Er ist da

Theologos ist ein Ort im Landesinneren von Thassos, einer griechischen Insel in der nördlichen Mittelmeer. Das Dorf ist schwierig erreichbar. Denn man muss erst in die Berge fahren. Der Ort ist bekannt für Ziegenfleisch, für den Friedhof aus Marmorgräbern und vermutlich auch für seine Verlassenheit.

Die Ortsgestalt folgt einer langen Streckung: am Ortsausgang in Richtung Berganstieg führt die Straße ‚ins Nichts‘ bzw. ins Unbekannte. Die Strasse säumen wenige Tavernen und Handwerksbetriebe. Dazwischen liegen verlassene Häuser, kleine Parkplätze und ungenutzte Flächen.

In einem dieser Häuser werkelt ein Schumacher laut an einer Maschine. Er stellt Sandalen her. Er bemerkt nicht, dass Besucher eintreten und seine Produkte mit Bewunderung anschauen und berühren. Irgendwann blickt er auf und kommt langsam und lächelnd auf die Besucher zu.

Aus seinem Verhalten spricht der Gegensatz zu Verkäufern. Der Schuhmacher hat diesen Blick eines Vaters, der seine Kinder beobachtet, wie die sich an einen ihnen neuen Sachverhalt nähern. Er lässt zu, ohne zu helfen. Irgendwann würden sich die Besucher schon zu ihm drehen.

Und dann steht er da: rund 45 Jahre. Seltsam schmunzelnd, den Oberkörper nach hinten gedehnt. Das T-Shirt ist völlig verschmutzt, wohl mit schmierigen Ölen der Maschinen getränkt. Die Finger sind kräftig, die Ränder unter den Fingernägeln wie schwarze Halbmonde.

Er lässt Fragen über sich ergehen, beantwortet sie aber gewissenhaft. Der Schuhmacher ist wohl gewohnt, dass man seine Schuhe mit Ehrfurcht anfasst und von allen Seiten wendet. Die Schuhe sehen perfekt aus: keine Asymmetrien, keine Überstände; das Leder ohne Macken; die Schnallen solide. Vor allem aber sind die Schuhe bei der Berührung sanft: es handelt sich um Kalbsleder. Und sie sind verdammt elegant: nicht diese Treter, die von Socken deutscher Männer entweiht werden. Sie sind bunt, aber nicht knallig.

Und natürlich begehrt man plötzlich das ein oder andere Modell. Daher frage auch ich, ob er mir nicht das Modell x in Größe y nachschicken könnte.

Der Schuhmacher lacht auf, da ihm diese Frage schon häufiger gestellt worden ist. Er habe gar Anfragen erhalten, dass bis in die USA nachzuschicken. Aber das mache er nicht. Er sei doch keine Fabrik, er produziere nur Schuhe. Für ihn sei es genug, dieses Geschäft zu betreiben, um mit seiner Frau hier leben zu können.

Dennoch können wir ihn in ein kurzes Gespräch verwickeln und bekommen heraus, dass er 17 Jahre in einer Fabrik in Neu-Ulm gearbeitet habe. Es ist klar durch die Art seiner Beantwortung, dass dies abgeschlossen ist und wohl ein Zeitverlust war.

Der und namenlose Schuhmacher steht da wie eine symbolische Eiche: hier bin ich erhaben und benötige keinen Schnickschnack an Dekor. Ich kann mich hier ausbreiten und meine Arme ausbreiten, um schlicht meine Umgebung zu genießen, und dennoch verwurzelt zu bleiben. Der Mann ist dort, wo er ist. Er ist erfüllt. Und er weiß es.

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