Hinterbliebene sind nicht nur Opfer

Ich kann mich erinnern, wie ich von einer vereinsamten älteren Dame auf einen Kaffee geladen wurde, als der Zufall zuschlug: ich hatte ein Paket für sie angenommen.

Diese kleine Geschichte ereignete sich in einem alten und knarrenden Haus in Bonn. Ich wohnte dort für 1,5 Jahre. Es war völlig verwinkelt, wodurch ich erstaunt war, den Korridor zu entdecken, der zur Wohnungstür meiner Nachbarin führte.

Das Haus war dunkel, ihre Dachwohnung jedoch durchflutet von warmen Sonnenstrahlen. Ich wurde in einem Sofa mit einer weißen Überdecke platziert. Das Mobiliar war genutzt, aber gepflegt. Mir wurde nach Anfrage ein Tee serviert.

Es dauerte nur eine kurze Weile, bis meine Nachbarin zur Sache kam: Sie hatte Jahre zuvor ihren erwachsenen Sohn verloren. Sie erzählte mir von seiner beruflichen Laufbahn, von seiner möglichen Zukunft, von seinem Wohnort, schließlich von dem Tag, als alles passierte. Sie war – wider Erwarten – weniger bedrückt als einem kurzen Thrill unterworfen. Irgendwie hatte sie Ihr Programm abgespult – und war zufrieden. Ein Gespräch kam nicht mehr zustande.

Heute sind Menschen empört, wenn sie nahe Stehende verlieren. Dies passt in die Episodik der Trauerphasen (s. Phase 2 bei Kübler-Ross). Sind es jedoch öffentliche Tode, vollziehen sich die immer gleichen Periodiken: die Angehörigen wünschen sich MEHR von den Verantwortlichen und zuständigen Behörden. Das sind Fälle von Attentaten, Verkehrsunfällen, und und und.

Die Hinterbliebenen der Opfer des Anschlages auf den Berliner Breitscheidplatz 2016 wurden in besonderem Maße von den Medien hofiert. Sie beklagten sich über so vieles: erst spät den Tod bestätigt erhalten zu haben; mit Behördendeutsch konfrontiert gewesen zu sein; keinen Staatsakt erhalten zu haben – vermutlich zu wenig Mit-Leid und Aufmerksamkeit bekommen zu haben.

Bei der Berichterstattung über das Attentat schwang stets der Vorwurf mit, eine Verhinderung sei möglich gewesen; Fehler müssten gefunden werden können; die Zuständigen hätten ihre Aufgabe nicht gemacht; oder oder. Immer macht man sich damit der eigenen kognitiven und psychischen Unfähigkeit schuldig, eben Verantwortung auf andere zu lenken, wo eine eigene Verarbeitung versagt.

Welche Implikationen hat das? Ich befürchte gravierende: denn man sagt damit, dass Schicksal steuerbar, ja machbar ist. Man behauptet damit, es gebe in einer Staatsführung eine Letztverantwortung für alles – bis hin zum Tode. Man verzweifelt angesichts des Todes und gibt sein Leben so aus der Hand.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert