht auf sich selbst; und das auch noch zu geringen Gehältern. Es ist wohl die Begleiterscheinung jeder Krise, dass neue Helden geboren werden – auch wenn sie ausschließlich ihren normalen Dienst tun, für den sie vergütet werden.

Bei alledem herrscht Schockstarre statt des Impulses zum Widerstehen. Aber das mag auch normal sein, wenn ein Virus der Feind ist.

Martenstein macht sich in seiner Kolumne lustig über die ständigen Kreuzungen von Corona und Thema x; jede Nische des Lebens wird mit Corona in Verbindung gebracht und zu einer neue story ausgebaut. Alle Kombinationen werden gebildet. Der Leser ermüdet. Doch die Journaille denkt, dass sie das tun muss.

Man muss sich allerdings fragen, was das mit der Stimmung der Menschen macht. Werden sie nicht hin und her geschüttelt, zwischen Ermutigung und Depression?
Schließlich wird die Stimmung durch seltsame Umfragen ermittelt: Macht die Regierung genug? Haben Sie Angst, sich anzustecken?

Hat diese ständige Empörung damit zu tun, dass die Medien ihre Leser nicht mehr anders erreichen? Ist es das augenfälligste Merkmal, was unsere Zeitalter der Empörung ausmacht? Die jüngeren Leute antworten nur noch ‚da nicht für‘, ‚ist schon ok‘ usw. Als ob auf einmal nur noch Hanseaten in uns wohnten! Vielleicht kann dann eine Presse auch gar nicht mehr anders!

Die schrillen Töne werden wieder gesellschaftsfähig. Das Denkbare wird wieder ausgesprochen; man muss sich sprichwörtlich für gar nichts mehr schämen.

Ein ständiger Ausnahmemodus wird dadurch zur neuen Normalität. Es ist wie mit den blinkenden und summenden elektronischen Medien um uns: sie verursachen ständige neue Aktionen, die man wie ein Süchtiger ausführt. Wer kann schon sein Handy einfach nur unbeobachtet liegen lassen, wenn es gerade die Ankunft einer neuen Nachricht verkündet hat? Der Cortisol-Spiegel ist sicherlich gesellschaftsweit so hoch wie bei dem Ausbruch eines Krieges in früheren Zeiten.

Moralischer Absolutismus versus Nihilismus

Politiker werden in ihrem Handeln nur mehr an der moralischen Güte bewertet. Diese moralischen Standards setzen sich aus Nachhaltigkeit, sozialer Solidarität, individueller Freiheit und Stil zusammen. Die jeweiligen Benchmarks sind dabei nicht fix, sondern lassen weiten Spielraum zur Diskussion. Und das sind die Fenster, die in Talk Shows zum zentralen Gegenstand der Diskussion werden.

Trotz eines Konsenses über die wissenschaftliche Überprüfbarkeit mischen sich Sorgen und negative Szenarien unter die Argumentation und werden zu quasi-Fakten. Befürchtungen rangieren hoch. Es wird immer weniger um Hier und Jetzt, sondern um die Zukunft in ihrer negativen Variante diskutiert.

Aber es wird auch breit und mit Lust über das Fehlverhalten von Menschen debattiert; wobei es eigentlich niemals um das richtige Verhalten geht. Es geht darum, was ‚eigentlich‘ nicht in Ordnung ist. Der jeweilige Standard bleibt immerzu im Verborgenen. Der etablierte öffentliche Dialog bewegt sich auf einem sehr kleinen Spielfeld.

Immer mehr werden das Auftreten und die Außendarstellung von Spitzenpolitikern zum Maßstab dessen, wie man ihre politische Leistung beurteilt – also ob man einen guten Arzt an seinem Lächeln erkennen würde oder aber einen Wissenschaftler an seinem Brillenstärke.

Dazu gesellen sich Reflexe, die staatlicher Politik an sich misstrauen; die Bewegung von Menschen muss es sein. Es ist wie zuvor ‚der kleine Mann auf der Straße‘. Er ist die Verortung dafür, am Ort der Wahrheit zu sein bzw. ihn zu besetzen. Nur das Natürliche und Ursprüngliche, das irgendwie Menschliche ist im Recht. Mich erinnert das an den schönen Wilden, der in der vor-aufklärerischen Romantik das Ideal wahren Menschseins ausmachte.

Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt ist umstritten, da man ihm eine Nähe zur Rechten unterstellen. Grund dafür ist seine Kritik an der political correctness und ihre tabuisierten Themen; sie wirke wie ein Denkverbot. Und da sich dahinter die Werte der liberalen globalen Eliten verbergen, welche sich zum Mainstream erklären, ist jeder Kritiker irgendwo am Rand zu verorten.

Und dabei zeigt sich das ideologische Moment ganz deutlich: wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns – und gehört demnach auch nicht dazu. Ist man also nicht Teil des erklärten Ganzen, ist man Nichts. Man muss tatsächlich ausgegrenzt und bekämpft werden. Der Absolutismus zeigt sich darin, dass selbst gegen die eigenen Werte verstoßen werden kann: die Freiheit des Andersdenkenden ist relativiert.

Das geschieht schleichend; und ehe man sich versieht, hat man das Muster mit der Selbsterklärung, zu den progressiven und guten Menschen zu gehören, zu seinem eigenen gemacht.

Räumen Sie mit ihren Glaubenssätzen auf

Der Begriff ‚Glaubenssätze‘ ist im Coaching und der Psychotherapie gängiges Vokabular. Seltsam ist, dass er sonst keine Rolle spielt.

Bei der Arbeit haben wir eine Matrix, wie weit Wirkung einsetzen kann und wo unsere Grenzen sind. In Freundschaften wissen wir, was wir suchen – und wie weit wir gehen. Im gesellschaftlichen Leben bringen wir unsere Überzeugungen ein.

Sicherlich ist gut zu wissen, was man will; sich selbst und seine Bedürfnisse einschätzen zu können; oder auch nur äußern zu können.

Aber gewiss essentiell ist auch, inne zu halten, und die eigenen Glaubenssätze auf ihre Legitimation hin zu überprüfen. Was meine ich damit? Nehmen wir an, dass ich mit einem Satz / Glauben / Einstellung durch das Leben gehe, der da heißt: „die anderen sollen erst einmal ihre Hausaufgaben machen.“ Gemeint ist damit ein Konvolut von Glaubenssätzen, die sich zu einer Haltung verdichten: ich bin gut dabei; mir habe ich nichts vorzuwerfen, irgendetwas vernachlässigt zu haben; ich bin immer fleißig und den anderen voraus; die anderen aber sind nachlässig und nicht auf Höhe; die Mitmenschen können einfach nicht Schritt halten; immer muss man sie antreiben. Und natürlich könnte man daraus ein umfassendes Selbstbild ableiten.

Doch: betrachtet man die Aussagen aus einer anderen Perspektive, sind sie zunächst befremdlich: erstens sind sie absolut – als ob Wahrheiten immer und allem standhalten würden. Das aber kennen wir eigentlich nur von Gesetzen in den exakten Wissenschaften. Dann ist dies nur eine Quelle, die eine Arbeitshypothese hat, aber auch ohne Evidenz und Überprüfung auskommt. Drittens dürfte die Haltung schon dann relativiert werden müssen, wenn auch nur ein anderer Mensch anders denken würde. Dann nämlich müsste einer von beiden unrichtig sein. Und schließlich erzwingt das Bild der Normalverteilungskurve, dass eben die Menschen grundsätzlich verschieden sind.

Doch auch der Mensch mit solchen Glaubenssätzen selbst gerät in Schwierigkeiten. Denn viele Menschen kommen ob der Gestiken und impliziten Aussagen auf die Spur eines solchen Glaubenssatzes. Und sie werden zu verstehen geben, dass dies nicht stimmt. Schon gar nicht mögen Menschen, auf Dauer ungeschätzt zu werden. Sie wenden sich dann eher ab. Und so ist der Glaubenssatz per se nicht vereinbar mit gesunden sozialen Beziehungen.

Was tun? Gehe auf die Suche nach Deinen Glaubenssätzen!