Vor 2017 war diese Frage für mich eher abstrakter Natur. Denn es war eine Lebensfrage, die man sich irgendwann einmal selbst beantworten sollte.
Doch hat eine Diskussion um sich gegriffen, die früher unvorstellbar gewesen wäre: ist die Meinung des Experten und Könners wirklich richtig? Könnte es nicht auch anders sein?
Am Beispiel der Medizin zeigt sich, dass sich viel verändert hat. Der Patient ‚glaubt’ nicht mehr einfach der Diagnose des Arztes. Er hinterfragt sie. Gerade durch das Internet hat er auch die Möglichkeit dazu. Er ist ein aufgeklärter und informierter Patient. Es ist der Gipfel einer Bewegung, die die ‚Halbgötter in weiss‘ kritisiert, die Nase über die klassische Medizin rümpft oder vermeintlich offenkundige Behandlungsfehler moniert.
Auch am Beispiel des Journalisten zeigt sich, dass der Leser ‚mündig‘ geworden ist. Denn der Journalist hat nur einen Lese- und Wissensvorsprung, mehr nicht. Der Leser wird selbst zum Autoren, nicht mehr durch Leserbriefe, sondern durch Blogs.
Tatsächlich ist es dieser Tage mehr als lohnenswert, sich mit anderen darüber auszutauschen, wie sie zu ihren Wahrheiten gelangen. Das Wort Wahrheit variiert mit Überzeugungen, Meinung, Vorstellung, Gewissheit … Jeder hat zu vielem, wenn nicht gar zum meisten eine Meinung. Und da es schmerzt, eine Meinung aufzugeben, ist jede Meinung eine persönliche Wahrheit. Doch muss man in jedem Fall subjektive und objektive Wahrheiten unterscheiden.
Wie entsteht Wahrheit? Wann ist etwas wahr? Tatsächlich wird wohl Wahrheit durch Menschen vermittelt, von denen gesagt wird, sie seien im Besitz der Wahrheit. In traditionellen Gesellschaften waren das Personen des kollektiven Zutrauens. Den Priestern und Ältesten wurde die Wahrheitsfindung anvertraut.
Mit der Moderne jedoch entwickelten sich unabhängige und inter-subjektive Methoden der Wahrheitsfindung: jeder Könner der Methode konnte Wahrheit finden. Die Expertise wurde zum Garant der Wahrheit. Wahrheit wurde an den Nachweis gebunden.
Gewissermaßen leben wir in einer Post-Moderne: denn mit dem radikalen Individualismus kann jeder seine Wahrheit setzen. Und was wichtig ist: er muss die Wahrheit nicht begründen. Basierend auf modernen Staatsverfassungen darf jeder einfach ‚das ist meine Wahrheit‘ behaupten.
Im Umkehrschluss darf jeder jedem seine Wahrheit streitig machen. Und ganz neu ist das Phänomen, auch die Methoden der Wahrheitsfindung zu hinterfragen. Die Begründung dafür ist, dass die moderne Wissenschaft Hypothesen statt Belege produziert; und dass man so aus mehreren Wahrheiten auswählen darf.
Fake news, alternative facts, Lügenpresse u.a. sind die Folge. Aber auch die Diskurse und die Narrative.
Um überhaupt wieder Konsens über Wahrheit denken zu können, ist ein Konsens über die Wahrheitsfindung erforderlich. Und das bedeutet auch, den Menschen wieder Werkzeug in die Hand zu heben. Dies folgt dem Beispiel, bei den Kindern Medienkompetenzen auszubilden, auch wenn ich nicht sehe, wie sie Wahrheiten von Unwahrheiten unterscheiden wollen.
Kürzlich unterhielt ich mich mit einer Kollegin, die meinte, dass sie ihr gesamtes Weltwissen zwischenzeitlich nur noch aus Spiegel online bezöge. Ich bat sie zu überlegen, ob das Sinn machte, da sie sich so in die Arme derer werfen würde, die die Nachrichten auswählten.
Ich warb für den Absatz des kritischen Rationalismus von Popper & Co: man solle das als Wahrheit anerkennen, was keine Kritik mehr erschüttern könnte. Illustrierend führte ich aus, dass man sich bei einer Abwägung zwischen einer Vielzahl an Argumenten und einer kleineren Summe von etwaiger Evidenz für die Mehrheit entscheiden sollte. Doch mein Votum führte zu Unverständnis: es könne doch auch der kleine Beweis die Wahrheit sein.
Doch genau diese Erinnerung an Methode statt Glaube halte ich für wert, wieder mehr zu beachten. Wahrheit mit Glaube sind nichts gegen Wahrheit mit Begründung.