Irrsinnig: ich wuchs mit einem inneren Widerstand auf, mich benehmen zu müssen. Diese Regeln kamen mir nicht nur blöd vor, sondern schienen mir gegen meine Natur zu sein. Das teile ich vermutlich mit jedem, der durch die Jugend gegangen ist: kaum besinnt man sich seiner selbst, wollen andere genau das verändern.
Und nun befinde ich mich genau auf der anderen Seite: ich liebe Menschen, die höflich sind, die Anstand haben, die noch alte Regeln des sozialen Umgangs demonstrieren, die im sozialen Umgang anerkennend lächeln usw.
Vielleicht ist es eine Frage des Alters: in einem Interview mit Charles Aznavour beklagte er, dass die Menschen so rüde geworden seien. Aznavour ist zwischenzeitlich 91 Jahre alt und dürfte einen gewissen Überblick haben.
Jüngst kam es zu einem – für mich – einmaligen Vorgang, als eine offizielle Pressemitteilung der französischen Regierung den US-Präsidenten nach dem G7-Gipfel daran erinnerte, dass es Regeln des Anstands gebe.
Und so stehe ich jetzt hier mit meiner Lebenslehre: Anstand ist schon angenehm. Denn ich muss mich nicht mehr über abweichendes Verhalten aufregen und in den Konflikt gehen. So reduziere ich die Spitzen meiner negativen Erregungen durch den Tag.
Bewusst bin ich mir, dass Anstand etwas Höfisches und Ständisches hat. Die Begriffe alleine entstammen dieser Zeit. Aber auch die materiellen Regeln selbst sind die der oberflächlichen Freundlichkeit (wenn auch Intrigen und sonstige Machenschaften dahinter versteckt wurden).
Was überhaupt ist schön an Anstand? Es formuliert klare Regeln, die in der entwickelten Welt weitgehend Konsens entfalten. Sie schließen Rechte der Persönlichkeit ein. Sie sind von Wertschätzung und Freundlichkeit begleitet, aber auch von Distanz und Respekt.
Es ist eine Verkörperung unserer Werte, was Anstand darstellt. Nehmen wir ein offensichtliches Beispiel: die Rechte der Frau an sich. Denn die existieren in einigen Kulturen so gut wie gar nicht. Sie sind untergeordnet, werden als Dienerinnen behandelt und genutzt. Westlich verstandener Anstand kehrt das um in ein Verhältnis von Schutz und Unterstützung.
Natürlich ist ein Idealzustand, dass wir uns darauf einigen können. Doch wieso sollte man solchen nicht hinterher jagen?