Augenaufschlag und Husten

Oh, was nerven mich diese Menschen mit Gesten der Selbstbedeutsamkeit! Denn diese Mikrogesten demonstrieren, dass uns unsere Gesprächspartner als minder-wertig betrachten.

Es gibt dieses Zusammenziehen der Augen, welches den Eindruck macht, von oben herab angeschaut zu werden. Oder aber dieser Augenaufschlag, wenn sich der Augapfel nach oben dreht. Dann gibt es das Gähnen, das dem Gegenüber Desinteresse zeigt. Oder aber der Husten, der mitten im Satz kommt und den Redefluss künstlich unterbricht.

Aber ist das die ganze Wahrheit? Denn müssen alle diese Mikrogesten genau so gemeint sein, dass sie sich gegen den Gesprächspartner richten? Könnte es sein, dass sie auch biologische Ursachen haben? Oder ist es möglich, dass es ein nervöser Tick des Menschen ist? Könnte es das normale Repertoire sein, mit dem das Gegenüber sein Gesicht bewegt?

Eigentlich ist alles möglich. Auch gehört zum allgemeinen Lebenswissen, dass die rund 2.500 unterschiedlichen Gesichtsausdrücke gelernt sind. Zudem ahnt man, dass sie universell sind, also die Masse der Menschen teilen.

Die wenigen kulturell geprägten Gestiken sind bekannt, da man sie auf Reisen oder in den Medien ‚lernt‘. Dazu gehört beispielsweise das japanische Nicken, das afrikanische Lachen oder die Einsilbigkeit der nordischen Menschen.

Ich blicke daher auf diese Gesten, die auch mich bekümmern. Man sollte selbst lernen, seiner Gesten Herr zu werden. Denn dann lässt sich prüfen, ob eine Geste auch das entsprechende Gefühl in mir selbst hervorruft. Die Chancen stehen 50 : 50.

Angeben

Ein Kollege von mir teilte mir kürzlich beiläufig mit: „ich muss einmal wieder ein Blutprobe machen. Denn meine Ärztin ist immer so erfreut darüber, wie gut meine Cholesterin-Werte sind.“

Ein interessanter Start für eine Unterhaltung, dachte ich. Und wusste nicht so recht, was antworten oder reagieren. Vermutlich bestand die Erwartung meines Kollegen darin, dass ich anerkennend und beeindruckt Kenntnis davon nehme.

Doch was hat er nur davon? Ist das wie ein Espresso, der kurz dafür sorgen soll, dass meine Stimmung steigt? Oder gibt es eine Message, die besagt, dass Ärzte ihn für gesund halten – obgleich er körperlich eher den Anschein gibt, an irgendetwas zu leiden?

Ich weiß es nicht. Es ist in etwa so, als ob mir ein 3-jähriger zurufen würde: „Papa, Papa! Guck ‚mal, was, ich kann!“ Nun kann ich daraus ableiten, dass auch Erwachsene ihre fundamentalen Bedürfnisse erfüllen müssen – so grotesk es auch scheint, wenn für Personen um die 50 inadäquates Verhalten vorgeführt wird.

Interessanter ist jedoch, dass in die Linie mit dem sonst demonstrierten Verhalten zu setzen. Es ist der Kollege, der kaum eine Gelegenheit auslässt, bei anderen eine Nachlässigkeit, ein Fehlverhalten, eine Störung oder anderes zu mutmaßen.

Vielleicht muss ich in dieser Sache und zu diesem Kollegen wirklich mein Verhalten ändern: und mit einem Kind sprechen.

Alle Macht dem Volk

Das Mantra der Neuzeit, der Aufklärung und unserer modernen Demokratie ist, die politische Gewalt über die Souveränität des Volkes zu legitimieren. Dazu gibt es weder eine Alternative noch soll der eherne Grundsatz aufgeweicht werden. Das hat auch damit zu tun, dass man nicht zu einem Zustand der vormaligen Geschichte zurückkehren will.

Das heißt aber nicht, nicht nach neuen Alternativen und Optionen suchen zu sollen. Denn die heutige irrationale Demokratie schadet uns. Das Verbot des Nachdenkens über eine veränderte oder gar gebeugte Demokratie muss überdacht werden. Ich persönlich fürchte, dass der heutige Mensch nicht über sein Schicksal entscheiden sollte, wenn er nicht auch die Rahmenbedingungen und Konsequenzen abschätzen kann. Denn es gilt auch der Grundsatz, verantwortlich für sein Handeln zeichnen zu können. Das immerhin ist Richtschnur unserer Rechtsprechung.

Um das zu vertiefen: zwar sollte der Bürger auch nicht das essen, von dem er weder Nährwert, Verträglichkeit noch Produktionsbedingungen kennt – selbst wenn sein Körper die Konsequenzen selbst trägt (aber eben auch mit Konsequenzen für seine eigene Familie und für die Solidargemeinschaft seiner Krankenkasse). Doch akzeptiert er schließlich auch die Behandlung des Mediziners, so er wieder gesunden will. Auch hierüber ist er auf das Vertrauen des Experten angewiesen.

Also sollte die Macht, Fragen mitzuentscheiden, erst dann dem Volk übergeben werden, wenn es ausreichend über die Konsequenzen informiert ist. Und wenn es sich die Konsequenzen für sich, die Familie und die Gesellschaft vorgestellt hat.

Aber das steht doch in der Zeitung

Kennen Sie den Dialog? Ihr Gegenüber beruft sich auf Fakten, die Sie nicht ‚glauben‘, da es Ihnen verquer vorkommt. Sie zweifeln klar und deutlich im Gespräch. Doch ihr Gesprächspartner sagt, dass er das schließlich im Fernsehen gesehen habe.

Sie kämpfen also gegen die Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Faktums an. Sie sagen: es könne aus logischen Gründen nicht sein – und finden dafür einen für Sie plausible Begründung.

Das hilft jedoch nicht. Denn der ‚Glaube‘ an den unbedingten Wahrheitsgehalt von Aussagen der öffentlichen Medien ist größer als der Mut und das Selbstvertrauen, sich damit auseinanderzusetzen, ob die Aussagen stimmen. Man verlässt sich auf die Glaubwürdigkeit, die Stimmigkeit und die vermeintliche Legitimität, da man selbst gelernt hat, man müsse sich stets an die Wahrheit halten. Und das gilt doch für öffentliche Medien schon im Besonderen.

Dieses Verhalten gerät immer mehr in Verdacht, ein Mangel an Mut, eine Verweigerung an Reflexion und fehlende Alltagsintelligenz zu sein. Mit der Wahrheit des Web 2.0.-Zeitalters nämlich verhält es sich grundlegend anders, da in diesem interaktiven Netz jeder seine eigene Öffentlichkeit schafft. Und dieser ‚Massen’zugang zur öffentlichen Äußerung ist neu! Und hier ist niemand mehr an ein deutsches Pressegesetz gebunden oder muss irgendwelche Sanktionen fürchten. Ergebnis: man kann lügen, „bis sich die Balken biegen.“

Kindern und Jugendlichen möchte man daher zwischenzeitlich eine sog. Medienkompetenz mitgeben. Sie bezieht sich weniger darauf zu wissen, dass man nicht alles glauben soll, was man im Netz lesen sollte. Es geht vielmehr darum, Kinder davor zu bewahren, selbst ein Täter zu werden, indem sie private Dinge preisgeben oder Unsinn ‚posten‘.

„Aber das steht doch in der BILD-Zeitung“, hat mir meine Großmutter noch zugerufen, wenn wir um irgendeine Geschichte rangen. Woher auch immer, doch ich ‚wusste‘ als Kind schon, dass BILD eine Lügenpresse war – und sie per se nicht nur hinterfragt werden musste, sondern ihr grundsätzlich nicht geglaubt werden konnte.

Gerne würde ich die Welt so einfach haben, wie es einen Volksglauben im Zeitalter meiner Großmutter gab. Doch sie ist nicht mehr.

 

Das Feuilleton gegen den Rest der Welt

Das Feuilleton ist ein Bitzel in der Zeitungslektüre, das diejenigen ’studieren‘, die an einem Sonntagmorgen mit einem Barrista-Anspruch eine Kaffee in sich hinein schlemmen. Sie tragen schicke moderne Retro-Brillen und sind bewusste Menschen.

Sie taugen als attraktiver Sog, aber auch als ultimatives Feindbild. Denn sie sind so verdammt überlegt und vertiefen sich gerne in einen Diskurs (den ‚Dialog‘ würden sie als Wort ablehnen) über einen Aspekt des Lebens, der nicht von Bedeutung für das (Über-)Leben ist. Sie sind so verdammt souverän und reflektiert, dass einem Zuhörer die ‚Galle hoch kommt‘. Denn sie reden über nichts von Bedeutung, nur über intellektuelle Sachen.

Heute sprach ich beiläufig mit einem Muster dieser Spezies. Sie stammte aus Hamburg. Die Frau war bereits im Ruhestand und trug diesen oversize grauen Pullover – eher ein Poncho – mit einer dieser Broschen aus dem Kunsthandwerk im Szeneviertel, was überteuert dargeboten wird – und von dem man glaubt, dass es niemals gekauft würde.

Doch: die Unterhaltung – eher Ihr Monolog – war großartig: sie berichtete in schönen Worten über ihr Leben, Ihre Bewertungen historischer Episoden, Urteile über das älter Werden – und das alles in 20 Minuten. Ich fühlte eine schöne und positive Beobachtung des eigenen Lebens.

Ich war mitten im Feuilleton, das gerade zu realem Leben auferstand. Ich hörte geradezu das Knistern, das sich beim Umblättern der Zeitung einstellt. Es war in dieser Wärme des schönen Cafés ein wohliges Zusammentreffen.

Das Feuilleton ist eine Tür, die man aufstößt und plötzlich vergisst, dass sie hinter einem offen steht. Der Raum ist angenehm bewegt, würde ich ihn malen müssen. Ich wünsche jedem sein eigenes Feuilleton, in das man eintreten kann. Es muss nicht das Feuilleton sein, es könnte auch der Fußballplatz sein.

Geht’s raus und spielt Fußball (Beckenbauer).

Das Leben ist eine Parabel

Wer kennt nicht den Satz des Geistlichen bei einer Bestattung? „Erde zu Erde, Asche zu Asche.“ Es ist geradezu ein Spiegelbild zwischen Geburt / vorwärts und Tod / rückwärts: der Säugling baut Lebensfunktionen auf, der alte Mensch sie ab. Wie der Neugeborene lernt, so verliert der Sterbende seine Fähigkeiten. Ist das erste Wahrnehmen nach der Geburt die Berührung, so bleibt sie es auch vor dem Ableben.

Dieses Bild passt so gar nicht zu unserer Vorstellung einer stetig sich steigernden und verbessernden Linearität. Wir modernen Menschen denken nicht in Kreisläufen, sondern nur in Wachstum / Anstieg / Erfolg usw. Das ist wichtig, weil damit eine Grundausrichtung gemeinsamen sozialen Verständnisses getroffen ist: Menschen können sich darauf verständigen und verlassen, auch wenn sie sich persönlich nicht kennen.

Beispiele sind natürlich der Sport oder die Börsen. Es geht immer um weiter und höher: die Top-Fußballmannschaft muss weiter Erfolge erbringen; sonst wendet sich der Anhänger ab. Die Versicherungen und Börsen müssen Mehrwerte erzeugen. Sonst funktionieren die nicht mehr. Evolution an sich ist Fortschritt und Entwicklung, nicht Rückgang und Verfall.

Signifikant ist, dass wir so viele andere Wendungen in unserer Sprache haben, wie ‚Kommen und Gehen‘, ‚auf und ab‘ usw. Auch Sprichwörter drücken das aus: what goes up, must come down.

Ich will hier nicht über Gedankensysteme, aber sehr wohl über Grundregeln des Denkens schreiben. Denn daraus erwachsen Konsequenzen für den Alltag: betrinkt man sich, so denkt man an den ‚Spaß‘ des Rausches, aber nicht an dieselbe Zeitdauer der schmerzhaften Ernüchterung.

Illustrationen sind: das Kind schreit „schau Mama, was ich kann“; aber wer würde gerne sagen „ich kann das nicht mehr“? Man müht sich, Expertise auszubilden; doch irgendwann zählt die nicht mehr oder kann nicht mehr abgerufen werden.

Konsequenz ist, dass es auch eine Lebensmitte gibt, die man überschreitet. Es ist wie die Mittagszeit, die den Abend einläutet. Es gibt einem Zenit an Leistungsfähigkeit.

Die Parabel gibt uns eine Ahnung über unser Dasein in vollem Bewusstsein des Erwachsenenalters, aber nicht über Anfang oder das Ende. Denn an die Geburt können wir uns nicht erinnern, den Tod können wir uns ebenso wenig vorstellen.

Interessant jedenfalls ist das ‚Ab’rechnen und ‚Ab’zählen der eigenen verbliebenen Lebenszeit. Es wird weniger, quantitativ wie qualitativ!

Für die Jugendlichen gibt es den Jugend- und Erwachsenenroman. Ein Pendant dazu gibt es in der Tristesse der Männerliteratur, von Joseph Roth, Martin Walser und anderen. Aber auch berühmte Filme thematisieren diese Lebensphase, wie Marcelo Mastroiani oder Jeremy Irons. Christian Haller hat ein interessantes Essay dazu geschrieben (Cicero 12/2016, Ich muss nicht mehr!) und selbst daraus ein spannendes Abenteuer beschrieben. Packen wir es an!

 

Das Spiel des Lebens

Warum ich alte Menschen so mag!? Es gibt so viele Gründe dafür. Zunächst geht von Ihnen keine Gefahr aus. Sie sind eher diejenigen, die man beschützen muss.

Dann gibt es mit Älteren so gut wie nie Konkurrenzsituationen. Man muss nicht besser sein. Man kann möglicherweise mehr über die Techniken des modernen Alltags wissen. Doch offenbaren sich Defizite, wenn man über die Vergangenheit oder die Weisheiten des Lebens nachdenkt.

Die Gesichter und die Haut alter Menschen sind so schön. Denn sie sind so stark von Ausdruck, als ob sich ihr langes Leben darin spiegeln wollte. Ihre Gesichter sind nicht glatt und langweilig wie ein Bild auf der Programmzeitschrift. Ihre Furchungen sehen aus wie eine Landschaft. Stellen Sie sich schwarz weiß-Photos vor, die man in Ausstellungen, Dokumentarfilmen oder anderem sieht.

Ältere Menschen sind nur noch Mensch! Jegliche Rolle fällt von Ihnen ab. Sie füllen keine mehr aus. Sie sind authentisch.

Das ‚Spiel des Lebens‘ wird zu einem Topos, den ältere Menschen in der Bilanz ihres Lebens verwenden. Sie schmunzeln, wenn sie über eigene Fehler berichten. Sie lächeln gütig, wenn sie sich selbst beschreiben, als sie dies oder jenes taten.

Zum Spiel des Lebens gehört auch die zufällige Kreuzung zweier Menschen an einem Ort x zur Zeit y. Später kann man sich erklären, dass sich das weder aufgedrängt noch zwangsläufig war – sondern eben eine Wahl.

Ihre Distanz ist so ent-wachsen, dass ältere Menschen sich selbst auf einer Bühne spielen sehen. Sie wissen dann, dass die Rahmenbedingungen Sie dazu brachten. Und sie verzeihen sich, so oder so gehandelt zu haben.

Ist das nicht ein Vorbild? Könnte man nicht am Ende seines Tages ebenso auf sich zurückblicken? Natürlich wissen wir dann, dass das eigene Handeln morgen noch Konsequenzen haben wird. Dennoch: man kann das auch schon im jetzt üben.

 

 

Der Anschlag

Was berichten uns die Medien über einen Terroranschlag? Eine reißerische Nachricht besteht aus einer Schlagzeile, der Zahl der Todesopfer, dem Werkzeug der Gewalt und einem Adjektiv der Verachtung über den oder die Täter.

Die Pressemitteilung selbst enthält meist nur sehr wenige Details über die Opfer (es sei denn, es sind Kinder darunter oder Ausländer betroffen). Es schließt sich die Bitte an, keine Bilder vom Tatort zu machen und ins Internet zu stellen.

Dann folgt die Berichterstattung nach folgendem bewährtem Muster: es werden betroffene Politiker mit ernsthaften Gesichtern interviewt. Die Crime Story über den mutmaßlichen Täter wird konstruiert. Und Fehler der Ermittlungsbehörden werden ‚aufgedeckt‘. Die öffentliche Anteilnahme und das Bekunden, in einer offenen und gewaltfreien Gesellschaft leben zu wollen, wird eingeschlossen.

Die politische Rechte und die Opposition nutzen die Zeit, um gegen die politischen Mehrheitsverhältnisse zu wettern. Sie fordern handeln, die Verschärfung der Gesetze und Maßnahmen gegen die vermeintlich allseits drohende Gefahr.

Dann kommen in der Tagesschau plötzlich auch Nachrichten von anderen Anschlägen auf der Welt, die weit verheerender sind und große Opferzahlen fordern. Das alles ist egal. Denn die Tat vor der Haustür ist maßgeblich – und einzig das zählt.

Das alles geht an dem vorbei, was wirklich betroffen macht: was haben die erlebt, die den Anschlag überlebt haben? Was haben Sie gesehen? Was taucht als Erinnerungsfetzen wieder auf? Was tun die Sicherheits- und Sicherungskräfte? Was finden Sie vor? Wer sind eigentlich diejenigen, die aufräumen? Diese Akteure sind entschlossene und tapfere Handelnde, aber nicht die eigentlichen Opfer: jedoch haben sie die Bilder vor Augen, die sie oft nicht mehr loswerden. Sie haben die Situationen zu überwinden, die in der Verfahrensanweisung zum Umgang mit Anschlägen nicht auftauchen. Hinter der Fassade und dem Ritual gibt es tatsächlich den Abschlag und die gemeinen Details, die uns aus Neugierde zum Voyeur machen, wir aber auf keinen Fall sehen wollen.

Der Anschlag ist zum Topos der öffentlich zelebrierten Nachrichten geworden – austauschbar und ohne Bezug zu den betroffenen Menschen. Dafür können die Medien immer wieder ein kleines Schauspiel veranstalten, auf das sich Politiker stürzen, die die Regierenden eine Mitverantwortung an-reden. Es ist wie ein Drama nach demselben Muster, das wir gerne sehen.

 

Der aristotelische Fehlschluss

Geflüchtete sind ein Opfer der Logik = der Täter des Attentats ist ein Flüchtling; derzeit gibt es viele Anschläge; also verüben Flüchtlinge viele Anschläge.

Äußerte man etwas dieser Art, lachte die Klassenmehrheit. Der Lehrer würde eine finstere Miene machen und darum bitten, sich beim Denken anzustrengen. Die Note würde leiden. Und das Urteil stünde auch bald fest: der ist ein bisschen doof.

Genau das passiert in der öffentlichen und auch politischen Debatte um den richtigen Umgang mit Flüchtlingen. Wenn einer unter ihnen straffällig geworden ist, wird geschlossen, alle anderen seien von derselben Qualität.

Witzig ist auch ein anderer fundamentaler Irrtum: der Mensch an sich ist entweder eingewandert oder vermengt. Es gibt eben keinen autochthonen Menschen, der sich genau dort entwickelt hat, wo er verbreitet ist.

Ausnahme dürften Indianer, Eskimos oder die sog. Ureinwohner sein. Doch kommen die Menschen in unserer Form des homo sapiens aus dem südlichen Afrika. Alle anderen sind ja erst gewandert, bevor sie sich niedergelassen haben. Menschen wandern – ob aus Gründen der Flucht vor Naturfeindlichkeit oder Krieg. Und zudem wird die ganze Weltgesellschaft immer mobiler.

Es ist ein anthropologischer Vorgang der Abwehr von Fremden. Es ist der Archetypus der Angst, die Angst vor dem Unbekannten. Man traut nur Seinesgleichen, da man ihn nur richtig einschätzen kann. Es ist seltsam, dass daher die derzeitige Re-aktion auf Zuwanderer und Flüchtlinge im Status des Verlierers der Globalisierung gesucht wird.

Man sieht an diesen drei Aspekten, dass gerade das Abendland hier nicht ‚verteidigt‘ wird. Unser gesamtes und über 2000 Jahre hart errungenes christliches Erbe wird mit Füßen getreten. Denn Nächstenliebe, Gastfreundschaft und Barmherzigkeit werden nicht gelebt.

Wer gegen die Zuwanderung ist, Muss sich zumindest gegen drei Vorwürfe erwehren – ob er es kann, ist fraglich: 1. er denkt illogisch 2. er ist unwissend 3. er hört nur auf seinen dumpfen Instinkt.

 

Der Kirchgang

Am Heiligabend waren wir wie so viele das einzige Mal in diesem Jahr in der Kirche. Man macht das eben so.

Es ist amüsant, diese gehemmten Bewegungen von Menschen zu sehen, denen der Rahmen fremd ist und die Regeln unbekannt. Ich selbst versuche mich ebenso hilflos am Verhalten der anderen zu orientieren. In kurzen Fenstern fühlt es sich so an, als ob ich dem Gottesdienst einer mir fremden Religion beiwohnen würde.

Vertraut sind mir die Weihnachtsgeschichte, der Aufbau des gesamten Gottesdienstes, das Vater Unser und das ein oder andere Lied. Auch weiß ich, dass die Predigt etwas wie eine kollektive Ermahnung sein soll, ‚den Pfad der christlichen Tugend zu gehen‘. Meist kommt Sie modern daher, indem sie kurz aktuelle Trends aufgreift und auf politische Ereignisse Bezug nimmt.

Am Heiligenabend war dies anders – und doch so wie immer. Vielleicht habe ich mich auch verändert. Denn ich gehe bewusst in die Kirche, weniger als dieser gläubiger Christ denn als Bürger, der das Christentum als Wertesystem schätzt, Kirchen als Orientierungspunkte der städtischen Umwelt begreift und nicht zu denen gehört ‚auszutreten‘, weil es preiswerter ist. Diese Kirche als manifestes Zeugnis, sich Menschen zugewandt und gerecht gegenüber zu benehmen, ist mir das Wert.

Dieser Kirchgang war ein Ärgernis. Denn die Chance auf so vieles wurde vertan im säuerlichen protestantischen Ton. Es war eben kein ‚Fest‘, das die Geburt Jesu als Symbol für eine gerechte Gesellschaft mit Hoffnung und Zuversicht feiert. Es war eben nur diese Mahnung zum Leben, wie es das Ritual vorgibt. Der Ton ist durch und durch der von Trauer, Besserwissen und Ritual. Das hat nichts mit Fest und Freude zu tun!

Nun denke ich an die jüngeren Menschen, die sich nicht mittels elterlichen Auftrags und Wunsch der Kirche und später dem sogenannten Glauben nähern. Ich denke an die jungen Menschen, die während ihrer Pubertät mit der Suche nach einem geeigneten Szenario für Ihr Leben beschäftigt

sind. Was sollen sie eigentlich von diesem erbärmlichen, unbarmherzig befehlenden und erhabenen Ton denken? Was fühlen sie dabei?

Dann fällt mir dabei ein, was die Medien derzeit berichten: von Jugendlichen, die sich für ein Bild begeistern, was ‚Tod den Ungläubigen‘ heißt. Wenn ich entscheiden müsste, wäre mir alles andere näher als diese seelenlose ritualisierte Belehrung dieses Gottesdienstes.

Auch Erwachsene möchten in ihrem Alltag berührt werden. Natürlich ist die Kirche kein klassischer öffentlicher Dienstleister wie ein Bürgeramt. Dass aber Kirche auch die Funktion hat, sich der spirituellen Bedürfnis der Gemeindemitglieder anzunehmen ist auch evident.

Kirche konkurriert mit den besten Freunden eines Menschen, mit dem Mentor /

Coach oder den Medien für eine persönliche Orientierung in dieser Welt, die eben nicht mehr die ist, dass jeder Tag so wie der andere ist. Es wäre schön, wenn sie diese soziale Funktion einnehmen könnte. Wir Menschen wiederum können auch im privaten Umfeld ein wenig Kirche sein, um ihre Grundwerte auch ohne Ermahnung zu leben.