Die Angst vorm Tadel des Vaters

Die Angst des Torwart vorm Elfmeter ist ein witziger Topos, auch ein interessantes Buch von Handke. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Annahme, dass die Ruhe im Sturm und die Gelassenheit zum Erfolg führen: nur der Torhüter, der still hält, hat die Chance, den Ball des Schützen zu fangen.

Kürzlich erlebte ich selbst ein Ereignis, bei dem durch eine logische Kette schließlich Alarm ausgelöst wurde und eine Räumung des Gebäudes erforderlich wurde, da die Polizei dies veranlasst hatte. Am Begin der Kette steht die Online-Bestellung eines Buches, dessen Zusendung als gefährlich eingeschätzt wurde. Es war ein Kinderbuch.

Nun bewerten Menschen Situationen nach ihrem jeweiligen Blickwinkel. Es gibt dann diejenigen, die dankbar für das außergewöhnliche Ereignis sind. Es gibt die, die das Ausfallen von Arbeit ohnehin gut finden. Es gibt die, die dadurch bei einem wichtigen Termin gestört wurden. Und es gibt diejenigen, die froh sind, dass alles gut ausgegangen und nichts passiert ist.

Fraglich ist dann, ob der Auslöser der Kette eine subjektive und objektive Verantwortung trägt. Immerhin wäre das Ereignis ohne den Auslöser nicht passiert. Die berühmte ‚unglückliche Verkettung von Umständen’ sorgt dann schließlich für das ungewünschte Ereignis. Die jeweiligen Kettenglieder jedoch sind immer wieder Bruchstellen für einen sich selbst beschleunigenden Prozess. Es sind immer wieder offene Situationen.

Die Frage nach Verantwortung, Schuld und schlechtem Gewissen kann man hier diskutieren. Es ist eine dieser Fragen, die man sich erst dann stellt, wenn man nahe an Katastrophen war oder sie neben einem geschehen sind. Ein berührendes Beispiel geschah mir selbst, als mich ein Kollege darauf ansprach, dass der Sohn seiner besten Freunde eine Vergewaltigung begangen hatte. Auch fällt mir das Beispiel von Andreas Lubertz ein, dessen Eltern ihren Sohn verloren hatten und für den gewaltsamen Absturz des Flugzeugs durch ihn mitverantwortlich gemacht wurden.

Auch erinnere ich mich der schrecklichen Einzelverantwortungen, die des Fluglotsen, der aufgrund von Überlastung den Zusammenstoß zweier Flugzeuge nahe des Bodensees nicht verhindert hatte. Er wurde vom Vater eines Opfers ermordet. Dann war da noch der Zug in Spanien, der aufgrund zu großer Geschwindigkeit entgleiste. Dies war durch einen telefonierenden Zugführer verursacht worden. Oder der Zusammenstoß zweier Züge in Bad Aibling 2016, als der Fahrdienstleister mit seinen Computer beschäftigt war.

Literarisch ist das in Ödön von Horváth’s ‚Der jüngste Tag’ aufgearbeitet worden. Es ist ein Drama, das ich früh in meinen Leben las, nicht sah. Mich bewegte dabei die innere Verarbeitung des Schuldigen, der damit rang, Schuld auf sich geladen zu haben. Filmisch hat mich kürzlich der Monumentalfilm ‚vier Federn’ beeindruckt, als Heath Ledger seine Schande, nämlich aus Feigheit nicht in den Krieg gezogen zu sein, überkompensiert, um sich zu entlasten.

Ich erinnere mich dieser Tage nur an diese Ereignisse, da sie das Spektakel kennzeichnen vermögen, das dann ausbricht: es beginnt die sog. öffentliche Suche nach dem Schuldigen. Es scheint einem Gesetz gleich zu sein: ein Katastrophe oder ein schlimmer Unfall können nur dadurch verarbeitet werden, dass eine Schuld zugewiesen werden kann. Nur Sühne schafft das Gleichgewicht wieder her.

Wer erinnert sich nicht der Situation in der Kindheit, als eine Vase zu Bruch ging – und man in banger Erwartung vor der Schelte der Eltern unter das Bett oder in den Schrank kroch. Man wollte dann am liebsten einfach nicht mehr das sein.

Und doch: das Kind wird bestraft, um den Verlust der Vase zu sühnen. Die Frage nach der subjektiven Schuld wird dann ignoriert, gegen eines der grundlegenden Rechtsprinzipien ist, das Kinder aufgrund ihrer mangelnden Reife schuldunfähig sind. Die objektive Schuld liegt dann vermutlich eher bei den Eltern, die die Vase dorthin stellten, wo sie schließlich heruntergestoßen wurde. Die Schuld liegt dann bei den Eltern.

Alltäglicher Rassismus

Rassismus ist mir als Beweggrund persönliches Handelns fremd. So würde ich nicht auf einen Menschen reagieren, um ihn abzuwerten. Vielmehr wäre ich neugierig: denn der hätte ja sicherlich einen anderen Erfahrungshintergrund als ich.

Unglaubliches vollzieht sich aber dieser Tage in Deutschland: das sind diese Kundgebungen gegen die Überfremdung des Islam, die ein Getöse von verbalen Attacken ausstoßen. Sehe ich diese Menschen im TV mit ihren grauen Kleidern und finsteren Gesichtern, kann ich nicht umhin, mir zu wünschen, mich mit solchen Menschen nicht ernsthaft austauschen zu müssen. Meine Haltung ist keine Folge aus irgendwelchen moralischen Leitgedanken. Mich frustriert vielmehr die voraussehbare Langeweile über diese plumpen Laut-sprecher, die wütend und empört sind. Diese Demonstranten sind nur ‚gegen‘, sonst nichts.

Eigentlich muss man sich nicht darüber aufregen. Man könnte höchstens den Kopf über deren Irrationalität schütteln. Denn wären sie auch konsequent ‚gegen‘ im eigenen Alltagsleben, so würden sie ja auch sterben, weil sie gegen eine Behandlung im Krankenhaus sind.

Doch auch im persönlich-privaten Umgang bemerke ich immer häufiger, aus welchen Tiefen solche Abneigung stammt. Kürzlich belustigte sich eine von mir geschätzte Kollegin darüber, dass man die dunkelhäutigen ja auch ‚dunkel pigmentiert‘ nennen könnte. Eine andere erwiderte auf meine eigene Belustigung, dass ausgerechnet in Regionen, wo eine geringe Ausländerquote sei, die größte Abneigung zu beobachten wäre: das könne sie gut verstehen. Schließlich seien das Fremde!

Wie ist eigentlich die Übersetzung von Ressentiments? Müssen wir uns des Französischen bedienen, um selbst nicht damit angeklagt zu werden?

Lege ich auf solche Situationen die Leitlinie der political correctness an, so sagt mir die Mehrheitskultur, dass Rassismus ein Irrationalismus ist. Und: „es gehört sich nicht!“

Also an mir liegt es nicht

Eine Kollegin von mir ist berechenbar wie ein Schweizer Uhrwerk: alles Unvorhergesehene, Riskante und Schwierige umläuft sie mit schlafwandlerischer Sicherheit. Diese Form von Fehlervermeidung ist lebensklug, da so konfliktuäre und fordernde Situationen umgangen werden.

Die andere Seite des Verhaltens aber ist das Selbstbewusstsein, so eine Weisheit gefunden zu haben, die absolut ist. Mit einer mütterlich anweisenden Miene hat sie in meine Richtung folgende Sätze formuliert: „also ich verstehe mich mit allen Menschen.“ „Und wenn ich verabschiedet werde, dann werden die Kollegen großherzig und mit bedauern reagieren.“ Sie impliziert damit, sie sei schlicht gut, ja höherwertig.

Diese ihre Haltung bestimmt unsere Beziehung. Ihr Muster legt sie bei jedem Zusammentreffen an den Tag. Das Modell der Transaktionsanalyse leistet hierfür einen dankbaren Ansatz, um die Beziehungsspannung zu erklären und die Schräglage verstehen zu können.

Ursache und Folgewirkung einer solchen Haltung sind kaum grundlegend fassbar. Aber einige Gedanken dazu. Über die Ursache von persönlichen Haltungen zu spekulieren kann nicht von Erfolg gekrönt sein, soweit man nicht direkt nachfragen kann.

Aber die Folgen der Haltung und ihre Rolle beim konkreten Handeln sind schon offener für eine Spekulation. Denn immerhin teilt sie einem Mitmenschen ihr Selbstverständnis mit. Sie konstruiert apriori ein Wertgefüge von sich und anderen. Und sie fordert den anderen, dies zu akzeptieren, einschließlich ihrer Positionierung der Makellosigkeit.

Dies ist wohl die schlechteste Voraussetzung zu einer ehrlichen, freundlichen und sachlichen Beziehung zwischen Menschen. Denn die Ehrlichkeit würde verlangen, sich zu erklären, dass ihre Haltung inakzeptabel ist. Eine Freundlichkeit ohne Augenhöhe und Sympathie ist bloße Schauspielerei. Und die Diskussion über ein Thema würde von dieser Haltung immer wieder abgelenkt.

Und so kommt es dazu, dem Menschen am liebsten auszuweichen. Alles andere bedeutete Handeln, das anstrengend wäre.

 

Fremdverurteilung

Ein Sport! Ein anthropologisches Muss? Ein weltweites Phänomen.

Ich erlebe täglich diesen Brass, auch Hass gegen andere: am liebsten gegen Politiker, Polizisten, Lehrer, Fremde und andere Gruppen. Das kann Spaß machen, ‚wenn man es nicht so meint‘. Es kann aber auch handlungsleitend sein. Es kann sogar zum Hauptcharakterzug eines Menschen werden.

Es gibt in der Literatur vielfach den älteren Bruddler, der aus Perspektivlosigkeit nur noch auf Feindseligkeit sinnt. Da gibt es Uwe, der just mit einem schwedischen Film gefeiert wurde – mit auf Basis des erfolgreichsten Buches in diesem Land. Da gibt es die Weihnachtsgeschichte um den bösen Mr. Auch gibt es Tati Danielle, die ihre Umwelt tyrannisiert.

Diese Personen nimmt man mit Verwunderung wahr, platziert sie zu den Außenseitern. Man will mit den Missmutigen und Enttäuschten nichts zu tun haben, die nur noch klagen. Denn man ist ihnen gegenüber nur noch in der Funktion des Publikums, das die Klagen aufnehmen muss. Der Applaus ist dem Bruddler jedoch sowieso egal.

Im Alltag begegnet man ihnen – nennen wir sie Klager – überall: im Supermarkt schnauben sie, weil sich jemand vorgedrängelt hat; im Autoverkehr schimpft man über den, der unbotmäßig die Seite gewechselt hat; im Selbstvergleich bezichtigt man den begünstigten, es nicht verdient zu haben; Politiker werden gescholten, Lehrer verdammt und Prominente verurteilt.

In Internet-Foren scheinen die Klager nun die Oberhand zu gewinnen, stets dort, wo man sich mit der eigenen Stimme melden kann. Vielleicht sind die Klager jedoch nur offensichtlicher, weil man das in Schrift vor sich sieht, und nicht nur hören muss.

Ein Realexperiment fällt mir dazu ein: man müsste den Kläger mit sich selbst einsperren. Ob diese erzwungene Spiegelung etwas erbringen würde, ist pure Spekulation. Immerhin kämen wir so dem Gedanken des Strafrechts nach Sühne nach.

Die Empörung ist die Steigerung des Klagens. Sie ist politisch. Sie macht sich an vielen großen und kleinen wahrgenommenen Missständen fest. Sie sucht natürlich nicht nur nach einem Ventil, sondern nach Gleichgesinnten sowie nach Öffentlichkeit.

Es gibt dort Anliegen, die fassbar sind: wenn beispielsweise eine Bürgerinitiative einen Straßenbau verhindern will. Doch es gibt auch Empörungen, die auf expliziten Ungewissheiten und Ängsten beruhen, wie bei TTiP. In einer Zeit ohne direkte materielle Not ist die jeweilige Empörung auch immateriell. Was früher eine Hungerrevolte war, ist heute eine Demonstration vor dem Sitzes eines öffentlichen Amtsträgern. Was früher aus Verzweiflung um das nackte Überleben Ursache war, ist heute der Wunsch zur Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen.

Wissenschaftler und Journalisten erklären denn auch Grundstimmungen als Vorbedingungen politischer Bewegungen. Diffuse bis konkrete Ängste bringen den Menschen in Wallung, wie die Angst vor Flüchtlingen, einer zerstörten Natur oder dem Ausspähen der eigenen Daten.

Bei jeder Empörung sollte man sich einer Analyse Quick-Check unterziehen: ist mit Empörung ein konkretes Ziel verbunden? Kann man das in einem Satz formulieren, den man vor Nachbarn oder Freunden verteidigen kann? Und hätte ich auch als Einzelperson genau diese Empörung entwickelt?

Pferdekutschen

Jüngst wurde auf der Website Change.org eine Petition eingereicht, um Pferde in Berlin vor ihrem Dienst für Touristen zu schützen. Es kamen 70.000 Follower zusammen. Nun geht die Petition an den Senat.

Eine Frau hat sich im Prenzlauer Berg mit einer Petition zum öffentlichen Stillen bemerkbar gemacht. Der Besitzer des Cafés, der ein vermeintliches Verbot bzw. eine Rüge ausgesprochen hatte, will sich nicht mehr öffentlich äußern.

Dieser ‚run’ um die beste Tat ist ein Wettbewerb dieser Tage. Da sich viele Menschen beteiligen, scheint sowohl die Initiative als auch die Unterstützung mit einem Mehrwert für die Beteiligten verbunden zu sein.

Es ist einfach nur schwierig zu verstehen. Man könnte sich nun ob der Thematiken lustig machen, wegen der Hebung der Sujets auf ein politisches Niveau oder der Frage, wieso denn eigentlich nicht ‚echte‘ Missstände angegangen werden.

Zu gerne würde ich dem auf die Spur kommen. Ist das eher Ausdruck einer Kultur von Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Ist das Ausdruck für ein Verlangen nach mehr Demokratie? Ist das vielleicht einfach nur Spaß? Könnte es Langeweile sein? Befriedigt es das Gebot politischen Engagements?

Zurück zu den Pferden: ohne Kenntnis des artgerechten Lebens ist es schwierig zu urteilen, ob denn ein Pferd unter dem Dienst an der Kutsche leidet. Die Pferde sollen maximale Arbeitszeiten, Pausen, Ruheplätze und stressfreies Anreisen erhalten. Es liest sich ein wenig wie ein Auszug aus der modernen Arbeitszeit- und Schutzgesetzgebung.

So viel ich weiß, sind Pferde in der Umgebung von Menschen immer Nutztiere gewesen. Vielleicht ist der Gedanke der Petitioniäre, ein Dasein wider die Natur zu verhindern.

Ist dem so, frage ich mich – und die Petitioniäre, ob sie denn selbst wider ihre Natur leben. Und dann wird der Gedankengang richtig schwer. Denn ich müsste wissen, wie und wann der Mensch mit – und im Gegenzug wider – seine Natur lebt.

Tatsächlich fallen mir die vor Gesundheit strotzenden ein, die sagen, dass der auf dem Land lebende Mensch, soweit er den Härten landwirtschaftlicher Arbeit ohne Unterstützung unterworfen ist, gesünder als der Städter ist. Das meint die grundlegenden Daten zum Gesundheitszustand, wie Blutdruck … Die Erkrankungsfälle sind weniger und milder.

Das hat mit Pferden insoweit zu tun, als sie eben zu diesem Leben mit der – zugegebenermaßen durch den Menschen modellierten – Natur gehören. Auf den Höfen wurde sicherlich auf die Gesundheit des Arbeitsmittels Pferd geachtet. Das dürfte bei dem Pferd-Arbeitsplatz Kutsche ähnlich sein.

Also hat die Petition wohl doch eher mit den Petitionären als der Petition zu tun. Ich wünschte mir bei Petitionen, sie würden so etwas wie ein Motivationsschreiben beinhalten. Den Umgang damit und die Einschätzung würde es bereichern.

 

Illegale Flüchtlinge

In den Medien hört man nun häufiger die Formel der Zurückweisung von ‚illegalen Flüchtlingen‘.

Man beachte die Unterscheidung zwischen Botschaft und Aussage: bedeutsame Botschaft ist, dass die Flüchtlinge ‚illegal‘ sind und somit nichts in diesem unseren Heute und Jetzt zu suchen haben. Bloße Aussage ist, dass die Flüchtlinge nicht auf geregeltem Weg in das Land eingereist sind.

Die Formel der ‚illegalen Flüchtlinge‘ ist seltsam, soweit für die Menschen eben keine geregelten Wege existieren oder angeboten werden. Genau das ist in Europa derzeit der Fall.

Das provoziert die Frage, ob der Flüchtling nicht per se keine Chance auf ein legales Verhalten hat, da seine Flucht nicht durch legale Umstände verursacht wurde und er auch nicht legal reisen kann.

Das Wort ‚illegal‘ in diesem Zusammenhang ist also fragwürdig, mehr als verwirrend und eine bewusste Täuschung. Denn es reduziert erst den Menschen auf die Flucht (sonst würde man vermutlich eher Afghane oder Tischler sagen) und dann auf ein Objekt des eigenen knickrigen Rechtsverständnisses. Und er wird weiter reduziert, ja ‚verurteilt‘ zum Illegalen.

Der Flüchtling selbst, der beispielsweise auf der Flucht durch Südosteuropa unterwegs ist, müsste sich fragen, wie er es denn schaffen kann, legal zu sein. Die Absurdität zeigt sich denn auch in der Praxis: Der Flüchtling versucht zu verstehen, was er tun muss; er versucht, mit Behörden in Kontakt zu kommen; er versucht, seine Flucht zu legitimieren. Das alles hilft aber nicht, wenn man per se illegal ist. Denn die ‚Gastgeber’ und lassen nur ihre eigene Logik zu.

Der alte Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität taucht hier wieder auf, den man mit Ende der Hitler-Herrschaft eigentlich für überwunden zu haben glaubte.

Legitimität ist der europäische Wertekanon, ist Humanismus, ist Schutz von Flüchtlingen. Legalität dagegen ist ein beliebiges Instrument, um eben kein legitimes Verhalten zeigen zu müssen. Es ist ein Feigenblatt! Weg mit den Feigenblättern!

Führungskraft werden

Eine Führungskraft zu werden ist ein klarer Schnitt im Lebenn und im Bewusstsein der Menschen. Denn plötzlich sind sie exponiert, haben Publikum, werden beachtet – und müssen Erwartungen erfüllen. Andererseits verlieren sie damit das Potential zum Rückzug: denn sie können nicht mehr nichts äußern und müssen zu allem Stellung beziehen können. Sie müssen präsent sein, dürfen sich nicht verstecken und Pausen machen. Ein Rückzug aus der Anweisungsfiktion und -pflicht ist schon alleine aufgrund arbeitsrechtlicher Rollendefinition unmöglich.

Objektive Erfolgsfaktoren, um eine Führungskraft zu werden, sind recht breit gestreut: ihr Profil passt in die abstrakte Beschreibung; Sie passen gut zu den anderen Führungskräften; aufgrund Ihrer Seniorität sind Sie dran; Sie sind Hochleister, können auf errungene Erfolge in der Vergangenheit verweisen.

Das Image einer ‚Führungskraft‘ ist noch immer gut, da die Mitmenschen davon ausgehen, dass damit eine überdurchschnittliche Leistungsstärke einhergeht. Eine Kompetenzanmutung findet ebenso statt, da man davon ausgehen muss, dass objektive Mindestkriterien bei der Auswahl eingehalten wurden.

Subjektive Erfolgsfaktoren sind sicherlich der Antrieb ‚aufzusteigen‘. Dieses zentrale Motiv von Karriere und Laufbahn ist der protestantischen Ethik niedergelegt, aber auch in vorkapitalistischen Gesellschaften bekannt.

Interessanter sind jedoch – sagen wir – die subjektiven Sekundärmotive: denn das hat mit der psychologischen Komponente der Betroffenen zu tun. Wieso will man denn eigentlich Geschäfte und Menschen führen? Erwächst im Denken dann plötzlich die Einsicht, dass man geeignet ist? Dass man besser als andere ist? Dass man einen Auftrag hat? Dass man etwas gestalten will?

Oder sind es ganz und gar andere Motive, die mit einer vermeintlichen Erfüllung seiner Rolle im Leben zu tun haben? Die Aufmerksamkeit anderer zu wollen? Die Lust an Macht befriedigen zu können? Ein Vermögen anzuhäufen, mit dem man Luxus anhäuft, Hobbies frönt oder andere an sich zieht?

Der Bankier Herrhausen sagte, Führung müsse man wollen. Das ist richtig: Es gibt nichts Schlimmeres, als Personen in Führungsverantwortung zu zwingen, die das nicht wollen. Denn das Desaster nimmt dann seinen Lauf.

Moderne Unternehmen haben daher ein zweites Standbein zur Beurteilung aufgebaut: die Eignung der Menschenführung – neben der Geschäfte-Führung – zu überprüfen. Nur so entledigt sich der Betrieb oder die Einrichtung der Gefahr, aus einer Rekrutierung einen Nachteil zu provozieren.

 

Sich abwenden

Wie wenden sich Menschen ab? Tatsächlich drehen sie sich um die eigene Achse und zeigen dem Objekt ihrer Abneigung den eigenen Rücken, vielleicht auch die kalte Schulter.

Es gibt Abstufungen in der Intensität des Abwendens: Instinktiv würde man sich aus Ekel abwenden, von einem stinkenden Objekt oder einem verunstalteten toten Menschen beispielsweise.

Dann könnte man sich auch laut schimpfend abwenden, am besten noch mit einer wegwerfenden Bewegung des Armes.

Oder man verdreht die Augen, um sich vor seinem Publikum (ob es da ist oder nicht) zu bekennen, dass dies nicht ok ist.

Schließlich kann man sich auch nur abwenden, ohne eine symbolische Bekundung vorzunehmen – einfach nur abwenden. Das könnte man auch als ‚bewusste Ignoranz‘ bezeichnen.

Abwendung fügt den Menschen mehr Schmerz zu als man vermuten lässt. Denn da ist eine/r, der das eigene Sein und Selbstverständnis ablehnt. Würde er doch wenigstens in einen Kampf gehen: dann wüsste man, dass sich zwei auf Augenhöhe gegenüber stehen. Aber einfach nur abwenden?

Der Anwender ‚hat‘ fertig. Gewissermaßen ist das ein finaler Akt. Hierbei blickt der Abwender nicht zurück, zeigt keinerlei Erbarmen oder Gnade. Hätte nur Orpheus so gehandelt!

 

Sternzeichen Löwe

Wie anstrengend!

Wer glaubt schon an Sternzeichen? Die sind etwas für die anderen, die unbewussten, die Tölpel, die Hausfrauen, die Vereinsamten, die Leichtgläubigen, die Dummen usw.

Man muss sich entscheiden: entweder man erschmunzelt sich den Glauben an Sternzeichen oder man verbleibt bei der vermeintlich empirischen Wahrheit. Doch dann entdeckt man wahrlich Gemeinsamkeiten bei denen, die ein Sternzeichen x oder y haben. Man kann sich dann der Faszination nur noch ergeben.

Es gibt dort solche und solche: das Sternzeichen des Löwen ist auffällig für die Ähnlichkeit mit dem Tier, das für Durchsetzung und Stärke verehrt wird. Unter den Sternzeichen ist es zwar nicht der König, doch sicherlich so markant wie die anderen elf.

Was macht den Löwen aus? Das Lexikon beschriebt den Löwen als stark, selbstbewusst, mutig und zielstrebig, aber auch als arrogant, selbstverliebt und leicht zu kränken.

Hätte ich die Auswahl, würde ich mich nie und nimmer für den Löwen entscheiden. Denn als Löwe kann man sich das Leben eben nur aus der Perspektive des Bosses vorstellen.

Das bedeutet im einzelnen, ständig der Sieger sein zu müssen. Man muss sich messen. Man stelle sich das vor: irgendjemand sagt etwas, aber der Löwe muss das letzte und gewichtigere Wort haben. Im Beruf muss man immer die Nase vorne haben, besser und erfolgreicher sein. Im Privatleben ist das sich der Fall. Den meisten Mitmenschen dürfte das aber nicht gefallen, da sie auf Augenhöhe sein wollen.

Würde der biologische Löwe von seiner Interpretation als Sternzeichen wissen, würde er vermutlich Ai sein wollen.

 

Unsterblich oder unendlich?

Ein zentraler Wunsch des Menschen besteht darin, das Leben zu verlängern. Wieso eigentlich? Es ist das Unbehagen an zu verschwinden. Der Mensch hat sich dafür eine Reihe von Artefakten geschaffen; wie den Himmel, die ewigen Jagdgründe usw. Andere Religionen versuchen es mit der Aussicht auf eine Wiederkehr ins Leben.

Die literarische Phantasie schafft Wesen, die nicht sterben. Meist sind es komische Gesellen, wie Vampire oder Kämpfer.

Und die medizinische Wissenschaft arbeitet daran, die Tod bringenden Erkrankungen zu bekämpfen. Es geht um ein gesundes, aber eben auch längeres Leben. Im Graubereich setzt die klassische Medizin dann lebenserhaltende Maßnahmen ein.

Statt diesen Menschheitswunsch einfach zu übernehmen, sollte man sich jedoch fragen, ob diese Perspektive von längerem oder gar ewigem Leben wirklich erstrebenswert ist. Man stelle sich nur vor, es ginge immer weiter und weiter. Dann würden wir uns jedoch mit den gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln müssen, um mitten im Leben stehen zu können. Denn was hilft es, die Lebenseinstellung eines Menschen aus dem 19. Jahrhundert zu haben, wenn ich mich im 20. bewege?

Historische Phänomene wie Berufe oder Ehen könnten nicht mehr lebenslang funktionieren. Man müsste sie wieder beschließen und neu beginnen können.

Schlimmer noch wäre die Endlichkeit der Welt: hätte ich ‚500 Orte, die man sehen muss‘, besucht, bliebe doch nur noch das Weltall. Auch wenn das bald zur Eroberung ansteht, so würde auch das irgendwann endlich sein.

Und was wäre mit dem stetigen Anwachsen der Menschheit auf der Erde? Die würde doch binnen weniger Generationen platzen. Oder dürfte mit dem ewigen Leben auch niemand mehr geboren werden?

Variablen müsste man auch hinzuziehen: würde man altern? Oder dürfte man in dem Zustand stehen bleiben, der einem am besten gefällt? Könnte man sich überhaupt über Neues freuen? Oder würde das zum Normalzustand? Was ist, wenn nichts Neues mehr im Leben hinzukommt?

Der Mensch müsste sich wesentlich ändern, sollte das ewige Leben interessant sein. Vor allem dürfte es keine Müdigkeit geben. Denn die permanente Neugierde wäre dann das einzige Lebenselixier. Auch wäre Entwicklung ohne ein Ende nur ein Experiment, das sich nicht durchführen ließe. Man sollte mit Woody Allan halten: Jeder würde gerne der Wirklichkeit entfliehen, leider bekommt man nur in der Wirklichkeit ein richtiges Steak.