Parabel von jung und alt

Frühe Kindheit und hohes Alter sind einander so wahnsinnig ähnlich. Ehrlich verstehe ich nicht, wieso es keine geteilten bzw. gemischten Gruppen gibt – also so etwas wie Kindergärten und Seniorenheime in eins.

Was charakterisiert beide Lebensphasen: es zählt nur noch das Ich, die eigene Welt; die Bedürfnisse anderer Menschen werden nicht gesehen, solcherlei Hinweise nur überrascht zur Kenntnis genommen. Es zählt nur noch Konkretion, zu Abstraktionen sind die beiden Gruppen kaum fähig.

Beide Altersgruppen brauchen alltagsweltliche Unterstützung. Beide können Windeln benötigen. Beide klagen über körperliche Unzulänglichkeiten. Beide haben nur schwach ausgebildete körperliche Kraftzentren. In der Solidargemeinschaft muss man auf die Rücksicht nehmen.

Die physische Berührung hat bei den Gruppierungen eine große Bedeutung. Es ist wie die Versicherung von Sicherheit, ohne zu wissen. Es ist wie die Ansage Jesu, man solle sich nicht fürchten.

Auch Musik wird zum emotionalen Erlebnis, da sich die Rationalität nicht dazwischen schiebt. Sie kann tatsächlich stören: das ist wie bei Reiz und Reflex, ohne über Reflektion zu gehen.

Die elementaren Bedürfnisse gilt es daher, bei Jung und Alt zu befriedigen. Denn sonst ist das Überleben nicht gewährleistet. Es ist schon komisch, dass wir in gleicher Geschwindigkeit an Kraft und Fähigkeit in Kindheit und Jugend zunehmen wie wir sie schleichend im Alter wieder einbüßen. Tja, man beginnt das Leben mit der Windel und dem Füttern wie man es auch beschließen wird.

Anstand

Irrsinnig: ich wuchs mit einem inneren Widerstand auf, mich benehmen zu müssen. Diese Regeln kamen mir nicht nur blöd vor, sondern schienen mir gegen meine Natur zu sein. Das teile ich vermutlich mit jedem, der durch die Jugend gegangen ist: kaum besinnt man sich seiner selbst, wollen andere genau das verändern.

Und nun befinde ich mich genau auf der anderen Seite: ich liebe Menschen, die höflich sind, die Anstand haben, die noch alte Regeln des sozialen Umgangs demonstrieren, die im sozialen Umgang anerkennend lächeln usw.

Vielleicht ist es eine Frage des Alters: in einem Interview mit Charles Aznavour beklagte er, dass die Menschen so rüde geworden seien. Aznavour ist zwischenzeitlich 91 Jahre alt und dürfte einen gewissen Überblick haben.

Jüngst kam es zu einem – für mich – einmaligen Vorgang, als eine offizielle Pressemitteilung der französischen Regierung den US-Präsidenten nach dem G7-Gipfel daran erinnerte, dass es Regeln des Anstands gebe.

Und so stehe ich jetzt hier mit meiner Lebenslehre: Anstand ist schon angenehm. Denn ich muss mich nicht mehr über abweichendes Verhalten aufregen und in den Konflikt gehen. So reduziere ich die Spitzen meiner negativen Erregungen durch den Tag.

Bewusst bin ich mir, dass Anstand etwas Höfisches und Ständisches hat. Die Begriffe alleine entstammen dieser Zeit. Aber auch die materiellen Regeln selbst sind die der oberflächlichen Freundlichkeit (wenn auch Intrigen und sonstige Machenschaften dahinter versteckt wurden).

Was überhaupt ist schön an Anstand? Es formuliert klare Regeln, die in der entwickelten Welt weitgehend Konsens entfalten. Sie schließen Rechte der Persönlichkeit ein. Sie sind von Wertschätzung und Freundlichkeit begleitet, aber auch von Distanz und Respekt.

Es ist eine Verkörperung unserer Werte, was Anstand darstellt. Nehmen wir ein offensichtliches Beispiel: die Rechte der Frau an sich. Denn die existieren in einigen Kulturen so gut wie gar nicht. Sie sind untergeordnet, werden als Dienerinnen behandelt und genutzt. Westlich verstandener Anstand kehrt das um in ein Verhältnis von Schutz und Unterstützung.

Natürlich ist ein Idealzustand, dass wir uns darauf einigen können. Doch wieso sollte man solchen nicht hinterher jagen?

Egal

Rituale sind wichtiger als Analysen. Also debattiert die Öffentlichkeit über einen harten und klaren Schnitt, nachdem die deutsche Fußballnationalmannschaft in der WM frühzeitig gescheitert ist. Die Verantwortlichen beim DFB meinen, man müsse analysieren, woran es lag. Dieser Zwischenschritt zwischen Reiz und Reaktion ist richtig, wie es auch nach Wahlen immer wieder geäußert wird.

Doch was ergibt nun die vorzeitige Bilanz nach der Vorrunde? Die deutsche Mannschaft hat mit 68 Versuchen die neusten Torschüsse abgegeben; Spieler Gross war der mit den meisten Ballkontakten; und die Zweikampfwerte waren die dritt besten. Das sind erstklassige Werte, die nicht mit dem Abschneiden korrelieren. Zudem stellen bereits Reporter die Mannschaft für die EM 2020 auf: es sind aber nur 4 neue Spieler dabei.

Das öffentliche Ritual bestimmt sich nach dem Handeln der Medien – und somit der Erwartung der Öffentlichkeit. Es sind immer der Scharfrichter und der Verurteiler, die da sprechen. ‚Im Zweifelsfall für den Angeklagten‘ gilt nicht.

In Deutschland ist Scheitern weiter ein moralisches Verdikt statt eines Entwicklungsschrittes zur Einsicht. Das Funktionieren ist die Norm. Der Ingenieur und der Meister sind das Benchmark. Daher sind Minderleister und Kranke Versager.

Vielleicht ist übrigens das auch der eigentliche Türöffner für den Holocaust gewesen: ein zivilisiertes Volk verachtet und eliminiert, die es als Minderleister definiert. Dass es keine empirische Evidenz dafür gibt, ist gleichgültig. Nur auf den Mechanismus, diese immanente Logik von Lebenswert und Leistung kommt es an.

Scheitern ist Versagen. Eine Ehe zu beenden ist die Erwartung und das Versprechen nicht zu erfüllen. Scheitern ist irgendwie Verrat am Konsens, am Inbegriff des Deutschen, der Überzeugungsgemeinschaft Erfolg usw.

Und so vollzieht es sich nun mit ‚la Mannschaft‘: trotz guter Werte wird die Argumentation ins virtuelle Psychologische verschoben, um dem Topos des Scheiterns weiter anführen zu können. Die Spieler waren bräsig, uninspiriert, satt, überheblich usw. Die Einstellung war schuld!

Nicht-deutsche Beobachter können wohl ohne den Ballast analysieren und schlicht feststellen, dass das Problem war, Tore zu erzielen. So meinte es auch der ehemalige Weltklassespieler von Basten. Und ob sich die mit einer falschen Einstellung daran gemacht hat, ist wohl schwierig nachzuvollziehen.

Tja, die objektiven Tatsachen sind egal; aber die subjektiven Einstellungen wuchtig.

Einmal Flüchtling sein

Bei einem Urlaub auf einer griechischen Insel passierte es: ich wurde für kurze Zeit Flüchtling!

Was war vorgefallen? Nach 1 Uhr in der Nacht erklang das Warnsignal der Hotelanlage; kurze Zeit später forderte uns eine Rezeptionistin zur Einstellung in der Lobby auf, wo alle Gäste zusammenkommen sollten. Von da aus sahen und fühlten wir, wie eine brennende Wand durch den Wind angefacht auf uns zukam. Von da aus ging es weiter zum Pool, schließlich zur Meeresbucht, wo ein kleiner Anleger war. Das Feuer hatte sich zwischenzeitlich vor unseren Augen ausgebreitet und schlug nun offene Flammen in den Himmel.

Ein Boot nahm uns rund 60 Personen trotz bewegten Seegangs auf und fuhr und zum nächst gelegenen Hafen. Das hätte nicht mehr über die einzige Straße funktioniert, die nämlich mitten durch das brennende Waldstück verlief.

Wir Flüchtlinge für eine Nacht wurden zu einem Café gebeten, das für uns wieder öffnete. Es gab freue Getränken, später auch noch Sandwiches. Schließlich verteilte jemand Decken.

Natürlich waren wir müde. Wir bangten um unsere zurückgelassenen Koffer und den Urlaub, auf den wir uns gefreut hatten. Wir hatten keine Ahnung, ob das Feuer das Hotel erfassen würde. Nach 5 Stunden Warten trafen die Löschflugzeuge vom griechischen Festland ein.

Der Zustand der Machtlosigkeit ist seltsam, vollkommen ungewohnt. Die Sorge um die eigenen Klamotten in der Fremde ist gegenwärtig. Und die Erleichterung darum, im Hier und Jetzt zu sein, ist groß.

Und nun stelle ich mir vor, dass ‚man‘ sich eben nicht um uns kümmert, sondern gar wieder loswerden will – welch ein unangenehmes Gefühl! Schließlich hofft man auf Menschlichkeit, also eine Unterstützung in Not. Denn es ist das, was uns Menschen ausmacht – und von Tieren unterscheidet. Das alles wird plötzlich – in der Not – umgekehrt. Man ist weder darauf vorbereitet noch lässt es sich verstehen.

Die Situation ist mir eine Lehre – verstehe ich doch so besser, was wir Geflüchteten antun.

Leben in der Diktatur

Insgesamt 3,3 Mrd Menschen leben in autokratischen Systemen, zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. https://www.google.de/amp/s/amp.focus.de/politik/ausland/bertelsmann-studie-3-3-milliarden-menschen-weltweit-leben-in-autokratien_id_8652088.html oder https://www.google.de/amp/s/amp.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article174789275/Studie-3-3-Milliarden-Menschen-leben-in-Autokratien.html

Viele von Ihnen werden das gar nicht merken. Einige wissen gar nicht, dass es anders geht – und wie das aussehen würde. Denn sie kennen keine andere Realität als die ihrige, können sich auch keine vorstellen.

Wir Westeuropäer finden das alles schrecklich. Denn unsere Geschichte zeigt uns, dass autokratische Systeme in Genozid und Krieg münden können. Und deswegen fürchten wir uns davor, dass diese weltweite Bewegung negative Wirkung entfaltet.

Gleichzeitig aber sind wir blind für die Kritik am Modell des Westens. Wir kennen die Kritik der anderen nicht, kennen auch deren Realität nicht. Wir sind also ebenso recht limitiert in dem, wie wir zur Überzeugung unserer politischen Idealvorstellung kommen.

Und tatsächlich muss man die Kritik an der Kälte und dem Druck unserer Gesellschaftsform ernst nehmen. Gerade Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund sehen dies in besonderer Schärfe. Ein Beispiel: die älteren Menschen leben oft vereinsamt und deprimiert in einer relativen sozialen Isolation. In traditionellen Strukturen, in religiös dominierten Gruppen sowie in kollektivistischen Gesellschaftsidealen ist dies das Gegenteil. Gastfreundschaft und Solidarität mit den Armen sind in vielen ‚weniger‘ entwickelten Gesellschaften viel ausgeprägter. Migranten sind schockiert, wie der westen seine Senioren vernachlässigt.

Individualität ist ein hohes Gut, so glauben wir. Jeder kann ausleben, was er will, solange er niemandem schadet. Doch damit wächst auch der Druck, Meister seines eigenen Schicksals zu werden. Die Erfolgsorientierung erdrückt viele Menschen oder lässt sie unzufrieden werden, wenn sie gesellschaftliche Erfolgsvorstellungen nicht erfüllen können. Das ist der hohe Preis der Freiheit, den eben nicht alle zahlen können.

Autokratische Politiksysteme können für die Mehrheit seiner Mitglieder ein berechenbares und stabiles Ganzes sein. Vor allem wenn fürsorgende Aspekte dazukommen oder der Wohlstand gemehrt wird. Das hat sich bei der Entwicklung des chinesischen Systems genauso vollzogen wie in Erdogans Türkei oder dem derzeitigen Polen. Das Leben in der Diktatur kann eben auch von Vorteil sein, wenn man nicht dem Virus des freiheitlichen Lebens verfallen ist.

Doch wie soll man nun bewerten, dass Autokratien, und Diktatoren – die auch schon Entwicklungs- oder autoritäre Demokratien genannt werden – existieren? Es ist eine Chance, dem kognitiven Halo-Effekt zu entfliehen – und zu für das soziale Miteinander zu üben: Denn die Menschen sind nicht alle Opfer oder Täter, aber vielleicht auch keine Mitläufer. Sie bewegen sich jenseits unserer eigenen Erklärungsmuster, die eben auch totalitär sind, weil sie keine Alternativen zulassen. Es wäre übergriffig und eine Anmaßung, das zu beurteilen, was man nur als Überschrift oder als vermitteltes Bild kennt. Ebenso wäre es falsch, nicht offen für die positiven Seiten zu sein. Immer sollte man sich fragen: was ist denn der Vorteil dessen, was wir negativ bewerten?

Leichtigkeit

Im Urlaub betrat ich ein Kloster auf Skopelos, einer griechischen Insel in der nördlichen Ägäis. Wer es auf die Insel und dann über Stock und Stein in das Kloster geschafft hat, der würde durch ein museales 200 qkm Gelände mit feinster Choreographie entlohnt. Denn alles war bezaubernd wie im einem üppigen und opulenten Photoband.

Im Kloster schepperte aus einem Gebetsraum, da sich dort sechs Dänen umschauten und körperlich wendeten. Der Aufpasser kam vorbei gelaufen und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er schmunzelte und war wohl auch ein wenig belustigt über deren Ungeschicklichkeit.

Vor dem Kloster zückte eine des Sextetts ihr Handy, um ein kleines Video zu drehen. Es sollte sich aus kleinen Musikstücken des Filmes Mamma mia zusammensetzen. Wir kamen in einem Dialog und nahmen nach rund 5 Minuten an den Dreharbeiten teil.

Da standen wir also, und feixten hilflos zu fraglos großer Popmusik. Die Dänin notierte die Netz-Adresse, unter der wir später das Video anschauen können sollten.

Derlei erfährt man nur, wenn man offen für diese Situation ist, teilhat oder gar initiiert. Dann erst nimmt man teil am Theaterstück des Alltäglichen. Natürlich hilft Humor, auch Neugierde; aber auch die Gleichgültigkeit, sich lächerlich zu machen. Gerade die Schwere, seinen Mann oder seine Frau zu spielen, macht uns jegliche Situation zu einer Aufgabe, bei man aufpassen muss, wie man dasteht. Dann muss man ständig darauf achten, wie ein anderer einen selbst beobachten würde. Das ist eine echte Bürde, alles andere als Leichtigkeit.

Man darf Leichtigkeit nicht verwechseln mit dem Charakter eines Luftikus, der von einer Phantasiewolke zur nächsten hüpft. Die Leichtigkeit ist auch eine Grundhaltung, aber sie ist eben auch von Bodenhaftung geprägt. Leichtigkeit alleine heißt ja schon, nicht durch die Luft gewirbelt zu werden, ohne eine Einfluss darauf zu haben.

Leichtigkeit kann man üben. Zu Leichtigkeit kann man gelangen, wenn man die Ursache für Erschwernisse kennt.

Party Patriotismus

Das Sommermärchen von 2006 wurde ganz plötzlich zu einem emotionalen Ereignis: denn alle internationalen Fußballmeisterschaften zuvor wurden begleitet wie der Stammtisch: man nörgelte herum; wusste alles besser; und war dennoch stolz auf das Ergebnis.

Erstmals explodierte die Anzahl der nationalen Symbolik. Dies war zuvor ein Tabubezirk – nun aber die normale Durchsetzung des herrschenden Gefühls. Wie auch immer: Deutschlandfahnen überall. Es bürgerte sich ‚Schland’ ein und ‚la Mannschaft’.

Kommentatoren führten das rasch darauf zurück, dass die Normalität des Nationalen endlich wieder nach Deutschland zurückkehre. Endlich konnte man wieder auf einen aufgeklärten Patriotismus hoffen, der sich auf den Konsens der gemeinsamen liberalen Werte begründen würde und diesem so etwas wie einem ändern Nationalgefühl unterordnen würde.

Das könnte sein. Denn die letzten zehn Jahre beschreiben die geradezu erschreckende Wende hin zum normalen Nationalismus. Von Patriotismus ist seit der Flüchtlingskrise 2015 nichts übrig geblieben. Der hässliche Deutsche kehrt zurück, hält seit der Kölner Silvesternacht wieder die Kontrolle.

Zwischenzeitlich gibt es gruselige Entwicklungen, die mit Ortsnamen bezeichnet werden können, wie Dresden (Pegida), Cottbus (Flüchtlingsstopp) oder Kandel (Demos). Hoyerswerda und Solingen könnte man als Ausrutscher verstehen; doch jetzt reift die Gewissheit, dass der Patriotismus dem Fremdenhass gewichen ist.

Unsere Muster zur Bewertung aber sind wohl immer konstant und vorhanden gewesen. Denn mit dem Bezug zur eigenen Gruppe verlieren die anderen nicht nur an Wert, sondern können auch zu veritablen Gegnern erwachsen. Das zeigt sich an der Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört. Ich frage mich eher, ab Sachsen-Anhalt zu Deutschland gehört. Die deutsche Sprache ist es nicht alleine. Sonst könnte auch Österreich oder ein Teil der Schweiz zu Deutschland gehören – oder alle Zweitsprachler auf der Welt.

Ich mag diesen Party Patriotismus: er ist fröhlich und auch überbordend. Wenn die deutsche Mannschaft verliert, bleibt man sitzen und gibt Jogi Löw lächelnd Tipps. Man verkleidet sich wie an Karneval und kommt mit dem Nachbarn ins Gespräch. Was sehr kennzeichnend für diese Welle war, lässt sich an der Integration der zweiten Hälfte der Bevölkerung ablesen, d.h. der Frauen. Denn sie sind dabei – nicht wie früher zurückgezogen, wenn die Männer Fußball schauen.

Der Party Patriotismus ist gar dem Verfassungspatriotismus vorzuziehen, weil der wohl kaum erreichbar ist. Zu viel an Reflektion wird der Mehrheit der Bevölkerung abverlangt. Es reicht doch, wenn man einfach nur anständig ist.

Schönheit

Das Max-Plank-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt betreibt Grundlagenforschung zur Schönheit. Es darf ein völlig neues Wissensgebiet grundlegen und entfalten.

Ästhetik überschattet unsere Alltagsentscheidungen: denn man entscheidet für das Schöne, wie den schneidigen Wagen, den Wein mit dem schöneren Etikett, die hübsche Frau, das angemachte Essen. Man kann sich kaum dem Zwang entziehen, das Schöne an seine Seite zu ziehen.

Ist uns ein gemeinsamer Sinn für Schönheit gegeben? Oder ist das gelernt? Oder genetisch determiniert?

Arabische Musik oder die Peking Oper sind für europäische Ohren kaum zu ertragen. Ist der Anhänger von Picasso der eines Turner? Kann es so etwas geben wie eine Universalgrammatik der Beurteilung von Schönheit?

Die Bandbreite dessen, was als schön gelten kann, ist enorm: Sie reicht vom Gothic Style über alte Körper bis hin zu David Hamiltons Flair.

Schönheit sei subjektiv, wie eben der Geschmack grundsätzlich. Komisch ist, dass süßer Geschmack aber meist gleich wahrgenommen wird, vielleicht nur unterschiedlich bewertet.

Melodie ist Schönheit, nicht aber Rhythmus, sagt Aznavour. Das kann man aber auch ganz anders sehen.

Ein Photograph hat ein Buch über Brandenburg publiziert, in dem er die hässlichsten Szenerien eingefangen hat. Offensichtlich ist dem Menschen klar, was das Gegenteil von schön ist, nämlich hässlich. Doch auch hier gibt es Gegenbeispiele. Wie Industriephotographie, die Architektur des Brutalismus oder anderes.

Eine Grundsatzfrage lautet, wie man schöne Dinge ‚nutzt‘. Oder sind Sie gänzlich von einem Nutzen befreit, da man die sonst entweihen würde.

Dieser Tage hört und liest man vom 150. Geburtstag von Stefan George. Eigentlich kennt man nur sein Portrait, das wie das einer alten Dame aussieht, „die ihre Schokoladenseite zeigt.“ Sein Dichterkult war ein Ausschlag der Geschichte: denn er wollte einen Kult der Schönheit schaffen; also so etwas wie eine Religion. Wieso sich nicht die Schönheit anbieten?

Ich weiß nicht, ob Schönheit auch ein therapeutisches Konzept sein kann. Die Krisenhaftes erlebt haben, werden mit Malerei oder Eurhythmie wieder stabilisiert.

Es gibt diesen schiefen Kopf, den man anlegt, wenn man etwas schön findet. Haben Sie das jemals beobachtet? Die Hausfrau, die die Tischdecke glatt streicht; der Maler, der einem Strich zieht; der Handwerker, der die Bearbeitung eines Materials abschließt?

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters, oder „de gustibus non est disputandum“ usw. sind die gängigen Meinungen. Und doch diskutiert, streitet man gar darüber, ob etwas schön ist. Solange wir niemals erklären können, was Schönheit ist, bleibt eine rationale Auseinandersetzung darüber sinnlos. Denn eine Argumentation kann es nicht geben; Beweise gibt es auch keine; eine Theorie fehlt – es gibt also kein wissenschaftliches Rahmenwerk, an dem sich orientieren ließe. Also lässt man es besser!

Spaß am Denken

Kürzlich las ich in einem Interview mit Edgar Selge, dass er mit der Tochter von Martin Walser 40 Jahre verheiratet sei. Er wurde gefragt, wie er den Kontakt empfinde – und formulierte dann folgenden eindrücklichen Satz: „er verfügt über eine ungeheure Attraktivität des Denkens und Fühlens, und man muss aufpassen, dass man nicht selbst ganz verschwindet.“

Ich kenne eine Reihe von Menschen, die es sich in ihrer beruflichen Position bequem gemacht haben – und ihren Werdegang ‚aus‘sitzen. Sie haben alles andere als Lust an gedanklichen Herausforderungen – mit der Ausnahme ihres Hobbies, dessen Fixierung sie eben auch ausmacht. Sie interessiert nichts weiter, winken mit den Armen ab, wenden sich körperlich weg und kommentieren genervt irgendwelche Diskussionen oder schweigen über die ein oder andere Problematik.

Körperlich entspricht das dem Menschen, der mit zunehmender Alterung wahrscheinlich schon in Erwartung von Gebrechlichkeit körperliche Langsamkeit zelebriert: sich ächzend in einen Stuhl fallen lässt; sich demonstrativ erholt; seine Erholung mit einem Ächzen verstärkt.

Dagegen gibt es auch Analysten, die nichts anderes tun als wahllose Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Das ist gedankliches Spielen. Ich habe die Ahnung, dass dies zum Menschsein gehört. Denn wir lieben die Eroberung, die Beherrschung, die Zielerreichung, das Meistern kaum weniger als das Glück an sich.

Geschichten sind so eine Herausforderung light: denn wir lassen uns durch einen Komplex führen und gelangen so zu einem Ergebnis, das einen Weg mit einem Resultat abschließt. Es ist wie ein Krimi oder ein Roman. Auch Witze sind wie kleine Geschichten: denn sie enden mit einer Überraschung. Schon als Kinder lieben wir Menschen Geschichten. Sie führen uns ins Leben ein.

Die geistige Herausforderung ist uns Menschen immanent. Aber auch Tiere suchen sie. Das hat wohl auch damit zu tun, seine Umwelt kennenzulernen und sie berechenbar zu machen. Und je mehr man an Details auftut, desto sicherer wird sie.

Es gibt Menschen, die sich von einem Wissensgebiet zum anderen fortbewegen. Ein Topos ist derjenige, der eine Sprache lernt und sich dann der nächsten zuwendet. Ich kenne einen Spanier, der das tut. Er ist nun 60 Jahre alt und wendet sich den Dingen zu, die er immer schon einmal wissen wollte: er hat sich nun der Relativitätstheorie gewidmet. Andere studieren ohne ökonomische Notwendigkeit ein zweites Mal – viele empfinden das als absurd, ist doch kein wirtschaftlicher Zwang damit verbunden, dafür aber der Einsatz von Ressourcen ohne Mehrwert.

Ich frage mich, welche psychologische Grundstimmung solchen Typen immanent ist: sind sie glücklich oder getrieben? Sind sie geistige Spieler? Ist Ihr sonstiges Handeln dann auch von Experimenten begleitet – oder sind sie dann ‚norm‘al?

Darf man solche Menschen unruhige Geister nennen? Können die jemals glücklich sein? Kann es ihnen jemals langweilig werden?

Verallgemeinern lässt sich das kaum. Denn eine Befriedigung erlangt man wohl nur, wenn etwas verstanden und komplettiert ist. Schlimmer noch bei Künstlern, die Zeit ihres Lebens nach einem Weg suchen, sowohl materiell als auch in ihrem Schaffen. Wie viele Biographien zeigen die zerrissenen Seelen der großen Namen!?

Belehrung

Es gibt diese Menschen, die ihre Mitmenschen ständig belehren. Man begegnet ihnen immer wieder. Doch gibt es auch Kulturen, in denen sich diese Charakteristika massieren, wie beispielsweise untern Lehrern oder Juristen. In den neuen Bundesländern trifft man vor allem auf dem Land diese Menschen.
Es könnte somit auch als Berufskrankheit verstanden werden: denn Lehrer und Juristen ordnen das Leben von Mitmenschen. Das ist ihr Job. Und sie können dann auch nicht anders in ihrem Privatleben.
Was nur treibt sie? Es ist ein Gefühl und eine schöne Vorstellung, dass Regel und Normen wichtiger als irgendwelche beliebigen Wünsche von Einzelpersonen sind. Und gleichsam herrscht die Überzeugung, die Regeln besser als andere zu kennen.
Und diese Belehrung versetzt den anderen dann in die Rolle des Schülers, des Untergebenen, des Zuhörers, des Befehlempfängers. Auf jeden Fall geht damit ein Gefühl der zwangsweisen Unterjochung einher. Da dies aufgezwungen und nicht frei gewählt ist, provoziert diese Fremdbestimmung Widerstand und Aufbegehren.
Es kann sich dabei um kleine Äußerungen, aber auch echte Anwendungen handeln. Es fängt an mit der Mikrogestik im Gesicht des anderen, wenn beispielsweise die Augenlieder nach unten fallen und suggerieren, dass man doch alles schon gehört habe. Oder aber das Gegenüber sitzt sich in einer Pose des lockeren Ausruhens, um zu zeigen, dass wiederum sein Gegenüber keinen Stil beanspruchen könnte.
Viele verbale Äußerungen sind unglücklich und fahrlässig, können aber auch intendiert oder gar ehrlich gemeint sein. Um ein Beispiel zu nennen, nannte mich ein alter Bekannter einen Salonbetriebsrat, der eben nur ein bisschen Opposition übe. Er suggerierte, ich täte dies nur als Aushängeschild sozialen Handelns, ohne für weitere Opfer bereit zu sein und schlichtweg zu wenig Mut zu haben.
Dann gibt es auch diese Belehrer unter den Mitmenschen, die einem zu einem bestimmten Verhalten drängen, das von ihnen selbst diktiert wird. Das kann einen überall erwischen. Ich erlebe es sehr häufig bei Ausflügen nach Brandenburg. Ich weiß dann nicht zu entschieden, ob das die Rache am vermeintlich siegreichen Wessi ist oder tatsächlich eine eingeübte Verhaltensweise, die zu dem sozialisiert wurde. Sie ist natürlich auch Ausdruck einer Gesellschaft, die ein oben und unten, ein Befehlen und Gehorchen kannte.
Der Supermarkt, den ich meist zum Einkaufen aufsuche, hat eine Frau an der These des Bäckers beschäftigt, die ständig kleinere Anweisungen gibt: bitte stellen Sie sich dorthin; nun warten Sie ein wenig mit der Bestellung; Und tatsächlich habe ich schon erlebt, wie ein Berliner sich auflehnte und meinte, er sei hier der Kunde. Die herbei geeilte Vorgesetzte konnte der Frau nicht Herr werden.
Diese Menschen kann man nur meiden, um keine schlechte Laune zu bekommen. Oder aber man rafft sich auf, sich dem Verhaltensmuster entgegenzustellen. Das ist dann vermutlich so wie eine Gewissensprüfung.