Zwischen Betroffenheit und Sensationssucht

Wer kennt nicht den eigenen scheuen Blick, wenn ein erbärmlicher Mensch seine Wege kreuzt? Das kann der schrille Punk sein mit der Ratte auf der Schulter, die weinende Frau auf dem Bahnsteig, der pinkelnde Obdachlose an der Straßenecke oder die glatzköpfige Einkäuferin im Supermarkt.

Immer erwacht dann ein Cocktail aus Neugierde, Ablehnung, moralischer Auflehnung und mehr. Soll man hinschauen? Soll man sich abwenden? Soll man gar eine Meinung zu dem Phänomen äußern?

Gaffertum ist zwischenzeitlich unter Strafe gestellt, soweit man Hilfsmaßnahmen verhindert. Das ist ein Benchmark. Gipfeln kann menschliches Verhalten in dem Zücken des Smartphones, mit dem man Bilder macht oder ein Video aufnimmt, um es anschließend ins Netz zu stellen. Dann hat sich der Mensch entschieden: „ich war dabei! Seht her! Bin ich nicht toll?“

Im Gegensatz dazu gibt es diejenigen, die sich ermutigen, bloß nicht hinzuschauen, um sich am Leid anderer zu ergötzen. Die Steigerung dazu ist die Äußerung: „lass uns gehen; sonst werden wir hier noch in – ich weiß nicht – was verwickelt.“

Eine weitere Variante ist der öffentliche Akt: man spricht das Gegenüber darauf an, dass ‚etwas nicht stimmt‘. Oder kommentiert laut das Verhalten des anderen, ähnlich diesem Mann in beige und über 60, der dem Fahrradfahrer auf den Gehsteig hinterher ruft: „das ist hier keine Straße!“

Eigentlich ist das Befremdliche nur ein Reiz, wie er am Tag eines Menschen ständig vorkommt. Doch mit dem Erscheinen eines Phänomens außerhalb der Normalität stellt sich ein Bedürfnis ein, das Fremdartige zu ergründen und im selben Moment wieder Normalität herzustellen.

Und es gibt wohl Milieu-spezifische Umgangsweisen: man glotzt keine Leute an, lass das!; ist das schrill, Mann!; vielleicht muss man denen helfen; wo bleibt denn nur die Unterstützung (von Polizei bis Ambulanz); vielleicht sollten wir mitmachen …

Es ist ein wenig wie Odysseus, als er bei den Sirenen vorbeisegelte: er will unbedingt glotzen – und verbietet es sich aus höheren Gründen doch. Dieser Cocktail wird wohl von jedem immer wieder erneut getrunken. Er bekommt einem nicht.

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