Seinen Vorteil suchen

In unserer protestantisch geprägten Kultur ist es verpönt, sich ‚auf Kosten anderer‘ zu bereichern. Diese Haltung weist aber auf ein gesamt-christliches Gebot genauso hin wie auf Wertekonzeptionen vieler anderer Religionen.

Religionen haben einen entscheidenden Schritt zum modernen humanitären Gemeinwesen gemeistert: Gerechtigkeit ist Gleichgewicht der Mittel. Das bedeutet auch Fairness.

Viele konsequente Folgerungen sind daraus erwachsen: Frauen schlägt man nicht; Behinderte diskriminiert man nicht; Kinder sind die ersten, die bei Notfällen gerettet werden; usw.

Doch ist da auch menschlicher Ehrgeiz, die Lust am Wettbewerb, die Hoffnung auf soziale Anerkennung durch gesellschaftlichen Status und andere grundsätzliche Antriebe. Die provozieren den Menschen, sich auch gegen Mitmenschen beim Erlangen persönlicher Ziele und Wünsche durchzusetzen.

Die Versöhnung der beiden Erfordernisse ist so etwas wie die soziale Marktwirtschaft.

Und doch gibt es immer wieder die Grenze, die definiert sein will. Denn nicht immer taugt das eine oder das andere als Begründung, wie man sich selbst verhält.

Wie andere schaue ich mit Verachtung auf den sozialen Schmarotzer. Er oder sie ist der- oder diejenige, die mit heimlichen Mitteln ‚unlauter‘ für eigene Vorteile kämpft, die bei anderen zu Nachteilen führt. Sprichwörtlich ist der, der immer seinen Vorteil sucht. Er ist bei allem, was irgendwie geteilt wird, getrieben, sich einen großen Teil zu schnappen.

Nun muss man dieses Verhalten erst einmal verstehen. Es stellt sich dann die Frage, ob solches Handeln überhaupt freiwillig gewählt ist.

Ich erinnere mich an einen Kommilitonen, der bei einer Exkursion einmal gestand, dass er von Kindheit zum Futterneid getrieben worden sei: er sei der jüngste von vier Brüdern gewesen und immer als letzter versorgt worden. Das habe aus ihm einen eigensüchtigen Menschen – vor allem zu Tisch – gemacht. Vermutlich würde er gar zugreifen, auch wenn er keinen Hunger hätte.

Ich meine aber eher denjenigen, der sein asoziales Verhalten mit dem allgemeinem Fehlverhalten begründet oder besser entschuldigt: das macht doch jeder; sonst kommt man zu nichts; man muss nicht päpstlicher als der Papst sein u.a.

Es kann soweit gehen, dass man Häme über den ausschüttet, der selbst nicht in der Lage ist, gleichsam zu handeln: „ist der bescheuert, dass er da nicht zugreift! Dann ist er auch selbst an seiner Lage schuld.“

Es gibt diesen schleichenden Übergang zum Widerling, zum ranzigen Menschen, der stolz auf die Durchsetzung persönlicher Vorteile ist. Er zieht daraus Selbstvertrauen und Stolz. Schließlich ist er durch und durch darauf programmiert.

Nun ließe sich einwenden, anthropologisch sei der Mensch auf Überleben gepolt. Selbst Müttern wird nachgewiesen, im Notfall ihre Kinder zurückzulassen. Das zeigen Studien von Flugzeugkatastrophen. Solch’ ein Trieb könnte richtungsweisend sein.

Und doch: Gewinnler und Schmarotzer sind und bleiben jenseits dieser Grenze, die für ein solidarisches Zusammenleben erträglich ist. Dies ist nicht verhandelbar.

Immer wieder aushandeln

Eine Kollegin zickte mich einst an: „tja, ich verstehe mich eben mit allen Menschen.“ Ihre Message war klar wie die Melodie des Satzes: ich bin gut; denn ich kann mit allen Menschen gleichermaßen gewinnende Kontakte haben; ich demgegenüber bin ihr kein Vorbild.

Diese Ausschließlichkeit ist natürlich unlogisch. Schlimmer noch ist das falsche Selbstbewusstsein, immer Recht zu haben. Und schwierig zu akzeptieren ist, dass erwachsene Menschen davon ausgehen, keine Fehler zu machen und sich automatisch richtig auf das Gegenüber einzustellen.

Was mich jedoch aufbringt, ist die Annahme, jeder eigene kommunikative Standard gefiele jedem Mitmenschen. Vielleicht kann man das intuitiv im eigenen Kulturkreis und Milieu. Und dennoch ist es unwahrscheinlich, immer das zu treffen, was dem anderen gefällt.

Denn dasselbe Verhalten fruchtet bei dem einen, erschreckt aber den anderen. Schon alleine der Duktus macht das: flapsig, humorig, beiläufig, eingehend, verbrüdernd …

Ich kann derselben Person gegenüber eine Aussage des identischen Inhalts in unterschiedlichen Situationen machen: und dennoch kommt es jeweils anders an.

Hüte Dich also vor dem Standard, besser der Stange: die nämlich wird den unterschiedlichsten Kleidergrößen nicht gerecht. Höflichkeit ist immerhin ein Mittel, das den anderen nicht beleidigt. Aber das denkt man nur: denn der coole Typ ist davon angewidert.

Was also bei dem einen als gut ist, ist es bei dem anderen nicht. Auch Kontexte unterscheiden sich: man kann sich in einer friedlichen Gruppe über unfreundliche Worte echauffieren. In einer Gang wird das nicht ankommen: dort würde nur die ruppige Sprache verstanden werden. Also auch die eigenen Standards werden so relativiert.

Tja, wird es nichts mit dem Zurücklehnen und der Komfortzone: „endlich habe ich es geschafft, einen Weg zu finden, der mich durch das Leben führt!“ Nein, das Verständnis mit dem anderen bleibt immer ein Abenteuer. Man muss sich die Lust darauf bewahren.

Kennen Sie Stock Bilder?

Was nur macht die Welt der Werbung aus uns? Wer kreiert überhaupt diese Bilder? Und was wird eigentlich transportiert?

Es sind die schönen, attraktiven und somit beliebten Menschen, denen wir nacheifern. Wer will nicht aussehen wie ein Titelbild auf einer Zeitschrift? Oder Verehrung erfahren wie eine Stilikone? Oder

Es gibt eine Werbewelt, die unsere Wunschvorstellungen von perfekten Körpern und Psychen formt. Im Alltag kommt man kaum an ihnen vorbei. Dahinter steht die Pawlow‘sche Absicht, ein Produkt mit der sozialen Perfektion zu verbinden: wann immer man an ein Produkt denkt, dann fällt einem auch das Wohlsein ein.

Nun sind wir fast nur noch von solchen ‚Illusionen‘ umgeben: wo man auch hinblickt, dort ist Perfektion. Für Nebenwirkungen fragen Sie den Arzt oder Apotheker: nehmen Sie Mittel, tun Sie etwas.

Denn der Betrachter wird ständig damit gespiegelt, wie toll das Leben sein könnte. Statt eines motivierenden Mehrwerts sehe ich eher die Gefahr einer de-motivierenden Wirkung. Denn immer wird man daran erinnert, dass das eigene Leben entfernt ist von diesem Idealzustand.

Wer kennt nicht den Neid während seiner Kindheit und Jugend, als man sich nach der Macht der Erwachsenen sehnte? Das war das Ideal, auf das man sich zubewegte. Doch je weniger es erreichbar war, desto frustrierter konnte man darüber werden.

Andererseits kann das auch ein Ansporn sein. Das Ideal auf den Zeitschriften kann den Betrachter anspornen, Einsatz zu entwickeln, um so zu werden. Das kann dazu führen, Diät zu halten, aber auch in die Magersucht abzugleiten.

Abgesehen davon jedoch ist das Ideal bearbeitet! Es ist nicht real. Denn die Schönheiten auf den Titelblättern sind manipuliert. Sie sind wie die Märchen, die uns im emotionalen Delir fangen: alles ist schön und gut.

Und auch die ständig lächelnden Gesichter sind realitätsfremd: der Mensch lacht nicht unentwegt. Er ist sich nicht immer gesund. Er ist, wie er ist.

Die Alternativen sind jedoch auch nicht besser, also das Gegenteil oder die Normalität. Wie soll man also mit Menschen für Produkte und Dienstleistungen werben? Vermutlich sollte man einfach das reale Spektrum abbilden:-)

Kirchen gegen Angst und Verzweiflung

Im mediterranen Raum sieht man kleine Kirchen verstreut über die Landschaft. Als Tourist ist man entzückt über die vielen kleinen hübschen Gebäude, Bildstöcke oder sonstigen Kleinode. Mehr an Spekulation ist meist nicht drin. Man macht ein Photo – und wendet sich ab.

Nun könnte man mit sich selbst in den Wettbewerb treten, um sich auszumalen, wer die wohl gebaut hat und wie sie genutzt wurden – wenn sie überhaupt genutzt wurden. Wir sprechen hier von einer potentiellen Periode von vielleicht 500 Jahren. So lange übersäte die Kirche Land und Gesellschaft mit Örtlichkeiten des Glaubens.

Wir Christen heute kennen den alltäglichen Dienst an Gott nicht mehr, so wie sie und  die Muslime mit ihren fünf Verneigungen mitmachen. Soweit wir überhaupt noch dieser Tradition folgen, dann an hohen christlichen Feiertagen oder Wegmarken des Lebens, wie Hochzeit und Tod.

An diesen kleinen Stätten des Glaubens jedoch kam man mit Gott und sich ins Gespräch – zu welchen Anlässen wohl? Ging der Bauer zwischen zwei Arbeitsschritte dorthin? War sein Ritual, vor und nach der täglichen Routine Gott um Unterstützung zu bitten? Flüchtete er dorthin, um sich bei Gewitter vermeintlichen Schutz zu holen? Oder …

Man muss sich jenseits dieser unschönen bekannten Begrifflichkeit des ritualisierten Christentums fragen, ob diese Örtlichkeiten nicht immer auch Orte der Zuflucht, des Friedenspflicht, des Mut Machens und des Selbstgesprächs waren. Von einem Gottes’dienst‘ kann wohl hier keine Rede sein.

Die christlichen Kernbotschaften machen das wahrscheinlich: fürchte Dich nicht, denn Gott ist bei Dir; alle Menschen sind – vor Gott und der Natur – gleich; selbst beim Tod wartet das Paradies auf Dich. Es klingt alles danach, wie die Mutter das verängstigte Kind tröstet. Der Glaube ist sich einzureden, dass alles gut wird – jenseits der Härten des menschlichen Lebens.

Statt die kleinen Glaubensorte ‚putzig‘ und ‚hübsch‘ zu finden, sollten wir bei ihnen geistig einkehren und uns kurz besinnen. Das Bedürfnis dafür hat sich nicht geändert.

Kommt Schuft von schuften?

In meinem diversen Versuchen, Fremdsprachen zu erlernen, habe ich immer wieder den Fehler gemacht, hinter den Strukturen eine Logik zu vermuten. Immer wieder haben mir die geduldigen Sprachlehrer mitgeteilt, dass ich einfach Dinge akzeptieren müsse.

Entstehung und Entwicklung von Sprache folgen ebenso wenig einer – von uns empfundenen und von uns so verstandenen – Logik, wie wir sie uns wünschen. Das Bedürfnis wie früh geschürt. Kennen Sie noch den Aufschrei als Kind „aber das ist nicht logisch!“

Heutzutage gibt es diese Spezialisten, die an den mythischen Gehalt von Worten Glauben, wie ‚ein Ratschlag ist immer sich ein Schlag‘; ‚man ist, was man isst‘; ‚Abteilung kommt von Teilen‘; usw.

Gleichwohl weiß man über sog. false friends, die zwischen Nationalsprachen gerne entstehen, wie undertake, sensible im Englischen oder saloppe und im Französischen.

Lässt sich also hinter Worten etwas fühlen oder sehen? Man kann das machen und sich in die wilde Welt der Interpretation von Lauten bewegen. Man muss sich nur im Klaren sein, dass man dadurch Fake Facts begründet. Der schnöde Sprachwissenschaftler weiß es besser.

Körperliche Integrität

Wenn man seinem Körper nicht mehr trauen kann, verliert man Sicherheit! Ja, der Kopf bemerkt, dass das Funktionieren unter ihm stoppt. Es mag im Bilde so sein, dass der Kapitän bemerkt, dass die Maschinen Fehler machen und nicht mehr sicher sein kann, jemals wieder in einen Hafen zu laufen.

Ein Bekannter schob kürzlich den gratis Grappa in einer Pizzeria von sich, da er scheute, zu viel Alkohol zu sich zu nehmen. Es schade ja der Gesundheit. Da er kurz zuvor unerwartet einen Freund verloren hatte, verwunderte mich das nicht groß.

Gerade während einer strukturellen und länger währenden Erkrankung entfremdet sich der Körper: er wird durch Medikation fremd bestimmt. Doch ist er im Grunde dieses Stück, auf das man gerne mit dem Finger zeigt, um anzudeuten, dass man nichts damit zu tun haben will.

Aber auch plötzliche heftige Erkrankungen können das Grundvertrauen angreifen und schleichend oder plötzlich erodieren. Plötzliche Fehlfunktionen und Reaktionen des Körpers können den Menschen heftig ins Mark treffen.

Und plötzlich steht oder sitzt man da – und weiß nicht mehr, auf was man sich verlassen kann. Denn was ist dem Menschen näher als sein Körper?

Erstaunlich ist, wie selbstverständlich es ist, auf Selbstheilung zu vertrauen. Von Kindern wird berichtet, ihre Knochenbrüche würde ohne jegliches Zutun ausheilen. Das scheint für uns alle der normative Standard zu sein. Schließlich geht mit jeder Erkrankung die Erwartung einher, dass man wieder gesund wird.

Doch je älter oder angeschlagener der Körper wird, desto mehr ist damit zu rechnen, die Erkrankung zum Teil seiner Selbst machen zu müssen. Lustig klingt noch ‚ich hab‘ Rücken‘. Beruhigend ist das watchful waiting, bei dem man beispielsweise einen Prostatakrebs nicht mehr behandelt.

Doch mit dem Altern wird der Mensch allmählich vom Zustand des Körpers beherrscht. In einem Interview äußerte der 84-jährige Alfred Biolek kürzlich: „ich mache nur noch das, wozu mich mein Körper lässt. Ich fahre quasi auf Sicht, da meine Kräfte schwinden.“

Es ist beunruhigend, wenn der Körper macht, was wir nicht wollen. Doch es ist unausweichlich zu akzeptieren, dass man machtlos ist. Wahrscheinlich ist es  der lehrreichste Moment überhaupt: ich kann nur meine Haltung dazu ändern – sonst nichts!

Wie gelange ich zur Wahrheit?

Vor 2017 war diese Frage für mich eher abstrakter Natur. Denn es war eine Lebensfrage, die man sich irgendwann einmal selbst beantworten sollte.

Doch hat eine Diskussion um sich gegriffen, die früher unvorstellbar gewesen wäre: ist die Meinung des Experten und Könners wirklich richtig? Könnte es nicht auch anders sein?

Am Beispiel der Medizin zeigt sich, dass sich viel verändert hat. Der Patient ‚glaubt’ nicht mehr einfach der Diagnose des Arztes. Er hinterfragt sie. Gerade durch das Internet hat er auch die Möglichkeit dazu. Er ist ein aufgeklärter und informierter Patient. Es ist der Gipfel einer Bewegung, die die ‚Halbgötter in weiss‘ kritisiert, die Nase über die klassische Medizin rümpft oder vermeintlich offenkundige Behandlungsfehler moniert.

Auch am Beispiel des Journalisten zeigt sich, dass der Leser ‚mündig‘ geworden ist. Denn der Journalist hat nur einen Lese- und Wissensvorsprung, mehr nicht. Der Leser wird selbst zum Autoren, nicht mehr durch Leserbriefe, sondern durch Blogs.

Tatsächlich ist es dieser Tage mehr als lohnenswert, sich mit anderen darüber auszutauschen, wie sie zu ihren Wahrheiten gelangen. Das Wort Wahrheit variiert mit Überzeugungen, Meinung, Vorstellung, Gewissheit … Jeder hat zu vielem, wenn nicht gar zum meisten eine Meinung. Und da es schmerzt, eine Meinung aufzugeben, ist jede Meinung eine persönliche Wahrheit. Doch muss man in jedem Fall subjektive und objektive Wahrheiten unterscheiden.

Wie entsteht Wahrheit? Wann ist etwas wahr? Tatsächlich wird wohl Wahrheit durch Menschen vermittelt, von denen gesagt wird, sie seien im Besitz der Wahrheit. In traditionellen Gesellschaften waren das Personen des kollektiven Zutrauens. Den Priestern und Ältesten wurde die Wahrheitsfindung anvertraut.

Mit der Moderne jedoch entwickelten sich unabhängige und inter-subjektive Methoden der Wahrheitsfindung: jeder Könner der Methode konnte Wahrheit finden. Die Expertise wurde zum Garant der Wahrheit. Wahrheit wurde an den Nachweis gebunden.

Gewissermaßen leben wir in einer Post-Moderne: denn mit dem radikalen Individualismus kann jeder seine Wahrheit setzen. Und was wichtig ist: er muss die Wahrheit nicht begründen. Basierend auf modernen Staatsverfassungen darf jeder einfach ‚das ist meine Wahrheit‘ behaupten.

Im Umkehrschluss darf jeder jedem seine Wahrheit streitig machen. Und ganz neu ist das Phänomen, auch die Methoden der Wahrheitsfindung zu hinterfragen. Die Begründung dafür ist, dass die moderne Wissenschaft Hypothesen statt Belege produziert; und dass man so aus mehreren Wahrheiten auswählen darf.

Fake news, alternative facts, Lügenpresse u.a. sind die Folge. Aber auch die Diskurse und die Narrative.

Um überhaupt wieder Konsens über Wahrheit denken zu können, ist ein Konsens über die Wahrheitsfindung erforderlich. Und das bedeutet auch, den Menschen wieder Werkzeug in die Hand zu heben. Dies folgt dem Beispiel, bei den Kindern Medienkompetenzen auszubilden, auch wenn ich nicht sehe, wie sie Wahrheiten von Unwahrheiten unterscheiden wollen.

Kürzlich unterhielt ich mich mit einer Kollegin, die meinte, dass sie ihr gesamtes Weltwissen zwischenzeitlich nur noch aus Spiegel online bezöge. Ich bat sie zu überlegen, ob das Sinn machte, da sie sich so in die Arme derer werfen würde, die die Nachrichten auswählten.

Ich warb für den Absatz des kritischen Rationalismus von Popper & Co: man solle das als Wahrheit anerkennen, was keine Kritik mehr erschüttern könnte. Illustrierend führte ich aus, dass man sich bei einer Abwägung zwischen einer Vielzahl an Argumenten und einer kleineren Summe von etwaiger Evidenz für die Mehrheit entscheiden sollte. Doch mein Votum führte zu Unverständnis: es könne doch auch der kleine Beweis die Wahrheit sein.

Doch genau diese Erinnerung an Methode statt Glaube halte ich für wert, wieder mehr zu beachten. Wahrheit mit Glaube sind nichts gegen Wahrheit mit Begründung.

Merkel, Mäkel, meckern

Man kommt als Zeitungsleser und TV-Glotzer ja nicht an dem Rückzug der deutschen Kanzlerin vorbei.

Ich persönlich fühle mich wie in einem Schauspiel der in der Literatur beschriebenen Königsdämmerung. Alles trägt den Charakter eines Theaterstückes, das unterhält, thrillt und entertained. Es ist Soap. Oder besser: ein aktueller Shakespeare.

Es ist von großen Schwächen großer Führer die Rede. Wir, das Publikum, lächzen nach Konflikt und gaffen wir bei Sensationen mit offenem Mund. Wir sind nicht mehr wir, da wir das Schauspiel 1:1 übernehmen. Was hätte wohl Brecht dazu gesagt?

Ein wenig bin ich beschämt, wenn taktische Schritte der Politiker nur mit Alltagserklärungen wie Rache, Narzissmus, Macht und anderen Ur-Konzepten menschlichen Handelns interpretiert werden. Es ist tatsächlich der anthropologische Urschleim, der hier ausgepackt wird.

Ich wünschte mir, dass wir dahinter die waltenden Interessen sehen, den Preis für Veränderungen und die mittel- und langfristigen Folgewirkungen für die politische Gestaltung unserer gesellschaftlichen Herausforderungen.

In mir reift der Gedanke, dass wir nicht wirklich mündige Bürger sind. Unser Status als Wähler ist der des biologischen Erwachsenenalters, aber nicht desjenigen, der sich und seine Umwelt einzuschätzen weiß.

Denn im Urteil über Politisches wird das Raster des Theaterstücks genutzt. Doch ist das, was formale Politik ausmacht, wesentlich mehr: die Sicht auf große Entscheidungen für die Gesellschaft, in der wir leben; die Einschätzung einzelner Gesetzesvorhaben; die Ableitung von Folgen für die eigene Lebenssituation; und die Einschätzung des Einflusses von Entscheidungen auf die Zukunft. Es verlangt dafür Wissen um den sachlichen Zusammenhang; um die Infrastruktur des politischen Systems; um Status Quo und Veränderung der Entscheidung; und um den jeweiligen Transfer der eigenen Werte auf die Entscheidungsfragen.

Niemand sagt, dass dies leicht ist. Aber es ist das Benchmark!

 

Woher kommt der Sinn für Gerechtigkeit?

Wieso eigentlich sind einige Menschen dem Grundsatz der Gerechtigkeit aufgeschlossener als andere? Und wieso setzen sich einige aktiv dafür ein, andere aber nicht?

Gerechtigkeit ist ein überaus wichtiger Wert unserer Gesellschaft. Vermutlich war er das auch früher schon. Die materielle und inhaltliche Bestimmung von Gerechtigkeit dürfte jedoch eine andere sein. Das gilt wohl auch für heute, da es auf der Welt unterschiedliche Anschauungen geben dürfte.

Nicht alle, aber die meisten Menschen dürften dafür eintreten, dass mit ihnen gerecht verfahren wird. Weniger machen das im privaten Umfeld. Und nicht immer machen wir das für andere und Fremde. Und die wenigsten widmen ihr Leben der Durchsetzung von Gerechtigkeit.

Lässt sich nun davon ausgehen, dass Freiheitskämpfer immer von Freiheitskämpfern abstammen? Die Wahrscheinlichkeit dürfte so ansteigen, aber gewiss nicht die einzige Verursachung sein. Woher kommt es also, dass der eine für Gerechtigkeit aktiv eintritt, der andere passiv darauf hofft?

Ich wage die These, dass nur vereinzelte Situationen im Leben ein Auslöser sein können. Irgendwann in einer Lebenssituation wird man dem Phänomen der Ungerechtigkeit gewahr – und solidarisiert sich dann mit allen Opfern, die ähnlichen Situationen ausgesetzt waren. Es entwickelt sich ein Topos der eigenen Erklärungsmuster, das immer und bei jeder neuen Situation angewandt wird. Plötzlich ist man Überzeugungstäter.

Aus Einsicht könnte man wohl auch ein Verfechter gegen Ungerechtigkeit werden, soweit man reift. Denn dann weitet sich der Blick ohnehin über das ganze Leben: neue Werte und Einsichten kommen in den Blick. Doch ältere Menschen werden wohl eher milde – und nicht automatisch gerecht.

Wer Pflichten auf sich nimmt, nimmt sich auch Rechte

Plötzlich wird einer Chef. Und plötzlich achtet die Person darauf, dass sie nicht mehr das Gleiche wie alle anderen beanspruchen will. Sie muss sich in irgendeiner Form abheben.

Das kann von außen zugetragen werden: sie wollen doch nicht dieses kleine Zimmer behalten? Sie sollten sich vielleicht auch dass neueste Modell des Smartphone zulegen? Es kann aber auch aus innerer Haltung – wohl weniger ‚Überzeugung‘ – geboren sein: wenn ich schon hier die meiste Arbeit und Verantwortung habe, dann will ich auch wenigstens das beste Firmenauto nutzen. Es ist doch wohl selbstverständlich, dass ich hier das meiste Geld verdiene.

Die neue Haltung beinhaltet aber auch immaterielle Rechte. Ich habe stets das letzte Wort; ich moderiere die Sitzungen; ich kenne am besten die Rahmenbedingungen – daher weiß ich auch, was die beste Strategie ist;

Dazu kommen noch Paraphernelia, die jedoch ‚stechen‘: ich kann zu spät kommen, die anderen sollen ruhig warten. Und ich will gefragt werden, bevor irgendetwas Substantielles entschieden wird. Ich muss nicht jede Höflichkeit erwidern: so kann ich Mails auch ohne Anrede beginnen; sonst käme ich mit meinem Stoff doch gar nicht mehr durch. Wieso sollte ich auch nicht jemanden tadeln, der nicht nach meiner Vorstellung arbeitet? Der kann mir doch ohnehin nichts.

Woher kommen nur diese ‚natürlichen‘ und ‚zwingenden‘ Schlussfolgerungen? Sind die uns immanent? Oder kommen sie nicht eher aus unserer sozialen Kultur? Sonst würde doch nicht jedermann diese Gedankengüter kennen!

Überraschend ist, dass diese Verbindung von Rechten und Pflichten ein verbindendes Ganzes ist. Wer zieht, der verlängert das Band auch der anderen Seite. Es scheint legitim, neben Pflichten auch Rechte zu beanspruchen: nur wer ehrlich arbeitet, darf sich auch etwas leisten. So dürfte wohl die preußische Interpretation lauten.