Kommt ein Mensch und quatscht Sie mit seiner Weltsicht voll. Das ist auf dem Land so, wo dem Fremden gegenüber die eigene Wahrheit freimütig geäußert wird. Das kenne ich noch aus meiner Jugend, als die Bauern oder die Wirte die kollektiven Lebensweisheiten im Zwiegespräch beiläufig verkündeten.
Heutzutage hört man das gelegentlich noch von Älteren, die seufzend über das Übel des Jetzt und das Gute der Vergangenheit sprechen.
In nur wenigen Tagen hatte ich gleich mehrere merk-würdige Begegnungen: Sie verlaufen meist nach einem einheitlichen Schema. Erst versichert sich das Gegenüber, dass man darauf hoffen kann, dass das Publikum zuhört. Dann setzt man an, dass sich Dubioses zuträgt; das man aber mehr wisse; dass sich heute niemand traue, die Wahrheit auszusprechen … Es ist ein wenig, wie das Tuscheln der Waschweiber über die Affairen des Grafen.
Welche Glaubenssätze kann ich aus dem Erlebten ableiten?
Nr. 1 Es gibt keinen gefühlten Grund für eine Zufriedenheit, auch nicht zur Freundlichkeit – auch wenn objektive Missstände fehlen.
Nr. 2 Die ‚da oben‘ bereichern sich, gehen Interessen nach, die nicht mit den ehrlichen Menschen übereinstimmen
Nr. 3 Politik ist dafür da, eigene Wunschvorstellungen zu erfüllen. Kompliziert ist ‚die Welt der Politik‘ nicht. Sie kennt keine eigene Gesetzlichkeit.
Nr. 4 Politik muss unterhalten wie ein Fußballspiel. Freilich muss am Ende die Heimmannschaft gewinnen – um einen Wettbewerb um die Leistungsstärkeren geht es schließlich den Wutbürgern nicht. Es gibt ja schließlich ihre Wahrheit.
Nr. 5 Ein eigenes politisches Engagement ist mit Buhen, Dagegen sein, schimpfen usw. erschöpft – Ideen, Pläne, Konzepte sind nicht von Nöten, da im Glauben der Wutbürger alles offensichtlich ist.
Nr. 6 Sachprobleme werden von Politikern nur angeführt, weil sie eine andere Wahrheit und ihr tatsächliches Handeln verdunkeln wollen. Alle Sachprobleme lassen sich einfach und rasch lösen.
Nr. 7 Politiker sind Menschen zweiten Rangs. Denn ihr Tun taugt nicht für den Begriff von Arbeit: nur wichtig herumstehen und reden kann schließlich jeder.
Nr. 8 Die Einordnung von Sachverhalten, Ansichten und Parteien in gut und böse ist doch ein Kinderspiel. Auch in einer Demokratie gibt es nur falsch und richtig, keine Grauzonen. Gerade in Demokratien müssen sich die mit der größten Nähe an die Wahrheit durchsetzen. Kompromisse und Minderheitenschutz sind unsinnig.
Nr. 9 Der Begriff des Wutbürgers ist eine reine und boshafte Polemik. Denn die Empfindung seiner selbst ist doch keine Auseinandersetzung wert. Auch hier ist schließlich alles klar.
Den Begriff des Wut’bürgers‘ verstehe ich immer weniger. Denn welcher Bürger ist schon ständig und laut wütend auf sein eigenes Gemeinwesen? Er ist doch schließlich Teil dessen. Wieso tut er nichts, um es in seinem Sinn zu verbessern? Denn es ist doch rational und logisch, das Schlechte zu bekämpfen und das Gute zu schaffen. Was sind überhaupt seine Ziele?