Hinterbliebene sind nicht nur Opfer

Ich kann mich erinnern, wie ich von einer vereinsamten älteren Dame auf einen Kaffee geladen wurde, als der Zufall zuschlug: ich hatte ein Paket für sie angenommen.

Diese kleine Geschichte ereignete sich in einem alten und knarrenden Haus in Bonn. Ich wohnte dort für 1,5 Jahre. Es war völlig verwinkelt, wodurch ich erstaunt war, den Korridor zu entdecken, der zur Wohnungstür meiner Nachbarin führte.

Das Haus war dunkel, ihre Dachwohnung jedoch durchflutet von warmen Sonnenstrahlen. Ich wurde in einem Sofa mit einer weißen Überdecke platziert. Das Mobiliar war genutzt, aber gepflegt. Mir wurde nach Anfrage ein Tee serviert.

Es dauerte nur eine kurze Weile, bis meine Nachbarin zur Sache kam: Sie hatte Jahre zuvor ihren erwachsenen Sohn verloren. Sie erzählte mir von seiner beruflichen Laufbahn, von seiner möglichen Zukunft, von seinem Wohnort, schließlich von dem Tag, als alles passierte. Sie war – wider Erwarten – weniger bedrückt als einem kurzen Thrill unterworfen. Irgendwie hatte sie Ihr Programm abgespult – und war zufrieden. Ein Gespräch kam nicht mehr zustande.

Heute sind Menschen empört, wenn sie nahe Stehende verlieren. Dies passt in die Episodik der Trauerphasen (s. Phase 2 bei Kübler-Ross). Sind es jedoch öffentliche Tode, vollziehen sich die immer gleichen Periodiken: die Angehörigen wünschen sich MEHR von den Verantwortlichen und zuständigen Behörden. Das sind Fälle von Attentaten, Verkehrsunfällen, und und und.

Die Hinterbliebenen der Opfer des Anschlages auf den Berliner Breitscheidplatz 2016 wurden in besonderem Maße von den Medien hofiert. Sie beklagten sich über so vieles: erst spät den Tod bestätigt erhalten zu haben; mit Behördendeutsch konfrontiert gewesen zu sein; keinen Staatsakt erhalten zu haben – vermutlich zu wenig Mit-Leid und Aufmerksamkeit bekommen zu haben.

Bei der Berichterstattung über das Attentat schwang stets der Vorwurf mit, eine Verhinderung sei möglich gewesen; Fehler müssten gefunden werden können; die Zuständigen hätten ihre Aufgabe nicht gemacht; oder oder. Immer macht man sich damit der eigenen kognitiven und psychischen Unfähigkeit schuldig, eben Verantwortung auf andere zu lenken, wo eine eigene Verarbeitung versagt.

Welche Implikationen hat das? Ich befürchte gravierende: denn man sagt damit, dass Schicksal steuerbar, ja machbar ist. Man behauptet damit, es gebe in einer Staatsführung eine Letztverantwortung für alles – bis hin zum Tode. Man verzweifelt angesichts des Todes und gibt sein Leben so aus der Hand.

Der Ostdeutsche

Es gibt ihn eben doch, diesen Menschen, der post-sozialistische Lebenslogik demonstriert, eine kollektiv einheitliche Erinnerung pflegt und diese besondere Satzmelodie und Phonetik eigen iost.

Sicherlich gibt es auch diesen Westdeutschen, der die Sicherheit im Handeln zeigt, seine Umwelt kritisch analysiert und die westliche Welt bereist hat.

Ich las kürzlich einen Beitrag über die Alt Right in den USA. Die hängt am Lebensideal der 1950er Jahre, als die weiße Kleinfamilie in den Vorstädten zu materiellem Reichtum kam. Alles war geordnet, alles strahlte Zufriedenheit aus. Ihr Land zeigte große wirtschaftliche und militärische Stärke, die USA gerieten zur Supermacht.

Vielleicht war ja dieses Gefühl den bekennenden DDR-Bürgern ähnlich, da sie gewohnt waren, im modernen Sozialismus eine besondere Rolle einzunehmen. Denn die DDR war Musterschüler des Ostblocks und gleichzeitig musste sich das Land täglich mit dem größeren Bruder im Westen messen. Symbolische Siege etwa im Sport ließen die Bürger glauben, man sei besser.

Doch irgendwann holte die Wirklichkeit dieses trotzige Superioritätsgefühl ein und strafte es durch eine neue Wirklichkeit lügen. Und typisch für den Deutschen ist, nicht nachzugeben und sich mit dem Neuen zufrieden zu erklären. Dazu kommen die Härten des Übergangs, die vielen Menschen Jobs und Lebensgrundlagen raubten. Der Erfolg der neuen Wirtschaftsweise und der massiven Investitionen zeigt ihnen die Unterlegenheit ihres alten Regimes, in das sie erfolgreich sozialisiert worden waren.

Und so hängt man am Tropf der glorreichen Vergangenheit. Das tun auch das UK und Österreich. Auch dort ist dieser Hang zum großen historischen Erbe noch heute gesellschaftlich und politisch wirksam: ohne ihr Bild kein Brexit!

Und so jammert man sich durch die Gegenwart. Das Schlimmste dürfte sein, das Vorherige und Alte nicht mehr schätzen zu dürfen, obwohl man es lieben gelernt hatte. Und gerade weil man sich nun irgendwie subjektiv und objektiv benachteiligt in der Tristesse der Zweitklassigkeit eingerichtet hat, ist man darüber verärgert, dass erneut ‚über ihre Köpfe‘ entschieden und Geflüchtete in ‚ihr‘ Land gelassen werden.

Man will sich erst gar nicht mit den Neuen auseinander setzen. Denn wären sie da, hätte man schon verloren. Man hat Angst um die sozialen Transfers der reicheren deutschen Regionen und den Erhalt des gerade noch geretteten letzten Stücks ihrer Kultur.

Auch wenn die materiellen Investitionen des Westens angekommen und sichtbar sind, hat sich kein Gefühl der Dankbarkeit entwickelt: denn die zwangsweise Entwurzelung aus dem realsozialistischen Alltag wiegt die bloße Modernisierung der Infrastruktur nicht auf. Zu viel ist gegangen, wie die Sicherheit, die Kinder, die Hoffnung und anderes. Und wer sich als das eigentliche Opfer fühlt, der will sich nicht noch um andere Opfer kümmern müssen.

Und die Sicht des Westens? „Die haben uns nie verstanden, ja auch nicht zugehört. Sie haben Fürsorge und Entwicklung angestoßen, aber eigentlich Ausbeutung und Kolonialisierung gebracht. Und dann verlangen sie auch noch Dankbarkeit, was ein Hohn ist.“

Diese defensive Haltung verstehe ich. Mir ist bewusst, dass aus Frustration Aggression erwächst. Was mich jedoch unversöhnlich lässt, ist die Selbstaufgabe, das mangelnde Nachdenken und die fehlende Humanität. Opfer sein, ist bequem – und dann auch zu legitimieren, dass man zum Täter wird, ist zu viel des Verständnisses. Im Grossen wie im Kleinen muss man das vertreten.

Der Tunnel in Kabul

In Kabul gibt es eine unterirdische Kellerung, in der 1.000e Menschen wohnen, die sich im ständigen Drogenrausch befinden. In einer kleinen Doku zeigte das Fernsehen Bilder darüber: die Szenen ähnelten den bildlichen Vorstellungen der Hölle von Hieronymus Bosch. Dicht an dicht gedrängt sitzen dort meist Männer, die sich im Kreislauf der Drogensucht aus Aufbereitung und Abhängen bewegen. Es ist dunkel, die Stimmung düster. Der Reporter berichtet von einem eher ätzendem Geruch aus menschlichen Körperdünsten und bedrückender, ja feindseliger Stimmung.

Sieht man Bilder dieses Tunnels, so erschrickt man: dort sind Menschen, die nur noch ein Ziel treibt, d.h. der nächste Rausch. Es ist nicht nur räumlich ein Abgrund, sondern auch einer auf der Skala menschlichen Lebens. Nichts Lebenswertes noch Lebenswürde lassen sich dort finden. Selbst die körperliche Reinigung und die psychische Überwindung der Sucht sind nicht dazu geeignet, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Denn Kabul ist auch ein Ort empfundener Verdammung: dort lässt sich kaum ein glückliches Leben führen.

Vermutlich entspricht das auch dem Empfinden während einer Depression: es gibt keinen Ausweg. Alles ist gleichgültig. Man lebt vor sich und wartet auf die Erlösung oder die Änderung seines eigenen Schicksals durch irgendein externes Ereignis.

Eigentlich ringe ich dann um Erklärung, ob es eine Perspektive für diese Menschen gibt. Doch stellt sich schnell die vermeintliche Einsicht ein, dass eine Umkehr unmöglich ist.

Und dann kommen da Menschen, die sich kümmern: das sind Menschen mit einem religiösen oder tiefem sozialen Bewusstsein. Die schaffen aus eigener Kraft eine kleine Infrastruktur dort, wo sich niemand anders kümmern will, die öffentlichen und staatlichen Institutionen aufgegeben haben.

Ich bin persönlich von solchen Menschen beeindruckt und beschämt. Denn sofort stellt sich die Frage an mich selbst ein, wieso nicht ich mich auch für ein solches Engagement entscheiden könnte. Wieso nur geht man nicht diesen Weg?

Doch führt diese Beschämung darüber hinweg, mich dem Denken und Fühlen, den betroffenen Menschen an sich zu bewegen. Wie ist ihr Funktionieren zu erklären, nicht das biologische und soziale, sondern das kognitive und emotionale? Haben solche Verdrängten noch menschliche Gefühle, Regungen und Interessen? Kennen sie Konzepte wie Zukunft und Vergangenheit? Können sie noch Glück empfinden?

Was vom Menschen, dieser Krone der Schöpfung bleibt übrig? Sind sie nicht schlicht auf den anthropologischen Überlebensmodus reduziert? Ist solches Schicksal unausweichlich? Gibt und gab es immer zu allen Zeiten solches Elend? Gehört das zur menschlichen Entwicklung, so wie die Durchsetzung der Starken? Und lässt sich nicht dennoch ändern, was uns unveränderlich und jämmerlich daher kommt?

Nun könnte ich ewig weiterschreiben … doch Herr werde ich dieses Phänomens nicht.

Mee neither

Diese Kampagne ‚me too’ passt in unser Zeitalter, das immer mehr Empfindungen und rudimentäre moralische Fragen öffentlich diskutiert. Spricht man in der Wirtschaft von neuem IT-Zeitalter, könnte man in der Evolution der Geistesgeschichte von einem moralisch-sensiblen Zeitalter sprechen. Man könnte auch von Zeichen der Hysterie sprechen.

Mit einem Rausschmiss eines wichtigen Hollywood-Produzenten begann alles. Der soll Massen von Frauen sexuell missbraucht haben, in welcher Form auch immer. Es folgen britische und US-amerikanische Politiker, Schauspieler wie Kevin Spacey und viele andere.

In kürzester Zeit führt es zu einer Art von Massen-Outing, womit alle möglichen Personen angeben, Opfer von Übergriffen geworden zu sein. Mich wundert dabei, dass nicht eine Website geschaffen wurde, um eine Liste anzulegen. Das ging anders: die Aktivistin Milano rief Frauen im Zuge dieses Anlasses auf, #MeToo zu nutzen, um auf Twitter sein Outing zu veröffentlichen. An einem Tag, dem 16.10.2017, waren es alleine eine halbe Million, die ihr folgten.

Nun stellt sich natürlich die Frage nach der Wahrheit, sind eigentlich alle Frauen Opfer von sexuellen Missbrauchs? Oder ‚nur’ von sexueller Belästigung? Gehört denn die Anbahnung eines sexuellen Kontaktes nicht zum normalen Verhalten der Menschen? Welche Regeln kann und muss es dafür geben, um überhaupt noch eine solche Normalität leben zu dürfen?

Symptomatisch war eine Schlagzeile über Dustin Hoffman, dem gegenüber auch Vorwürfe aufkamen – wie eigentlich allen prominenten Männern gegenüber: „Ich habe mich vergewaltigt gefühlt“, äußerste ein vermeintliches Opfer. Was heißt das nur für den Leser? Gefühlt? Oder vollzogen? Was soll das?

Die hysterische Folgewirkung zeigt auch, dass gar Museen anfangen, ihre Kunst zu hinterfragen (http://www.zeit.de/2017/52/sexismus-kunst-zensur-meetoo). Es werden Stimmen laut, die fordern, sexuell anreizende Motive aus den öffentlichen Beständen zu entfernen.

Was tun?

Todessehnsucht

In einem Film hörte ich, dass der Verdächtige einer Kriminaltat schon immer todessehnsüchtig gewesen sei. Schon lange habe ich nicht mehr davon gehört, dass solche Menschen tatsächlich leben.

Meine Mutmaßung ist, dass dies in Zeiten von fundamentalen Krisen im Leben auftritt. Vielleicht aber gibt es das auch als Charakterzug: Menschen wären so immer drauf und dran, sich gefährlichen Situationen zu exponieren oder gar selbst aktiv den Tod zu suchen.

Vielleicht existieren solche Menschen, die des Nachts und tagsüber umherstreifen, um den Tod zu suchen, ihm zumindest nicht auszuweichen.

Was sie wohl gedanklich bestimmt? Immer wieder daran zu denken, wie der Todesvorgang aussehen möge? Oder wie die Bekannten seiner Selbst gedenken würden? Oder ob es ein Danach gibt?

Immer mehr offenbart die Hirnforschung, dass Veränderungen durch Unfälle oder organisch-biologische Veränderungen dazu führen können, auch neue charakterliche Züge zu entwickeln. Vielleicht taugt das als Erklärung für die Entwicklung von Todessehnsucht. Aber es könnte auch in Seltsamkeiten der kindlichen Phantasie liegen, die den Heranreifenden dazu bringt, diese Sehnsucht zu aktivieren. Verstehen lässt sich nicht, was in den Betroffenen vorgeht, so lange man nicht wissenschaftliche Evidenz bemüht.

Aber was ist mit denjenigen, die begeistert und schaurig auf die Betroffenen schauen? Die glauben, dass dies besondere Menschen sind? Dass sie beneidenswert sind, da sie das Teuerste aller Güter, nämlich das eigene Leben relativieren? Dass Sie möglicherweise eine höhere Einsicht haben, um so zu denken? Die vermutlich weder einsehen können noch wollen, dass es sich bei den Sehnsüchtigen um arme Teufel handelt?

Polen

Der polnische Charakter verschließt sich bei der bloßen Beobachtung der Menschen noch mehr als bei Mitgliedern anderer Nationalstaaten. Denn sie sind irgendwie ‚unauffällig‘, meist ruhig und wenig schillernd im äußeren.

Jedenfalls haben sie nichts mehr gemein mit diesem ehemaligen Sowjetunion-Menschen, der aus den Textil-Errungenschaften der Nachkriegszeit bestand und Rundungen wie eine russische Matrone annahm.

Heute sind Polen insgesamt sehr ruhig. Ihre Stimmhöhe und -frequenz ist mehr als gemäßigt, es sei denn, man hört aktiv einer TV-Werbung zu. Der ewige Zischlaut trägt wohl auch dazu bei: die Konsonanten dominieren den Lautklang; niedrige und hohe Töne sind selten zu vernehmen.

Höflichkeit und / oder Respekt vor Mitmenschen scheint mir ein allseits geteilter Wert zu sein. Denn die Regeln von Danke und Bitte werden durchweg befolgt. Als Reisender gerät man nicht in diese Situationen, in denen man sich bevormundet oder übersehen fühlt. Freundlich jedoch erscheinen die Polen auch wieder nicht an sich. Denn ihr Level an Lächeln und Lachen ist dazu einfach zu gering.

Eine Offenheit halte ich für gegeben, da man ohne diese umständlichen Umschweife und ostentativen Arroganzen – beispielsweise der Pariser – mit Polen kommunizieren kann, auch wenn sich keine gemeinsame Sprache finden lässt. Sie haben kein Problem, Fremden in die Augen zu schauen. Auch wenn nur geringe Neugierde zu interpretieren ist, so fehlt auch das Misstrauen gegenüber unerwünschten Fremden.

Die Gestalt von Polen ist nicht mehr das, was man in früheren Zeiten gegenüber slawischen Völkern polemisierte: hohe Wangenknochen, fleischige Körperlichkeit oder zuselige Haare.

Jedenfalls sind junge Polen weniger übergewichtig als Deutsche. Sie vermitteln den Eindruck, eher funktional zu sein, da sie sich nicht als Schmuckobjekt verstehen: Sie tätowieren sich kaum, tragen Kleidung ohne Auffälligkeiten, sind weniger stark mit Düften besprüht. Das einzige ist das Färben der Haare unter den 30-60-jährigen Frauen, das noch auffällig ist. Doch handelt es sich hierbei auch nicht um die schrillen Farben, die in Deutschland die protestierende Adoleszenz trägt.

Insgesamt ist es sehr angenehm, mit solchen Menschen Umgang zu haben. Sie erinnern mich an den aufrechten, prompten, offenen und freundlichen Deutschen des letzten Jahrhunderts. Auch wenn er irgendwie Einheitsdeutscher war, doch war sein preußisches Benehmen  als selbstverständlich anzunehmen.

Was nur denken Wutbürger?

Kommt ein Mensch und quatscht Sie mit seiner Weltsicht voll. Das ist auf dem Land so, wo dem Fremden gegenüber die eigene Wahrheit freimütig geäußert wird. Das kenne ich noch aus meiner Jugend, als die Bauern oder die Wirte die kollektiven Lebensweisheiten im Zwiegespräch beiläufig verkündeten.

Heutzutage hört man das gelegentlich noch von Älteren, die seufzend über das Übel des Jetzt und das Gute der Vergangenheit sprechen.

In nur wenigen Tagen hatte ich gleich mehrere merk-würdige Begegnungen: Sie verlaufen meist nach einem einheitlichen Schema. Erst versichert sich das Gegenüber, dass man darauf hoffen kann, dass das Publikum zuhört. Dann setzt man an, dass sich Dubioses zuträgt; das man aber mehr wisse; dass sich heute niemand traue, die Wahrheit auszusprechen … Es ist ein wenig, wie das Tuscheln der Waschweiber über die Affairen des Grafen.

Welche Glaubenssätze kann ich aus dem Erlebten ableiten?

Nr. 1 Es gibt keinen gefühlten Grund für eine Zufriedenheit, auch nicht zur Freundlichkeit – auch wenn objektive Missstände fehlen.

Nr. 2 Die ‚da oben‘ bereichern sich, gehen Interessen nach, die nicht mit den ehrlichen Menschen übereinstimmen

Nr. 3 Politik ist dafür da, eigene Wunschvorstellungen zu erfüllen. Kompliziert ist ‚die Welt der Politik‘ nicht. Sie kennt keine eigene Gesetzlichkeit.

Nr. 4 Politik muss unterhalten wie ein Fußballspiel. Freilich muss am Ende die Heimmannschaft gewinnen – um einen Wettbewerb um die Leistungsstärkeren geht es schließlich den Wutbürgern nicht. Es gibt ja schließlich ihre Wahrheit.

Nr. 5 Ein eigenes politisches Engagement ist mit Buhen, Dagegen sein, schimpfen usw. erschöpft – Ideen, Pläne, Konzepte sind nicht von Nöten, da im Glauben der Wutbürger alles offensichtlich ist.

Nr. 6 Sachprobleme werden von Politikern nur angeführt, weil sie eine andere Wahrheit und ihr tatsächliches Handeln verdunkeln wollen. Alle Sachprobleme lassen sich einfach und rasch lösen.

Nr. 7 Politiker sind Menschen zweiten Rangs. Denn ihr Tun taugt nicht für den Begriff von Arbeit: nur wichtig herumstehen und reden kann schließlich jeder.

Nr. 8 Die Einordnung von Sachverhalten, Ansichten und Parteien in gut und böse ist doch ein Kinderspiel. Auch in einer Demokratie gibt es nur falsch und richtig, keine Grauzonen. Gerade in Demokratien müssen sich die mit der größten Nähe an die Wahrheit durchsetzen. Kompromisse und Minderheitenschutz sind unsinnig.

Nr. 9 Der Begriff des Wutbürgers ist eine reine und boshafte Polemik. Denn die Empfindung seiner selbst ist doch keine Auseinandersetzung wert. Auch hier ist schließlich alles klar.

Den Begriff des Wut’bürgers‘ verstehe ich immer weniger. Denn welcher Bürger ist schon ständig und laut wütend auf sein eigenes Gemeinwesen? Er ist doch schließlich Teil dessen. Wieso tut er nichts, um es in seinem Sinn zu verbessern? Denn es ist doch rational und logisch, das Schlechte zu bekämpfen und das Gute zu schaffen. Was sind überhaupt seine Ziele?

Beteilige Dich doch!

In TV-Filmen gibt es die immer wieder kehrende Szene, dass Frauen ihre männlichen Partner auffordern, sich in soziale Situationen einzubringen. Sei es der Sohn, mit dem Erziehungsprobleme bestehen, seien es die Nachbarn, die Ärger machen, seien es die Vereinskameraden, die sich seltsam verhalten.

Tatsächlich ist das ein Stück Erziehung: Frauen wollen Männer auf ihrer Seite haben; Sie wollen, dass auch Männer die traditionelle Rolle der Frau mit abbilden; Sie wollen aber auch eine Antwort auf ihre Aufforderung, was der Mann zu einer solchen Aufforderung denkt.

Der Mann sträubt sich innerlich gegen dieses Momentum auf. Denn er will nicht reden, sich austauschen, endlose Meinungsdarstellungen spiegeln und die Unterhaltung vor den Inhalt stellen. Er will nicht Verhandlungen ohne Ziel führen. Er will nicht diesen Sing Sang an Wortfluss, bei dem am Ende ein Konsens herauskommt – oder zumindest eine momentane Beseitigung des Konflikts.

Doch Frauen geben deswegen nicht auf. Ihre Haltung ist, dass sie nicht alleine Familienpflichten und andere soziale Herausforderungen ausfechten wollen. Das ist nicht vereinbar mit einer modernen gleichberechtigten Beziehung. Die reklamieren Frauen, da sie sich nicht mehr in den anthropologischen Rollen fixiert sehen wollen.

Hat sich die Frau geändert, muss das noch lange nicht heißen, dass der Mann etwas von der sozialen Rolle der Frau übernehmen will. Nein, er will weiter seine eigene Rolle leben, die sich aus diesen typischen Situationen im Leben eines Mannes zusammensetzt.

Und so ist die Auseinandersetzung um ein irgendwie akzeptiertes Gleichgewicht innerhalb einer Partnerschaft eine Aufgabe, die sich immer wieder stellt. Tritt es nicht ein, hält die Partnerschaft nicht, ist sie schlicht ohne Boden.

Die kollektive Irrationalität des Wutbürgers

Die revolutionäre Idee der künftigen Änderungen zum Guten ist die Trägerideologie des Wutbürgers: lasst uns die Regierungen und die herrschenden Verhältnisse niedermachen, um dann das Reich der Sonne aufgehen zu sehen!

Was nur glauben diese Menschen, dass ihre Wut schwinden und gar verschwinden lässt? Was genau muss geschehen? Weiß man automatisch, was man will dadurch, dass man benennen kann, was man nicht will? Ist das Ziel nur die Verkehrung des abgelehnten Status Quo?

Könnte man nicht einen Fragebogen entwerfen, der den Wutbürger entlarvt? Könnte man den dann nicht abgleichen mit Fragebögen zu Persönlichkeitstypen und -Charakteren?

Hier möchte ich zum Wutbürger rechter Provenienz schreiben; auch wenn die linke Perspektive nicht weit davon entfernt ist:-)

Die bekannteste These zur Erklärung für die Zustimmung zur AfD ist die des Verlustes der alten Welt, also der eigenen Vergangenheit – und damit des persönlichen Wertekonzepts, der eigenen Gewohnheitswelt, seiner eigenen Identität oder gar seines traditionellen Lebensalltags. Wenn alles, was einem liegt, was man liebt, wo man sich sicher fühlt und sein Leben führt, ins Wanken gerät, so ist man gegen das Neue.

Das ist wohl eine anthropologischen Konstante: der Mensch verteidigt sich. Gestaltet er mit, wird er gefragt oder versteht er den Wandel, so bleibt keine Ohnmacht, sondern es entstehen Einsicht und gar Zustimmung. In der Geschichte wandten sich die Kirche gegen die Moderne, die Arbeiter gegen Maschinen, die Machthaber gegen die Demokratie. Jeder Umbruch bringt Verlierer mit sich, weil sie etwas aufgeben müssen, das ihnen vertraut war. Und das wiederholt sich dieser Tage wieder, da nämlich durch die Ankunft der neuen globalisierten und erbarmungslosen kapitalistischen Welt.

Der Wutbürger hat das Gefühl, er würde unter die Räder zu kommen. Er weiß, dass er sich nicht wehren kann. Er will das Neue einfach nicht haben, und schon gar nicht wahr haben.

Wann eigentlich tritt Wut im Leben eines Menschen auf? Ich kenne zwei dieser typischen Phasen im Leben. Erstens ist es die Trotzphase des 3-5 jährigen Kindes, das sich gegen die elterlichen Eingriffe in das eigene Dasein verwehrt. Und dann ist es das Gefühl über eine grobe und nicht gerechtfertigte Behandlung eines Dritten während des gesamten Erwachsenenalters. Meist geht das mit einem Verlust einher, wie dem des Arbeitsplatzes oder dem des Lebenspartners.

Wut muss abreagiert werden – so sagen es der Volksmund und wohl auch moderne Mediziner.

Und Wut will dabei nur gezeigt werden. Man verlangt überhaupt nicht nach Dialog oder Verständigung. Es geht darum, seine Wut zeigen und ausleben zu dürfen. Darüber verlieren die Menschen ihre Selbstregulierung, ihre nachhaltige Zufriedenheit, Hoffnung und den grundlegenden Charakterzug des rationalen Analysierens. Es wird nur noch geglaubt, nicht mehr gewusst, argumentiert, zugehört oder nachgedacht.

Schwierig für denjenigen, der die Wut zu spüren kommen soll, ist es, sich das Phänomen zu erklären. Den Wütenden nach seiner Wut zu fragen, ist wohl in etwa so, wie den Irren nach seiner Erkrankung zu fragen. Zudem weiß der Adressat von Wut nicht, wie man den Wütenden erlösen kann. Im politischen Umgang glaubt man an den Dialog. In der Psychologie würde man eher an Auspowern und Disziplin denken. Das lässt sich aber in einer Demokratie nur schwerlich tun.

Vielleicht sollte man die Wut wüten lassen, bis sie wie ein Feuer verglimmt. Dennoch kann sie zur Gefahr werden, wenn sie etwas entzündet. Wahrscheinlich bedarf es der Entlarvung des Wutzustands, um den Wütigen zur Rücksicht, später zur Einsicht zu zwingen.

Der Vorschlag des Lehrers, sich wieder zu vertragen und doch die Hand zu geben, ist Unsinn.

Zwischen Betroffenheit und Sensationssucht

Wer kennt nicht den eigenen scheuen Blick, wenn ein erbärmlicher Mensch seine Wege kreuzt? Das kann der schrille Punk sein mit der Ratte auf der Schulter, die weinende Frau auf dem Bahnsteig, der pinkelnde Obdachlose an der Straßenecke oder die glatzköpfige Einkäuferin im Supermarkt.

Immer erwacht dann ein Cocktail aus Neugierde, Ablehnung, moralischer Auflehnung und mehr. Soll man hinschauen? Soll man sich abwenden? Soll man gar eine Meinung zu dem Phänomen äußern?

Gaffertum ist zwischenzeitlich unter Strafe gestellt, soweit man Hilfsmaßnahmen verhindert. Das ist ein Benchmark. Gipfeln kann menschliches Verhalten in dem Zücken des Smartphones, mit dem man Bilder macht oder ein Video aufnimmt, um es anschließend ins Netz zu stellen. Dann hat sich der Mensch entschieden: „ich war dabei! Seht her! Bin ich nicht toll?“

Im Gegensatz dazu gibt es diejenigen, die sich ermutigen, bloß nicht hinzuschauen, um sich am Leid anderer zu ergötzen. Die Steigerung dazu ist die Äußerung: „lass uns gehen; sonst werden wir hier noch in – ich weiß nicht – was verwickelt.“

Eine weitere Variante ist der öffentliche Akt: man spricht das Gegenüber darauf an, dass ‚etwas nicht stimmt‘. Oder kommentiert laut das Verhalten des anderen, ähnlich diesem Mann in beige und über 60, der dem Fahrradfahrer auf den Gehsteig hinterher ruft: „das ist hier keine Straße!“

Eigentlich ist das Befremdliche nur ein Reiz, wie er am Tag eines Menschen ständig vorkommt. Doch mit dem Erscheinen eines Phänomens außerhalb der Normalität stellt sich ein Bedürfnis ein, das Fremdartige zu ergründen und im selben Moment wieder Normalität herzustellen.

Und es gibt wohl Milieu-spezifische Umgangsweisen: man glotzt keine Leute an, lass das!; ist das schrill, Mann!; vielleicht muss man denen helfen; wo bleibt denn nur die Unterstützung (von Polizei bis Ambulanz); vielleicht sollten wir mitmachen …

Es ist ein wenig wie Odysseus, als er bei den Sirenen vorbeisegelte: er will unbedingt glotzen – und verbietet es sich aus höheren Gründen doch. Dieser Cocktail wird wohl von jedem immer wieder erneut getrunken. Er bekommt einem nicht.