Das Du – ohne Freundschaft

Es wird in so vielen neuen Situationen geduzt. Die Grenzen zwischen Sie und Du verlieren sich.

Hat man eine Auseinandersetzung beispielsweise im Autoverkehr, dann duzt man den vermeintlichen Übeltäter: „Konntest Du nicht aufpassen?“ Dieses Duzen ist klar abwertend: man versichert sich des Du’s, das man den anderen schelten, gar beschimpfen kann.

Dann gibt es diese ‚Berufsjugendlichen’, die immer und unentwegt aus programmatischer Passion duzen. Sie treibt die politische Botschaft, dass wir alle gleich sind. Das sind die alt 68er, die an ihrer Mission festhalten.

Schließlich gibt es Milieus und Wertegemeinschaften, in denen das Du zur Norm gemacht wurde. Ein Beispiel dafür sind die Sozialdemokraten, bei denen alle Genossen auch geduzt werden. Aber auch die Beichte wird im Du geführt. Ohnehin sind Mitgläubige Glaubensbrüder.

Und neuerdings kommt das kollektive Du für ‚man’ in den deutschen Sprachgebrauch. Der Fußball-Besprecher Oliver Kahn hat das popularisiert: „da musst Du ganz locker bleiben.“

Auch populäre Kulturen prägen das Du: schon alleine die englische Sprache macht es schwierig, einen Unterschied zu äußern. Aber auch die Skandinavier eröffnen fast jeden Dialog mit einem anderen Europäer damit, dass man bei ihnen zu Hause ja alle duzen würde.

Ich arbeite in einem Unternehmen, in dem es für gewisse Menschen üblich geworden ist, Vor – und Nachname in einem Rutsch zu nennen. Ganz ehrlich, ich bin noch nicht dahinter gekommen, wieso das schick ist. Vermutlich soll das eine message sein, dass man überlegen ist und sich das herausnehmen darf.

Es gibt jedoch auch dieses Du aus Verlegenheit: das widerfährt uns heutzutage in der Internet-Kommunikation, wenn wir nichts über den anderen wissen, mit dem wir korrespondieren. Das versucht man im Text zu lesen, ob es sich eher um einen jungen oder gesetzten Menschen handelt.

Ich finde schade, dass das Du geradezu erobert wird, ohne dass es sich wehren kann. Und für noch bedauerlicher halte ich das Aussterben des Sie.

Von Chillen und Chilly

‚Abhängen‘ ist ein erstaunliches Phänomen: denn das gilt unter Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen als Wert an sich. Vermutlich würden das die Aktivisten mit cool und lässig beschrieben.

Es ist Teil einer Generationskultur geworden.

In meiner Jugend der 1970er und 1980er Jahre war das verpönt, undenkbar und seltsam. Abhängen sahen wir in US-amerikanischen Filmen. Die Szenerie war meist ähnlich: man wusste in einer tristen und abwechslungsarmen Umgebung nichts mit sich anzufangen. In der Logik Hollywoods führte das zu allerlei Versuchen, sich selbst auszuprobieren: Mutproben, Kriminalität und anderes. Es hieß, aus der tristen Welt der Gegenwart auszubrechen.

In meiner Jugend war Abhängen so etwas von uncool, da dies Langeweile und Mangel an Phantasie symbolisierte. Lese oder höre ich das Wort Abhängen, denke ich tatsächlich an die Wurst, die geräuchert wird. Das ist so wenig attraktiv wie irgendetwas.

Heißt denn Abhängen aber vielleicht auch, sich eine Kultur der Pause anzueignen, bevor der Stress des Lebens beginnt? Oder könnte Abhängen auch bedeuten, sich gegen das emsige Treiben der Eltern aufzulehnen? Oder ist Abhängen ein Symbol gegen Leistung und Wettbewerb – also die kapitalistische Lebensweise? Oder ist Abhängen die Chance auf gemeinsames Reflektieren und den Austausch unter Jugendlichen?

Abhängen müsste ein gesellschaftliches Phänomen sein, da doch der Naturmensch in Bewegung war, ja sein müsste: ohne Bewegung keine Nahrung, kein Überleben. Nach diesem Maßstab war Abhängen ganz und gar widernatürlich.

Das zeigt sich auch unter Jugendliche in der Schule: sperrt man sie nicht in den organisierten Bildungserwerb ohne Bewegung ein, geht es ihnen besser. Man blicke auf Kinder: der Zwang zum still Sitzen schafft innere Unruhe, Auflehnung und Unzufriedenheit.

Ein Hoch auf die Bewegung! Nur so bewegt sich etwas!

 

Der Weingenuss des Älteren

Plötzlich laibt man, man nimmt ‚Hüftgold‘ zu. Man blickt hinab auf den eigenen Torso, wo er in die Beine übergeht und entdeckt eine fettleibige Wölbung, die so gar nicht dem in der Gesellschaft anerkannten Schönheitsideal entspricht.

Liest man mit Bewusstsein die vielen öffentlichen Aufrufe zum bleibenden Erhalt der Gesundheit, so müsste man spontan Verzicht üben: also auf Salat und Wasser, aber bitte nicht auf Brot und Butter umsteigen.

Doch dieses vernünftige Argument mag in einer Lebensphase kaum Anklang zu finden, in der man sich weniger bewegen als vielmehr ausruhen will. Man will den vorgezogenen Ruhestand des Lebens genießen. Das treffendste Bild dafür ist wohl das mediterrane Ambiente mit südlichem Abendlicht, dem Wissen um die angenehme Temperatur und der Blick in eine bewegte und harmonische Landschaft.

Dieses Bild ist zum Klischee geworden, weil es in vielen Filmen bedient wird. Ein gewisser Überdruss stellt sich ein, weil sich das Bild geradezu immer und immer wieder aufdrängt.

Doch das Bild ist wesentlich mehr: es zeichnet ein Gleichgewicht, eine Zufriedenheit mit dem Augenblick und der Lebenssituation, eine Entscheidung für Lebensstil, die Würdigung der Natur, das Ausleben von Genuss und eine Entscheidung für ein verträgliches Leben.

Wenn ich spekulieren sollte, welches Bild dem Abstraktum an Persönlichkeitsreife nahekommt, fällt mir das immer wieder ein. Es ist treffend.

Zurück zum kleinen Bauch: der steht für Gemütlichkeit und Ruhe. Durch Buddha steht er gar für Reife und distanzierte Betrachtung von schwierigen Situationen und bewegendem Leben. Ich würde sagen: Mut zum kleinen Bauch!

Frauen und Wettbewerb

Mir fällt immer häufiger auf, dass Frauen ein Problem mit fairem Wettbewerb haben. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht – oder gar eine falsche Beobachtung ist.

Ich erinnere mich noch an die Geschichte, als ich eine Bekannte bei einem Lauf überholte und ihr danach einen Gruß zuwarf. Sie beschwerte sich dann später darüber, dass dies ‚unmöglich‘ gewesen sei. Eine zweite Erinnerung ist die an die emotionale Empörung, in einem Team ausgewechselt zu werden. Es ging darum, eine Person zu ersetzen, die die Arbeitslast nicht mehr erbringen konnte. Die Entgegnung war, dass das verletzend sei und einem mechanistischen Weltbild entstamme.

Auch gibt es diese öffentliche Belustigung, mit der Frau sich über die Männer erhebt: „diese komischen Alpha-Spielchen sind so doof!“ „Das Ritual müssen sie immer erst einmal machen und ihr Ding vergleichen.“

Frauen lehnen Wettbewerb ab, nicht aber Konflikt. Immerhin können sie von sich selbst sagen, sie seien eine Hexe. Zudem scheinen sie auch dem radikalen Selbstvergleich zu unterliegen, da es ihnen leicht fällt, andere Frauen verbal abzuwerten.

Ich habe mich gefragt, ob Frauen einen fairen Wettbewerb kennen bzw. leben können. Männer scheinen mir in der Masse auch nicht dazu fähig; doch gibt es immerhin eine Gruppe, die das absolut und konsequent umsetzt. Der höflichste Wettbewerber ist wohl der Student an einer englischen Hochschule, der sich misst, um zu schauen, wo er steht. Diese tolle Einrichtung der debating society ist Abbild dafür.

Will der Mann nun mit der Frau in einen Wettbewerb treten, wird er eigentlich ohne gemeinsame Regeln geführt. Daher tritt dann auch sehr rasch ein gegenseitiges Missverständnis auf. Also tauscht man sich besser vorab über den Wettbewerb an sich aus. Sieht die Frau keinen Mehrwert darin, kann aus dem Wettbewerb niemals ein solcher werden. Also Hände weg davon!

Von Stevens zu Nagelsmann

Man kann es natürlich auch übertreiben und aus dem Fußball Lehren für das Leben ziehen. Jedoch ist der Fußball ein Panoptikum, in dem sich viele Verhaltensweisen des Alltags spiegeln. Es kann sich lohnen, diese Analogie zu ziehen.

Bei dem Fußball-Erstligisten Hoffenheim ist es vor Monaten zu einem schnöden Wechsel gekommen, von einem 62-jährigen zu einem 28-jährigen. Es war für die Presse spektakulär, weil sich über ein Extremum berichten ließ, eine echte Schlagzeile eben. Da geht ein etablierter Trainer von der Bühne. Und es kommt ein Nobody und Jüngling, der kaum älter als seine Spieler ist.

Spannender jedoch ist, sich diesen Wechsel in seiner mittelbaren Wirkung anzuschauen: die Mannschaft dümpelte auf den unteren Abstiegsrängen, war eigentlich zum Misserfolg verdammt. Das Mittel der Wahl schien für den Club in der Wahl einer erfahrenen Trainerperson zu liegen, die schon mehrmals einen Auftrag zur Verhinderung des Abstiegs erfolgreich erfüllt hatte. Doch das gelingt nicht. Auch nicht mit dem Trainer Stevens, der als schillernd gelten kann. Denn er verkörpert den alten Typus eines Fußballlehrers: streng, fordernd, distanziert, autoritär, strafend usw.

Soweit, so richtig! Denn auf Personen zu vertrauen, die Ähnliches schon einmal erfolgreich geschafft haben, ist logisch. Nun muss man aber die Führungscharaktere (soweit man sie aus der Ferne analysieren kann) auf ihre Eignung für das Heute prüfen, nicht auf die Herausforderungen der Vergangenheit.

Und nun kommt ein junger Unbekannter, der regional viele Vorschusslorbeeren erhalten hat. Er war gar schon als Trainer der ersten Mannschaft für die Folgesaison auserkoren. Die Beobachter müssen rätseln, was ihn wohl dazu macht. Sie sind argwöhnisch, da sie sich nicht erklären können, welche Methoden und Ansätze der junge Mann verfolgt.

Was man dieser Tage nur durch die Reaktionen der Spieler weiß, ist deren neue Zuversicht. Sie äußern sich in Interviews mutig und mit Hoffnung. Zuvor war in ihren Augen zu lesen, dass sie nur darauf schielten, bloß nicht abzurutschen. Statt der Maxime einer Fehlervermeidung kam die der Siegeshoffnung.

Dieser Wandel muss nicht mit Magie erklärt werden. Eher ist es ein Beispiel dafür, das der Welt zeigt, wie rasch ein System, das von einem Dreh- und Angelpunkt aus definiert wird, durch ein neues ersetzt werden kann. Und dennoch und wohl gerade deshalb kann das klappen. Es zeigt auch, wie wenig das ‚alte System‘ verwurzelt war. Die Systembestandteile, nämlich die Spieler, waren eben keine Bestandteile, da sie damit nicht konnten. Auf das neue System ließen sie sich schnell ein, das ihnen, Ihren Werten und ihrer Situation, mehr entsprach.

Man kann hieraus so viele Lehren ziehen, wie ‚überstülpe niemals ein System betroffenen, die nichts damit anfangen können.‘ Mache nicht den System-Bestimmer, den Trainer zum Ausgangspunkt. Ordne nicht Menschen einfach einer Idee unter! Mache nicht Menschen zu Rädchen eines Mechanismus, sondern schaue Dir ihre Zacken an!

 

Er liest nicht

Der Biograph von Donald Trump moniert, dass im Haus Trump kein Buch steht. Als er ihn bei einem Hausbesuch fragte, warum dies so sei, antwortet der Mann: das ist nicht erforderlich. Er habe schließlich eigene Bücher geschrieben und so für neue Wahrheiten gesorgt.

Der Europäer fühlt dann instinktiv: das geht doch nicht! Bücher sind doch der Quell‘ von Reflektion und Bildung! Wer dies nicht zumindest heuchelt, der kann sich doch auch nicht aufspielen, sich zur Leitfigur einer Menge von Menschen zu machen.

Schließlich geht es im europäischen Glauben um die Schlauen und die Klugen, die einzig prädestiniert sein können, ob ihres höheren Könnens und ihrer tieferen Einsichten das Schicksal der Mitmenschen mitbestimmen und lenken zu dürfen. Kurzum, es geht um Expertentum, das sich mit menschenfreundlichem Engagement fruchtbar vereinten muss, um legitim zu sein.

So schwer haben es denn auch andere, die sich öffentlich – im Namen des Gemeinwesens oder einer größeren Gruppe – äußern: der Betriebsrat, der Betroffene, der Berufene usw. Das gilt für viele, die sagen, sie machten Politik – auch wenn sie keine Parteipolitik machen. Auch das sind Menschen, die durch Nachdenken und Beobachten zu Einsichten gelangen.

Der Mensch und Außenseiter Trump hat das auch verinnerlicht, gepaart mit einem Instinkt für das Provozieren von Beifall und einer eigentümlichen Anziehung von Neugierde: Einsiedler oder Außenseiter können eben das auch schaffen. Alle A-Normalen erzeugen wohl auch mehr Neugierde als die Normalen.

Auch wenn dieser Kerl ein ’seltsamer Vogel‘ ist, so sehr begegnen wir doch auch den Trumps in unserem Umfeld. Es gibt die Unbelesenen, die im Leben viel erreichen. Es gibt diese Lebensklugen, die tolle Einsichten über das soziale Miteinander äußern, ohne dies aus der Literatur gewonnen zu haben.

Auch uns selbst wohnt ein Trump inne: denn sind alle unsere Überzeugungen und Glaubensgüter etwa nur durch das eine Modell entstanden: Lesen – Reflektion – individuelle Schlussfolgerungen? Wohl kaum.

Zum Schluss: Trump darf man nicht wegen seiner Ferne zu Büchern verurteilen oder gerade deswegen nicht ernst nehmen. Vielleicht wäre er ‚mit’ Lektüre und Büchern anders geworden. Doch hat er seine Erfahrungen als Milliardär eben auf einem Terrain gemacht, auf dem Literatur und Werke wohl weniger wirkungsvoll sind als Schläue, Machtwille und Anpassungsfähigkeit.

Und was für Trump gilt, gilt auch für so viele andere!

Wunderliche Menschen

Ich mag wunderliche Menschen: sie sind schräg, sorgen für Überraschungen und provozieren meine Neugierde. Ich möchte dann immer ein wenig verstehen, auch wenn ein logischer Begründungszusammenhang gar nicht vorliegen muss.

Meist werden Menschen wunderlich, wenn sie allein und Außenseiter sind. Sie erfahren keine soziale Kontrolle oder Spiegelung. Daher können Sie ihren Talenten, eigene Vorlieben zu formulieren und treiben zu lassen, nachgeben.

Es mag sein, dass dies von den Wunderlichen eigentlich gar nicht gemocht wird, da sie ihr Schicksal nicht mögen. Vermutlich könnten sie sich gar anderes vorstellen. Doch positiv überwiegt, dass sie in ihrer Wunderlichkeit von der Außenwelt weniger abhängig sind. Sie sind ‚in sich‘ erfüllt. Ihre Welt beherrschen sie wie einen Schatz, den sie selbst gestalten können.

Es ist wie bei Kindern, die ihre Welten in ihrer Phantasie entwickeln, bevor sie sich aufmachen, sich auf die Außenwelt einzulassen. Kinder können komplette Phantasiewelten schaffen, die uns Erwachsene nur erstaunen. Sie können uns faszinieren, da sie schlicht nicht normal sind. Vermutlich sind sie für uns Erwachsene aber auch nicht mehr zugänglich, da wir zu wenig in uns selbst sind.

Die Worte wunderlich oder wundersam deuten auf Wunder. Das bedeutet im Fall wunderlicher Menschen nur, dass ihr Verhalten und Taten wie Wunder erscheinen. Das ist komisch: denn Wunder sind doch positiv besetzt, Wunderlichkeit aber nicht.

Wunderliche Gesellen tauchen in der Literatur auf, da sie das Normale meiden und das Außergewöhnliche hofieren. Über das Normale zu lesen, wäre langweilig. Dafür muss man doch kein Buch in die Hand nehmen!

Doch wunderliche Menschen kauern überall. Sie sind jedoch selten in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu finden. Sie sind alleine unterwegs, sie sind für sich.

Ich kann mich an Herrn Sauermann erinnern, der eine kleine Stube eine Etage höher über unserer elterlichen Wohnung bewohnte. Er huschte nur so durch unser Treppenhaus, touchierte wie ein Windhauch unser Leben. Als er starb, war er genauso wenig weg, wie er vorher da war. Er hatte vielleicht nur 5 Meter Luftlinie von unserem jugendlichen Treiben geschlafen. Doch die räumliche Nähe war wie eine endlose soziale Distanz im Weltraum. Niemand wusste etwas von ihm noch interessierte sich für ihn. Als er starb, war es das.

So wenig wir von ihm wussten, so sehr konnten wir ihn vermeintlich einschätzen: ein einsamer alter Mann, ein Trinker, ein einfacher Arbeiter. Ich erbte schließlich eine Kiste aus seinem Hab und Gut, eine Munitionskiste aus dem zweiten Weltkrieg. Noch heute frage ich mich, was dieser Mann wohl an Gedankenwelt hatte.

Jedenfalls empfand ich ihn wie einen Resonanzkörper für das Malen von Geschichten. Zwar träumte ich nicht davon, dass er vielleicht auch ein arabischer Prinz war. Doch sind mir Menschen sympathisch, die ihren Weg lautlos schreiten und sich nicht nur aufdrängen, weil soziale Kontakte nun einmal dazu gehören. Irgendwie sind sie es, die unabhängig, ja ‚cool‘ sind. Sie haben auch den Vorteil, aus der Distanz die Mitmenschen betrachten zu können. Sie haben ihre Welt!

 

Besserwisserei

Das Konzept des Besserwissers ist durchweg negativ: wer würde sich schon freiwillig so kennzeichnen? „Gestatten, ich bin ein Besserwisser.“

Nehmen wir ein Beispiel, das die Komplexität des Sachverhalts vorbildlich zu illustrieren weiß. Es gibt zwischenzeitlich den sprichwörtlichen Besserwessi. Er hat gar seinen Platz in den deutschen Wörterbüchern gefunden. Die Genese des Wortes ist vermutlich nicht nachzuzeichnen, doch leicht nachzuvollziehen: da wurde ein marodes Land und System einem anderen größeren angeschlossen, mitsamt der Menschen. Sie mussten ihre Vergangenheit leugnen, verschweigen und ignorieren. All ihre Mühen des Lebens und ihr persönlicher Einsatz standen plötzlich unter Generalverdacht. Ihre Vergangenheit war nichts mehr Wert, somit ihre Identität kolossal in Frage gestellt. Sie mussten sich den neuen Werten des Westens beugen, ganz wie eine Masse Mensch zwangsmissioniert wird. Und das noch aus der Höhe eines staatlich verordneten Selbstbewusstseins, eine größere historische Reife zu haben und moralisch überlegen zu sein.

Und was erfahren wir Wessis, wenn wir gen Osten reisen? Dort werden wir auf Regeln hingewiesen, die es einzuhalten gilt. Es ist ein bisschen wie ein Ausflug in das Kindesalter, während dessen wir täglich 100e von Anweisungen zu befolgen hatten.

Interessant ist, dass immer gegenüber den Besserwissern abgewunken wird: lass sie doch sich einfach nur selbst bedienen! Oh, nerven die, die ständig zu allem und jenem etwas ‚Schlaues‘ beitragen müssen. Soweit, so aus der Seele der Mehrheit gesprochen.

Wie ticken denn aber eigentlich die Besserwisser selbst? Mögen die sich etwa selbst? Lehnen die eigentlich andere Besserwisser ab? Merken die überhaupt, dass sie selbst Besserwisser sind? Können die sich spiegeln? Einmal Besserwisser, immer Besserwisser?

Meine Vermutung ist, dass ein Besserwisser beseelt davon ist, etwas beizutragen. In ihm brodelt ein Bedürfnis, seiner Umwelt etwas mitzuteilen. Er/sie hält sich für jemand, der für seine Umwelt einen Beitrag gibt. Dazu kommt aber häufig auch noch eine zweite Note: der Glaube und die Mission, die Mitmenschen auf ‚Richtiges‘ hinweisen zu müssen.

Tatsächlich gibt es Menschen mit einer Mission, ob sie selbst entwickelt oder von anderen übernommen ist. Missionen erleben ein 3-faches Schicksal: sie schmettern ab und werden ignoriert, können sich weder friedvoll noch gewaltsam durchsetzen. Zweitens, Missionen gehören zur Person und werden durch große Teile des Lebens mitgeschleppt. Und schließlich gibt es Missionen, die sich durchsetzen, weil die Welt den Rahmen und die Situation dafür einräumt: das Christentum, der Personal Computer oder der Umweltschutz.

Eine Mission ist definiert aus Idee und Missionar. Selten jedoch ist dies identisch, auch wenn es historische Figuren und Menschen gibt, die wir als solche bezeichnen können: Mahatma Gandhi, Leif Ericsson, Heinz Nixdorf o.a.

Ist ein Besserwisser jedoch nur der, dessen Aussage nur dadurch wahr wird, weil er sie selbst ausspricht, verliert er den Anspruch auf eine Mission. Er ist dann selbst-gerecht. Und das ist a-sozial. So ist es verständlich, dass der Besserwisser ein nicht geduldeter Außenseiter bleibt.

 

 

Wissenschaft und Meinung – vom seltsamen Verhältnis zur Wahrheit

Würde man auf der Straße fragen, was der Befragte von Wissenschaftlern hielte, so würde vermutlich eine Mehrheit den Kopf schütteln. Ihre Assoziierungen wären Besserwisserei, lebensfernes Forschen, unverständliches und hochgestochenes Reden, emotionale Distanziertheit, und und und.

Auch würden Sätze fallen wie: „die sollen einmal anständig arbeiten; ob man wohl diese Forschungen überhaupt braucht; die widersprechen sich doch sowieso alle; man weiß gar nicht, wovon sie sprechen.“

Niemand mag die sog. Einser-Kandidaten oder Klassenbesten. Sie entziehen sich dem Bedürfnis nach Augenhöhe und Gegenseitigkeit. Sie sind ständig ‚besser‘, da sie gute Noten bekommen. Niemals kommt man an ihre Leistungen heran. Das nervt und kann man nicht mögen.

Und genau diese Haltung setzt sich auch fort, wenn die Ergebnisse von Forschung bewertet und meist verurteilt werden. Da gibt es traditionelle Alltagswahrheiten, die den Innovationen entgegenstehen; oder der Abgleich mit dem selbst Erlebtem („das habe ich noch nie gehört“ oder „das kann doch gar nicht sein“). Gerne nimmt man überhaupt das wahr, was in die eigene Erfahrungswert passt: „Rauchen kann nicht schädlich sein, da mein Großvater bis ins hohe Alter 2 Schachteln täglich gequalmt hat.“

Forschungsergebnissen sind nur dann spektakulär, wenn ein gesellschaftlicher Bedarf gedeckt wird, z.B. ein neues Textil erfunden oder neues Medikament entwickelt wurde.

Abgesehen von den oberflächlichen Erscheinungen des Zusammentreffens bleibt im Kern: „Man bezweifelt die Wahrheit des Gegenübers – ob es stimmt oder nicht.“ Man beurteilt den Status des Gegenübers, nicht seine Aussage.

Nun müsste man sich vorstellen, selbst Wissenschaftler zu sein: Empörung über den Unglauben des Gegenübers wäre die Folge. Denn wieso sollte der einfach irgendetwas behaupten können, ohne eine Bewertungskompetenz zu einem Sachverhalt zu haben? Tatsächlich sollte auch der Wissenschaftler meiden, seine Wissenschaft mit nicht-Wissenschaftlern zu diskutieren. Vielmehr sollte er zum Comic-Format ‚Wissenschaft für den Alltag’ greifen. Es ist dann eben eine Wahrheit, wenn auch nicht die volle und umfängliche.

Zu viel der Freiheit

Die Glossen, die Zeitungsbeiträge und die Erzählungen älterer Mitmenschen zeugen von den Schwierigkeiten der jüngeren Menschen, denen die Welt und die Zukunft offenstehen. Sie werden in eine Gesellschaft geboren, die die größte Vielfalt an Freiräumen bietet, sich selbst zu entfalten. Der Arbeitsmarkt beispielsweise bietet ungeahnte Möglichkeiten, seine Talente einzusetzen und zu entfalten, um damit den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können.

Und dennoch scheint das Projekt ‚Integration der Generation x‘ zu scheitern, zumindest problematisch zu sein. Denn ihre Mitglieder stehen staunend vor der Wahl eines Weges. Sie sind wie ein Wild im Scheinwerferlicht des Autos, nämlich starr vor Schreck. Sie haben zu viele Handlungsoptionen, um sich ihrer sicher zu sein. Sie sind von den Alternativen überwältigt.

In der Perspektive der letzten 200 Jahre ist das nur schwer zu verstehen: Generation um Generation konnte den Ballast der Zwänge abschütteln, erst dem Ausgeliefert sein der Natur und dann den Zwängen einer traditionellen Gesellschaft. Jegliches Stück Freiraum wurde von entschlossenen Menschen erkämpft.

Und heute? Heute können wir die Früchte dieser oft tödlichen Einsätze genießen: sei es der Betriebsrat, das Frauenwahlrecht, die öffentliche Finanzierung von Bildung, die Homosexualität und vieles mehr. Die moderne hat alle Schranken niedergerissen, die sich der freien Entfaltung der Persönlichkeit in den Weg stellte.

Und plötzlich können wir damit nichts anfangen, sind überfordert. Wir alle? Nein! Denn eigentlich alle könnten im Laufe ihres Lebens ihre Prioritäten und Wünsche formulieren. Viele wissen genau, was sie im Ruhestand machen wollen.

Was unterscheidet dann die Jüngeren von den Älteren? Es sind tatsächlich ihre ‚inneren Vorstellungswelten‘:

In meiner Jugend noch trieben uns Eltern das aus. Es schickte sich nicht, unverbindlich zu bleiben. Hätte man bei einer Einladung zugesagt, dürfte man nicht einfach so wieder absagen. Man lehnte schlicht folgenden Slogan ab: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht etwas Bess’res findet.“

Auch Psychologen würden sagen, dass es nicht gesund sein kann, die Entscheidungsangst zu pflegen. Am Ende würde man entscheidungsunfähig. Sie würde chronisch. Das würde das Selbstbewusstsein und die Identität zentral angreifen.

Freiheit will eben auch gelernt sein. Die beginnt mit der Entdeckung, das Leben erst leben ist, wenn man es für ein persönliches Ziel nutzt. Das Ziel kann nicht nur heißen, erfolgreich zu sein – oder an allem geschnuppert zu haben. Es muss möglich sein, ein klares Ziel zu setzen und zu verfolgen.

Entscheidungen zu fällen, heißt, daneben liegen zu können. Unser Alltag besteht aus hunderten Entscheidungen täglich: und wenn man die falsche Schlange an der Einkaufskasse gewählt hat, ist zu fragen, ob man dadurch nicht wesentlich mehr zu beobachten hat – besser als schneller zu sein und zu Hause dann die gewonnene Zeit wieder nutzen zu müssen.