Insgesamt 3,3 Mrd Menschen leben in autokratischen Systemen, zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. https://www.google.de/amp/s/amp.focus.de/politik/ausland/bertelsmann-studie-3-3-milliarden-menschen-weltweit-leben-in-autokratien_id_8652088.html oder https://www.google.de/amp/s/amp.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article174789275/Studie-3-3-Milliarden-Menschen-leben-in-Autokratien.html
Viele von Ihnen werden das gar nicht merken. Einige wissen gar nicht, dass es anders geht – und wie das aussehen würde. Denn sie kennen keine andere Realität als die ihrige, können sich auch keine vorstellen.
Wir Westeuropäer finden das alles schrecklich. Denn unsere Geschichte zeigt uns, dass autokratische Systeme in Genozid und Krieg münden können. Und deswegen fürchten wir uns davor, dass diese weltweite Bewegung negative Wirkung entfaltet.
Gleichzeitig aber sind wir blind für die Kritik am Modell des Westens. Wir kennen die Kritik der anderen nicht, kennen auch deren Realität nicht. Wir sind also ebenso recht limitiert in dem, wie wir zur Überzeugung unserer politischen Idealvorstellung kommen.
Und tatsächlich muss man die Kritik an der Kälte und dem Druck unserer Gesellschaftsform ernst nehmen. Gerade Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund sehen dies in besonderer Schärfe. Ein Beispiel: die älteren Menschen leben oft vereinsamt und deprimiert in einer relativen sozialen Isolation. In traditionellen Strukturen, in religiös dominierten Gruppen sowie in kollektivistischen Gesellschaftsidealen ist dies das Gegenteil. Gastfreundschaft und Solidarität mit den Armen sind in vielen ‚weniger‘ entwickelten Gesellschaften viel ausgeprägter. Migranten sind schockiert, wie der westen seine Senioren vernachlässigt.
Individualität ist ein hohes Gut, so glauben wir. Jeder kann ausleben, was er will, solange er niemandem schadet. Doch damit wächst auch der Druck, Meister seines eigenen Schicksals zu werden. Die Erfolgsorientierung erdrückt viele Menschen oder lässt sie unzufrieden werden, wenn sie gesellschaftliche Erfolgsvorstellungen nicht erfüllen können. Das ist der hohe Preis der Freiheit, den eben nicht alle zahlen können.
Autokratische Politiksysteme können für die Mehrheit seiner Mitglieder ein berechenbares und stabiles Ganzes sein. Vor allem wenn fürsorgende Aspekte dazukommen oder der Wohlstand gemehrt wird. Das hat sich bei der Entwicklung des chinesischen Systems genauso vollzogen wie in Erdogans Türkei oder dem derzeitigen Polen. Das Leben in der Diktatur kann eben auch von Vorteil sein, wenn man nicht dem Virus des freiheitlichen Lebens verfallen ist.
Doch wie soll man nun bewerten, dass Autokratien, und Diktatoren – die auch schon Entwicklungs- oder autoritäre Demokratien genannt werden – existieren? Es ist eine Chance, dem kognitiven Halo-Effekt zu entfliehen – und zu für das soziale Miteinander zu üben: Denn die Menschen sind nicht alle Opfer oder Täter, aber vielleicht auch keine Mitläufer. Sie bewegen sich jenseits unserer eigenen Erklärungsmuster, die eben auch totalitär sind, weil sie keine Alternativen zulassen. Es wäre übergriffig und eine Anmaßung, das zu beurteilen, was man nur als Überschrift oder als vermitteltes Bild kennt. Ebenso wäre es falsch, nicht offen für die positiven Seiten zu sein. Immer sollte man sich fragen: was ist denn der Vorteil dessen, was wir negativ bewerten?