Der Lebenswille schwindet

Im Alter stellen sich andere Werte ein. Denn die Marge für eigene Entwicklungen schwindet. Auch die körperliche Energie lässt nach.

Wer kennt nicht das milde Lächeln des Großvaters, der Bubereien einfach nicht mehr schelten will? Wer kennt nicht das Gesicht der älteren Kollegin, die schmunzelnd beobachtet statt einen thematischen Beitrag zu liefern? Und wer kennt nicht das ungläubige Beobachten von Senioren, wenn Kinder laut herumtollen?

Vermutlich richten wir unsere Aufmerksamkeit auch im Alter auf die Zukunft – nur anders. Man erhofft sich einen würdevollen Abgang; nicht alleine zu bleiben; oder keine Schmerzen zu haben. Vielleicht will man auch noch etwas klären, was im Leben liegen geblieben ist.

Man hat als älterer Mensch auch kein Problem, seine Gedanken zu äußern: „früher hätte mich das noch aufgeregt. Aber heute betrachte ich das nicht als wichtig.“ „Wissen Sie, ich bleibe lieber hier bei mir im Sessel; gehen Sie ruhig zu Ihrer Veranstaltung.“

Kaum ein Film, selten ein Buch haben Alte zum Gegenstand, niemals zum Helden gemacht. Es gibt da sicherlich Harald & Maude, Hallervorden als revitalisierter Marathon-Mann. Alternde Schauspieler übernehmen die ihnen von jüngeren Drehbuchautoren zugeschriebenen Rollen als Menschen mit Kraft; als Philosophen des Alltags; als Opfer der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung. Auch Leidensgeschichten wie zu Alzheimer sind darunter. Es dominiert das ‚noch‘ oder ‚nicht mehr‘. Es sind stets verzerrte Interpretationen, die nicht den ‚normalen‘ Zustand des Alterns einfachen können, sondern irgendetwas Filmreifes daraus machen wollen.

Interessant aber ist beispielsweise der Vater des schwedischen Kriminalkommissars Wallander. Auch ‚Liebe’ des österreichischen Regisseurs Harneke. Denn dort werden die Älteren nicht gewertet oder interpretiert. Der Zuschauer beobachtet nur, welche Irrungen erfolgen, wenn die definierten Rollen verschwinden.

Eine Gefahr von Schablonen ist bei der Darstellung von Altern also immer gegeben. Wenn Kunst den Zustand, alt zu sein, nicht mit Geschichten malt, dann bleibt er den Jüngeren weitgehend verschlossen. Denn ältere Menschen können nicht nach erzählen (was man gemeinhin tut) – dann sind sie schon nicht mehr. Und selbst auf Augenhöhe würde der Dialog möglicherweise nicht ausreichen, die Differenziertheit darzustellen.

Wie also Altern verstehen, wenn man nicht selbst altert? Schwierig! Denn zu häufig fordern wir intuitiv, man solle sich zusammennehmen. Oder aber es kommt einem das Totschlagargument über die Lippen, es würde schon besser werden. Das jedoch muss dem Zuhörer wie ein Witz vorkommen. Zudem ist der ältere Mensch ja nicht mehr ein Kind, das mit dumpfen Argumenten beruhigt werden will. Zwar lässt die Stärke von Denken und Physis nach. Doch ist das Bewusstsein des Erwachsenen ja weiterhin vorhanden.

 

Und schließlich gleitet die Unlust, über das Ende nachzudenken, in die Gewissheit, dass in unmittelbarer Nähe der Tod winkt. Das muss ängstigen, zumindest verunsichern. Befreit dieses Wissen den Menschen von den Fesseln eingeschränkten Denkens? Kann man vielleicht so neue Erkenntnisse gewinnen, wenn die Bewährung im Alltag unwichtig geworden ist?

 

Ich habe den Eindruck, dass die Natur tatsächlich das Leben wie den Tag eingerichtet hat. Mit dem Sonnenaufgang verspürt man Kraft und es verlangt nach Aktivität. Am Abend aber stellt sich die Müdigkeit ein, mit der man sich verabschiedet. Denken und Fühlen stellen sich ganz auf das Schließen der Augen ein. Man verantwortet dem Schlaf sein Schicksal.

Die Bleiwüste

Jugendliche und jüngere Menschen attackieren zu gerne schriftliche Texte. Für sie scheinen sie ein überflüssiges Relikt vergangener Zeiten, die sich überholt haben. Der Text an sich ist ein Symbol, der die Anti-Moderne darstellt.

Ich weiß nicht, ob die Kulturkämpfer die Probe auf das Exempel gemacht haben. Ob sie sich selbst durch Texte ‚gequält‘ haben, aber auch die Vorteile einer aktiven Textarbeit erfahren haben, ist dabei nicht nur unklar. Vermutlich ist ihnen Textarbeit tatsächlich abgenommen worden. Sie kennen sie nur wenig.

Dem setzt die Jugend eine andere Art von Kommunikation entgegen. Dazu gehört die virtuelle Kommunikation, am besten aus einer flexiblen Melange von Text und Bild, manchmal auch mit Ton. Kommunikation und Information vermengen sich in dieser Anschauung.

Der Transport von Information erscheint heute mit dem Assistenzgerät Nr. 1, dem smart phone, gesetzt. Müsste man sich zwischen lebendigem Professor und Vorlesung im Netz entscheiden, würde man vermutlich die zweite Option wählen. Es gehört einfach zur heutigen Verpackung von Informationstransfer.

Es ist schon erstaunlich, dass die Bilder der Trendsetter aus der früheren und der heutigen Jugend so unterschiedlich sind: früher war es derjenige, der in der Kneipe mit schwarzem Kaffee und Zigarette sass und ein Buch las. Natürlich trug er Brille. Das war cool. Vielleicht las der junge Mensch aber nicht wirklich, sondern zeigte sich einfach.

Heute sitzt ein gepflegter junger Mensch mit dem Smartphone oder dem iPad im Grünen oder in einer x-beliebigen Location mit Lounge Musik. Er surft durch das Netz, um Informationen einzuholen. Ob er gezielt sucht, sich für etwas interessiert, bleibt im Verborgenen.

Beide Szenen könnten Entertainment, aber auch schlicht Selbstdarstellung sein. Es ist nichtmals eine Parodie oder Übertreibung.

Die ‚Bleiwüste‘ ist wohl nicht nur eine technische Überlegung, wie Informationsübertragung am besten funktioniert. Es geht wohl eher um den Ehrgeiz, die ‚Mitte der Gesellschaft‘ zu übernehmen, zur neuen Mehrheitskultur zu machen. Das ist der normale Prozess bei der Ablösung von Generationen.

Somit wird es auch zum Glaubensgut, mit modernen Endgeräten umgehen zu können. Jugendliche heute belächeln, verachten teilweise ihre Eltern dafür, nicht mit dem Smart Phone umgehen zu können. Es ist das Lächeln des Autofahrers über den Reiter oder das des Alphabeten über den dummen Bauern. Sie betrachten sie als alt, nicht mehr ‚in‘ und damit überholt. Die psychologische Wirkung auf die Erhöhung ihrer Selbstwirksamkeit ist keinesfalls zu unterschätzen.

Doch zu hinterfragen ist die Ablehnung von Text als Bleiwüste, soweit man glaubt, ein Text tauge nicht zum Transfer von Informationen. Kriterien der Qualität von Transfer sind u.a. Verständnis (für den Inhalt), Effizienz (für Weglassen von Überflüssigen), Ökonomie (Verhältnis von Aufwand und Ertrag), Verfügbarkeit (für die Masse), Mehrwert für Methodik (für den Lerner selbst). Das ließe sich alles konkret prüfen. Der bloße Charakter als Behauptung alleine macht ihre Glaubwürdigkeit zu nichte.

Emotionen gegen Systeme

Zwei Kolleginnen verbindet eine Sicht auf die Welt, die radikal ist: „die alten Männer machen alles kaputt!“ Sie stören vor allem den Fortschritt; sie halten nur an Altem fest; sie zementieren nur ihre Macht; sie lassen niemanden anderen ran; sie sind alles andere als kreativ. Sie sind Welt-fremd und müssen weg!

Als Gegenüber muss man sich fragen, ob diese Radikalität zu beschmunzeln oder gar zu unterstützen ist. Man weiß auch nicht, ob man andere soziologische Konzepte wie die der gläsernen Decke, der Monopolisierung durch liberale Eliten oder der Kooperation der seines gleichen anführen sollte, das den alten Mann als Mensch aus der Schusslinie nimmt.

Es handelt sich fraglos um eine Struktur: die männlichen Alten haben die Macht. Sie repräsentieren nicht die Breite der Gesellschaft. Das ist in modernen Gesellschaften so, sehr viel stärker noch in traditionellen Gesellschaften.

Auch in der Evolution war das wohl mehrheitlich die Regel. Selten konzentrierte sich die Macht bei jungen Frauen. Für das Überleben der Gruppe war das wohl auch gut so, um eben nicht die zu gefährden, die biologisch den Nachwuchs garantierten.

Ob der Angriff dem System oder den handelnden Personen gilt, ist für den Agitator nicht wichtig, für den Adressierten sehr wohl: denn wie soll er mit dem Vorwurf persönlich umgehen? Soll er sich beschimpft und herausgefordert fühlen – oder es eher das Abstraktum, die soziale Gruppe der alten Männer schieben?

Interessant ist aber auch die Perspektive der weiblichen Klägerin, die ihre Analyse von begründen muss: denn da ist eine Gruppe, die die Fäden in der Hand hält. Und die ist männlich. Also sind die Personen auch schuld, verantwortlich. Es ist rechtmäßig, sie zu attackieren: Ihr Idiotien, tretet endlich ab!

Alle politisch wirksamen Gruppen sind so vorgegangen, ob die Studenten der 1968er, die Bolschewiki oder die Jungtürken. Man muss die angehen, die im Wege stehen, wenn sie auch als Einzelperson ok sind. Es gilt ihr Status, ihre Funktion und ihr Mandat, nicht ihre Persönlichkeit.

Dieses politische Vorgehen allerdings versaut jegliches persönliche Verhältnis. Einigen sich die Angreifer und der Angegriffene nicht auf den politischen oder persönlichen Korridor, ist ein Missverständnis unausweichlich.

Er ist da

Theologos ist ein Ort im Landesinneren von Thassos, einer griechischen Insel in der nördlichen Mittelmeer. Das Dorf ist schwierig erreichbar. Denn man muss erst in die Berge fahren. Der Ort ist bekannt für Ziegenfleisch, für den Friedhof aus Marmorgräbern und vermutlich auch für seine Verlassenheit.

Die Ortsgestalt folgt einer langen Streckung: am Ortsausgang in Richtung Berganstieg führt die Straße ‚ins Nichts‘ bzw. ins Unbekannte. Die Strasse säumen wenige Tavernen und Handwerksbetriebe. Dazwischen liegen verlassene Häuser, kleine Parkplätze und ungenutzte Flächen.

In einem dieser Häuser werkelt ein Schumacher laut an einer Maschine. Er stellt Sandalen her. Er bemerkt nicht, dass Besucher eintreten und seine Produkte mit Bewunderung anschauen und berühren. Irgendwann blickt er auf und kommt langsam und lächelnd auf die Besucher zu.

Aus seinem Verhalten spricht der Gegensatz zu Verkäufern. Der Schuhmacher hat diesen Blick eines Vaters, der seine Kinder beobachtet, wie die sich an einen ihnen neuen Sachverhalt nähern. Er lässt zu, ohne zu helfen. Irgendwann würden sich die Besucher schon zu ihm drehen.

Und dann steht er da: rund 45 Jahre. Seltsam schmunzelnd, den Oberkörper nach hinten gedehnt. Das T-Shirt ist völlig verschmutzt, wohl mit schmierigen Ölen der Maschinen getränkt. Die Finger sind kräftig, die Ränder unter den Fingernägeln wie schwarze Halbmonde.

Er lässt Fragen über sich ergehen, beantwortet sie aber gewissenhaft. Der Schuhmacher ist wohl gewohnt, dass man seine Schuhe mit Ehrfurcht anfasst und von allen Seiten wendet. Die Schuhe sehen perfekt aus: keine Asymmetrien, keine Überstände; das Leder ohne Macken; die Schnallen solide. Vor allem aber sind die Schuhe bei der Berührung sanft: es handelt sich um Kalbsleder. Und sie sind verdammt elegant: nicht diese Treter, die von Socken deutscher Männer entweiht werden. Sie sind bunt, aber nicht knallig.

Und natürlich begehrt man plötzlich das ein oder andere Modell. Daher frage auch ich, ob er mir nicht das Modell x in Größe y nachschicken könnte.

Der Schuhmacher lacht auf, da ihm diese Frage schon häufiger gestellt worden ist. Er habe gar Anfragen erhalten, dass bis in die USA nachzuschicken. Aber das mache er nicht. Er sei doch keine Fabrik, er produziere nur Schuhe. Für ihn sei es genug, dieses Geschäft zu betreiben, um mit seiner Frau hier leben zu können.

Dennoch können wir ihn in ein kurzes Gespräch verwickeln und bekommen heraus, dass er 17 Jahre in einer Fabrik in Neu-Ulm gearbeitet habe. Es ist klar durch die Art seiner Beantwortung, dass dies abgeschlossen ist und wohl ein Zeitverlust war.

Der und namenlose Schuhmacher steht da wie eine symbolische Eiche: hier bin ich erhaben und benötige keinen Schnickschnack an Dekor. Ich kann mich hier ausbreiten und meine Arme ausbreiten, um schlicht meine Umgebung zu genießen, und dennoch verwurzelt zu bleiben. Der Mann ist dort, wo er ist. Er ist erfüllt. Und er weiß es.

Gewalt macht’s

Sehe ich die Bilder von rechtsextremen Demos, so überkommt mich die unbedingte Neugierde: was nur treibt Menschen zu dieser seelischen und körperlichen Hässlichkeit?

Denn schön sind die Aufläufe ja nicht: da bewegt sich eine Horde stampfend und grölend vorwärts; da dominiert die Farbe schwarz und manifestiert den Eindruck von einer kopflosen Bisonherde; und da sind diese rasierten Schädel, die immer gleichen Tattoos an irgendwelchen Körperteilen und diese schwammigen Körper. Das ist nicht anziehend, das will man sich nicht ansehen.

Untereinander sind sie doch wieder sozial. Denn die Solidarität untereinander fungiert als Gleichgewicht im Kampf und der Konfrontation mit anderen.

Man muss sich fragen, ob diese Menschen aus der Überzeugung rechtsextremen Gedankenguts sowie wegen der Verfolgung konkreter politischer Ziele auf die Straße gehen; oder weil sie das Erlebnis unter solchen, die ähnlich ticken, an sich suchen.

Zu letzterem gehört zunächst Posieren; vor sich und den gleichgesinnten, aber auch den feindlichen Anderen. Dazu zählt auch die äußerliche Gleichförmigkeit, die die Beteiligten wie ein Ganzes erscheinen lässt. Schließlich ist mit dem Outfit auch ein ähnliches Freizeitverhalten verbunden, das diese Werte am ehesten in den Alltag übersetzen lässt. Dazu zählt laute und harte Musik; Trinken; bloße Treffen ohne Thema; usw.

Und es gehört eben auch immer Gewalt dazu – Gewalt wohl in der Vorstellung einer direkten und körperlichen Auseinandersetzung. Das ähnelt anderen Milieus wie den Fußballstadien.

Der Althistoriker Maier schrieb einst über die ‚populäre Methode‘ im antiken Rom. Die politischen Außenseiter holten sich die Stimmen, schlicht durch die Masse Mensch, um zu beeindrucken und sich politisch Gewicht zu verschaffen. Das führte schließlich zum Untergang der Römischen Republik, die Alleinherrschaft begann mit den Aufräumern und endete im Kaisertum.

Und so ließe sich schließen, dass der neue symbolische Radikalismus nichts anderes ist als der Wunsch, sich zu prügeln.

Sportler

Sportler sind keine Terroristen, wohl auch selten Gewaltverbrecher. Aber wahrscheinlich müsste das erst eine Studie klären. Also gehe ich einfach von dieser Arbeitshypothese aus.

Sportler sind auch meist keine Aufschneider, Angeber oder eitle Fatzken. Manchmal machen sie auf mich den Eindruck, geläutert zu sein. Sie sind im Interview regelhaft bescheiden, ohne dem journalistischen Fragen nach Heldentum zu folgen. Selbst wenn sie wollten, könnten sie es nicht.

Man kann nun Mohammed Ali als Gegenbild anführen. Doch war er eben eine Ausnahme. Denn zu schnell ist ein plötzlicher Leistungsabfall die Unterbrechung des Permanenten und Obsiegens. Also nimmt man den Mund besser nicht so voll. Die Rhetorik des Boxers gehört auch zu diesem Sport, um den künftigen Gegner einzuschüchtern.

Demut entsteht aus der Erfahrung von Leistungsgrenzen, besseren Gegnern und Verletzungen. Das ständige Gewinnen, was man wohl gerne schaffen würde, ist eine Illusion. Man weiß sich als Sportler anzustrengen und dennoch nicht den maximalen Erfolg zu erzielen.

Vermutlich kommt daher auch die Ableitung von Fairness. Fairness ist so etwas wie Regel Nr. 1 des Sports. Ich könnte mir vorstellen, dass man sich Fairness auch gegenüber von anderen erwartet. Zentraler aber ist die Fairness zwischen Wille und Können, oder besser zwischen Kopf und Körper bzw. zwischen Erwartung und tatsächlichem Leistungspotential. Man beugt sich der Tagesform, dem Gesundheitszustand, dem Wetter oder anderen Rahmenbedingungen. Wahrscheinlich wurde so Fairness einfach auch auf das Verhältnis zum sportlichen Gegner übertragen.

Sportler unterwerfen sich dem System der Regeln des Sports, dem Körper und seinen Möglichkeiten, den Bedingungen des Tages – und bei Wettkämpfen auch dem Gegner. Der Sportler erobert sich so ein sehr spezifisches Weltwissen.

Er lernt Disziplin, weil er sich zur Ausbildung von Leistung den Regeln der Leistungssteigerung unterwerfen muss. Er bildet seinen Realitätssinn aus, da Erwartungen immer wieder eingeordnet werden. Er kann auch soziales Verhalten erlernen, wenn er einem Mannschaftssport nachgeht. Er bildet eine gewisse logistische Kompetenz aus, da es Sport zu organisieren gilt. Kurzum, der bloße Sport bildet auch den Menschen.

Stressoren

Die Menschen lassen sich stressen. Erstaunlich ist jedoch, von welchen Sachverhalten. Die Techniker KK nennt die drei wichtigsten: Job und Ausbildung; hohe Ansprüche an sich selbst; und zu viele Verpflichtungen in der Freizeit.

Über Platz 3 war ich dann doch sehr überrascht. Denn seit wann soll die Freizeit anstrengend sein, ja gar zu einer Belastung werden? Ist es nicht so, dass soziale Bindungen für ein psychologisches Gleichgewicht erforderlich sind? Ist das nicht das Elixier des Menschseins an sich?

Wie kann es sein, dass Freizeit stresst? Seit der Menschwerdung bestand Freizeit darin, zu verdauen und sich nach der Nahrungssuche und -aufnahme zu erholen.

Doch gab es immer schon sozialen Stress: die Filme über das höfische England zeigen dies. Im Nichtstun vereint, musste der Adel irgendetwas tun, zumal er besser ausgebildet war als der Rest des Volkes. Also machte man Feste, engaierte sich in Intrigen und versuchte sich im Management von Partnerschaften.

Heute müssen die Handy-Abhängigen ständig parat sein, für die unsinnigsten Dialoge, die man sich vorstellen kann: gehst Du heute zum Friseur? Ich weiß nicht, ich muss erst einmal die anderen fragen.

Da der sog. Broterwerb nicht mehr essentielle Herausforderung ist, kann Mensch seine Energie auf anderes verwenden. Und das macht er so, wie er früher um die Nahrungsreste stritt. Er gibt sich mit all‘ seiner Energie hin.

Und dort, im sozialen Bereich, schlummern auch Gefahren: man könnte nicht gemocht werden; Lebensziele könnten sich im Einerlei verlaufen; usw.

Es bleibt dann wohl irgendwann der länger am Leben, der soziophob ist.

Was war denn das?

Von Politik kann man nicht lernen! Aber Politik darf man auch nicht nach Maßstäben einer beliebigen Hausgemeinschaft bewerten.

Hans Georg Massen war für Jahre der Chef des Verfassungsschutzes. Er hat – auch in den Jahren der Anschläge durch islamische Terroristen – eine gute Figur gemacht. Für mich persönlich strahlte er irgendwie Vertrauen aus. Dabei weiß ich nichts über den Mann und seine Amtsführung. Die einzige Evidenz meiner Einschätzung sind öffentliche Interviews.

Nun ist um die Person eine politische Auseinandersetzung entbrannt – und darüber hinaus noch eine Regierungskrise. Auch ich habe sie als politisch interessierter Mensch wahrgenommen. Und ich habe nicht verstanden, worum es eigentlich geht. Auch die Journaille konnte nicht aufklären, was ich benötigte, um überhaupt das Problem und den Interessenskonflikt zu konstruieren.

Soweit, so schlecht! Die Problematik muss wohl anderswo liegen. Das ist dem Streit zwischen Menschen auch immanent, die wegen vermeintlicher Kleinigkeiten aufeinander losgehen. Dann weiß jeder, dass die Ursache verborgen bleibt.

Doch soll das vermeintlich Private, die Zusammenarbeit von politischen Spitzen, wirklich zum öffentlichen Gut werden? Oder gab es einen objektiven Konflikt, der der Öffentlichkeit verborgen blieb? Wieso interpretieren die Medien das Zerwürfnis wie bei einer Staffel von Big Brother?

Die Medien stellen den Konflikt dar, als ob sich eine Mannschaft aus Promis zoffen würde. Es geht um geheime Botschaften wie: benehmt Euch anständig; leistet; seid uns ein Vorbild und anderes mehr. Zum Wesen der Politik und zu ihrer Aufgabe gehören aber andere Dinge.

So wie in diesem Fall darf man nie an Konflikte herangehen: sie im Dunkeln belassen; bloß spekulieren; sie moralisch überhöhen; sie personalisieren; sie von den Beobachtern erklären lassen. Nehmen Sie sich kein Beispiel an der Austragung von Interessenkonflikten in der Politik!

Wechselstimmung

Es muss anders werden! Ist das nicht zu spät – hätte x nicht früher handeln müssen? Das hört man dieser Tage überall. Die Aufforderung zur Veränderung geht dieser Tage – wie ein Fanal – durch die Medien.

Das trifft die Prominenten in Wirtschaft, Politik und Sport besonders: die Merkel muss weg!; der Löw ist gescheitert; diese Wirtschaftsbosse sind nicht mehr zu tragen.

Geradezu eine typische Illustration, die wie eine Parodie daher kam, war eine Sendung von Maischberger am 17.10.2018. Die Gäste überschlugen sich darin, Menschen weg beamen zu wollen.

Mir scheint, dass tatsächlich dieses ‚ich will es nicht haben‘-Gefühl den Salon er-füllt. Was die gemeinhin kultivierte Mehrheit der Bevölkerung – fokussiert auf die programmatische Wertschätzung – negiert, übt sie selbst aus: das Elend muss weg!

Das ähnelt / gleicht vielmehr dem, was wir ablehnen: „absaufen, absaufen!“; „spring doch endlich“; tritt endlich ab usw. Es ist wie der Pöbel, der auf dem Henkersplatz den Kopf des Beschuldigten fordert. Das machte man mit Robespierre, aber auch mit Jesus.

Gleichsam plädiert die Vernunft für eine Fehlerkultur: man muss sich und anderen Fehler verzeihen können – schließlich sind wir fehlerhafte Menschen. Auch das Strafrecht überwindet das schon lange: es geht zwar um Reue, aber eben auch um Reintegration.

Am Beispiel des Fußballtrainers Löw lässt sich das exemplarisch verfolgen: der Mann hat viele Erfolge erlangt, was sicherlich auch an ihm als Kompetenzträger lag. Er war auch ein Gesicht des schönen Sommers 2006. Mit drei lauen Spielen und einer Krise ist er als Person an den Pranger gefesselt worden. Letztlich gilt er als Belastung, als Hemmnis für den Erfolg, als Hindernis für einen Neuanfang. Alle scheinbar kompetenten Beobachter lassen sich von dem Wettbewerb um die finsterste Analyse hinreißen.

Wieso tun wir das nur? Gibt es eine Halbwertzeit für das Erträgliche, ein ewiges anthropologisches Konzept, das nur noch nicht gelüftet ist? In Großbritannien gibt es das in der Wahlforschung, Swings genannt. Ansonsten bleibt noch der Begriff der Wechselstimmung.

Irgendwie hat es dann die Mehrheit satt: man hat sich über-sehen an einer Person. „die heute 18-jährigen kennen in ihrer Lebenszeit nur Merkel als Kanzlerin.“ Es ist wie ein „Point of no Trust“. Es kann doch nicht sein, dass sich in einer Zeit des Wandels Altes bewährt!

Ich selbst hege Abscheu vor dieser Haltung: das Neue muss gut sein; es muss sich durchsetzen. Wieso nur?

Mit Politikern auf Augenhöhe

In einer Dokumentation über die bayrischen Landtagswahlen im ARD-Magazin Kontraste ging die Journalistin der Frage nach der Enttäuschung der Wähler über die etablierten Volksparteien nach.

Die Resonanz war in Bayern fast wortgleich mit den Ostdeutschen, die sich über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen, nicht nur neuerdings, sondern auch in Nachfolge der Vereinigung.

Wer das am wohl besten ausdrückt, ist die sächsische Politikerin Köpping, die von mangelnder Verarbeitung und einer erforderlichen Trauerarbeit spricht, ähnlich wie Mitscherlich nach dem zweiten Weltkrieg. Im Wortlaut äußern die Menschen, dass sie ent-täuscht seien. Sie wollen mit den Politikern auf Augenhöhe sein.

Doch was eigentlich wollen sie? Haben sie Ziele mit dem Satz, es solle besser werden? Was soll sich ändern? Wären sie selbst Teil der Änderung – oder sollten sich andere ändern und sich anstrengen, um ihnen mehr Komfort zu geben?

Aus individualpsychologischer Sicht würde man das Verhalten als ein Aufbegehren des Erwachsenen gegen erlittenes Leid in der Kindheit deuten. Denn es sind ja eher die jüngeren, die aufbegehren; nicht die Ruheständler, deren Krise erzwingen wurde. Es sind diejenigen, die durch die Rentenangleichung nicht abgefunden wurden.

Frustration und Aggression sind ein Paar. Die Frustrationen führen jetzt zum Protest gegen das Establishment, zur Klaviatur von Schmollen und Drohung. Ob daraus auch extremistische Aktionen erwachsen, bleibt abzuwarten, ist aber wahrscheinlich.

Es ist ein fundamentaler Irrtum, für historische und gesellschaftliche Schicksale die gegenwärtige politische Führung verantwortlich zu machen. Denn Politik ist zuvörderst ein Management öffentlicher Angelegenheiten, nicht eine therapeutische Instanz.