Natur gegen Moral

Ein Experiment in Tschechien hat ergeben, dass sich Männer bei ihrer Sehnsucht nach sexuellem Verlangen nicht von der gesetzlichen Schranke des Lebensalters zurückschrecken lassen. Nein, sie sehnen sich nach sexuellem Kontakt auch zu minderjährigen Frauen – und auch Jungen.

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In den Gefängnissen stehen die Sexualstraftäter ganz unten in der Hierarchie. Sie sind Abschaum. Sie haben keine Ehre, nicht so wie beispielsweise ein Dieb. Gar dem Mörder kann man noch zu Gute halten, er habe ehrlich dem Opfer die Stirn geboten.

In Deutschland – wahrscheinlich allen voran – tobt ein Wettbewerb der Überbietung, wie sich Sexualstraftäter schärfer bestrafen lassen. Man darf als öffentliche Person keinesfalls der Dynamik fernblieben. Selbst das Schweigen schon wäre ein Eingeständnis, es gut mit den Sexualstraftätern an sich zu meinen. Das sieht man dieser Tage ganz deutlich.

Ich selbst stoße mich schwer daran. Erstens handelt es sich stets um eine Hexenjagd. Die Mehrheit erklärt ein Verhalten und Menschen zum Bösen schlechthin. Gerade die Kopflosigkeit, die man Sexualstraftätern zum Vorwurf macht, ist aber Grundsatz deren eigenen Handelns und Wertens. Es handelt sich ausschließlich um Bauch. Weiter ist nach meinem Verstehen des Strafgesetzbuches Schuld dort am meisten zu vermuten, wo eine sog. Schuldfähigkeit besteht. Man muss sich jedoch fragen, ob der Sexualstraftäter tatsächlich seine freie Entscheidung zur Grundlage seines Vergehens macht. Zudem glaubt man, Täter würden sich durch immer drastischere Strafandrohungen abschrecken lassen. Ist das aber möglich? Und schließlich erklärt man die Opfer für ein Leben lang geschädigt: sie sind traumatisiert, können nie mehr auf die Beine kommen. Die Medien zeigen auch nur solche Menschen, die das von sich behaupten. Die Forschung zu Resilienz bestätigt dies aber nicht.

Die ganze Debatte vollzieht sich wie ein Mob, der durch die Straßen rennt und Menschen hängen sehen will. Es geht um Vernichtung und Ausrottung, um Wegschließen, um Ächten, wie man es auch nur kann. Es scheinen immer mehr die Grenzen der Mittel ausgeweitet zu werden, die man einsetzen will, um seinen Zweck zu erfüllen.

Ganz abstrakt: man will die Natur des Menschen ändern! Denn die Natur fügt der Natur Schaden zu. Es ist ein seltsames Schauspiel. Man könnte da einen Vergleich mit so vielen anderen tabuierten Fragestellungen ziehen, wie dem Tragen von Waffen, der Machtausübung, der Ungerechtigkeit – ja allem Schlechten, was den Menschen eben auch ausmacht. Lässt sich das vielleicht auch einfach abschalten? Durch ein Gesetz? Durch eine Beseitigung der Menschen?

Es ist eine wirre Debatte, die die Rationalität des Rechtsstaates nicht untergraben darf. Es ist ein Diskurs, der die Psychologie nicht zum Opfer des furor machen darf. Und es ist ein Narrativ, das eben nicht eine absolutistische Ideologie legitimieren darf.

Schmollst Du?

Werden Menschen angegriffen, wehren sie sich. So einfach ist das, auch wenn es die christliche Botschaft anders will. Dann schlagen sie um sich und beleidigen das Gegenüber. Die Folge kennen wir alle: man ist vergrätzt, entsetzt, sauer, verletzt und muffig. Man hat keine Lust mehr mit dem oder der. Am liebsten würde man den Kontakt ein für allemal abbrechen. Verhöhnung ist leichter als Versöhnung. Und vor der Versöhnung müsste auch so etwas wie eine Sühne und Reue des Gegenübers erfolgen.

Wenn sich dann nicht wieder die normale Vertrautheit einstellt, kommt dann häufig die seltsame Frage: „bist Du jetzt etwa verletzt?“ Das hat diesen provokanten Unterton, der eine weitere Beleidigung entrollt: „Du Memme – wohl nicht stark genug für eine verbale Auseinandersetzung! Beleidigt sein ist etwas für Mädchen.“ Es formuliert nochmals eine Schwäche des Gegenübers. Es ähnelt dem Clan-Deutsch „Du Opfer, Du!“

Und so wird aus einer einfachen Episode eine doppelte Verletzung. Es kann sein, dass der vermeintliche Beleidiger dies nicht so meint – und den Schmoll-Satz nur als eine Aufmunterung verstehen wissen will, die Sache nicht ‚hochzuhängen‘. Es ist der Klaps auf die Schulter oder das Zwinkern der Augen. Vielleicht aber treibt – im Gegenteil – ihn auch das Streben, endgültig seine Stärke gegenüber dem anderen zu manifestieren. „Ich kann dem sagen, was ich will; der wehrt sich nicht mehr. Der hat meine Stärke akzeptiert.“

Also Ohren und Augen auf, wenn sich ein Streithahn über das Opfer auch noch lustig macht. Dann nämlich scheint die Aussicht auf ein Gleichgewicht zwischen zwei Personen zu schwinden.

Meint es der Beleidiger aber ernst, dann dürfte er damit ein Angebot unterbreiten, wieder die Friedenspfeife zu rauchen. Er würde dann eine Art von Entschuldigung ausdrücken und seine vorherige Aussage möglicherweise relativieren oder gar zurücknehmen. Dann ist das ‚schmollst Du?‘ eben mit einem Frage-, nicht einem Ausrufezeichen versehen – Satzzeichen werden unterschätzt!

We Push Through

Der kollektive Glaubenssatz der Engländer wird ihnen nun zum Schicksal: Engländer betrachten sich als ehrliche Haudegen. Das Fernsehprogramm gibt Auskunft darüber, was die nationale Seele goutiert. Und das Augenfälligste ist der Kriegsfilm, in dem die Engländer immer die dumpfen Deutschen besiegen – immer. Es handelt von einer Überlegenheit, die historisch nicht stattgefunden hat. Und das wird dennoch jeden Samstag im britischen Fernsehen gezeigt.

Gleichsam findet man die vielen kolonialen und militärischen Paraphernelia auf den Flohmärkten der Insel. Es hat eine ungeahnte Breitenwirkung. Und die Verehrung der Royals trägt dazu bei, dass das Phänomen des Good Old England tatsächlich nicht nur Klamauk ist; nein, man verehrt sie wirklich – wenn auch nur als spezielle Celebrities und nicht als von Gott eingesetzte Herrscher.

Darin vermengt sich auch noch der Selbstglaube / der Glaubenssatz, dass Entscheidungen eben getroffen werden müssen: eine Entscheidung ist besser als eine Hängepartie. Man gibt so der Analyse und der Folgeabschätzung zu wenig Chance. Es ist ein wenig wie der Kult der raschen – und natürlich richtigen – Entscheidung. Dazu fällt mir der philosophische Topos des Dezisionismus ein. Der wollte es auch so.

Im SPIEGEL waren interessante Berichte darüber zu lesen, dass der nationale Mythos die Engländer treibt. Es hat vollständig die Liberalität und den gesunden Menschenverstand verdrängt. Es waren die Beiträge über den Brexit und die Weltsicht von Eton.

Das ist so schade! Denn diese von den Kontinentaleuropäern bewunderte Seite der Selbstbelächlung, des schwarzen Humors und des unbedingten Pragmatismus wird verschüttet – und darüber hinaus sogar diskreditiert.

Was mache ich denn nun mit den Leavers, wenn ich mit den Remainers halten würde. Soll ich das nun ändern? Und will ich, dass die Leavers bleiben?

Wieso ist Erben eigentlich mit so vielen Konflikten versetzt?

Dieser Tage sind die Eltern meiner Generation um die 80 Jahre. Für viele von uns heißt das, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern und sie auch in Krankheit zu begleiten. Es ist ein Thema, das unsere Gespräche dominiert.

Auch sterben unsere Eltern. Und auf einmal tauchen dann Fragen auf, wie mit dem Erbe umgehen. Es geht dann auch um Vermächtnis, Gerechtigkeit, das Ranking von Geschwistern und schlichtem materiellem Zugewinn. Meist endet das gemeinsame Erbe in Zwistigkeiten und Sprachlosigkeit, die sich niemals mehr kitten lassen.

Bei alledem besteht ein gesellschaftlicher Konsens, das Erbschleicherei widerlich ist und eine Beschädigung der elterlichen Erinnerung. Es sind immer die anderen, die unrechtmäßig nehmen – und nicht geben können. Manchmal scheint mir der Satz zu greifen, dass ‚Gelegenheit Diebe macht‘. Denn plötzlich kann man alles gebrauchen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht das Rachebedürfnis für erlittenes Unrecht in der Familie: ich will nichts von alledem. Es könnte aber auch sein, dass das schlichter Selbstschutz ist.

Nun, ich selbst erlebe dieser Tage alle Varianten: da verlangen die zwei Geschwister den Erbverzicht des dritten Kindes; da will man unbedingt vermeiden, dass ein Stück x an einen Dritten geht – als ob es ein Verrat an der Familie wäre; da verlangt man plötzlich die Dinge zurück, die man selbst den Eltern geschenkt hat; und da entpuppt sich überraschenderweise ein Möbel als zentrales Moment der nicht vorhandenen Eintracht mit den Eltern. Es gibt wohl noch viel mehr an Typiken.

Es ist eben kein Spiel darum, wer mehr gewinnt. Es geht darum, ‚sein‘ Recht durchzusetzen. Gibt es zu Erbangelegenheiten eine Beratung? Nein. Denn die ist immer nur juristisch.

Aus dritter Perspektive würde ich sagen – einmal halb lang! Denn wo ist das Problem? Ist ein Erbe ein Glücksfall? Ist es ein Zwang, das Meiste herauszuholen? Handelt es sich um ein Recht, das man einlösen muss, um vor sich gut dazu stehen?

Und dann kommt noch die bittere faktische Situation dazu: das Zeug steht dann herum, die Erinnerung verblasst. Und man traut sich nicht, materielles Erbe zu entfernen. Es ist wie die Puppe des Kleinkindes, die die wahre Mutter repräsentiert. Man würde sie quasi töten.

Die Konflikte haben zwei Dimensionen. Erstens ist es die Gier: es gibt dort etwas, was zu haben ist. Ich will nicht, dass andere mehr bekommen als ich. Ich würde mich richtig schlecht fühlen. Die entscheidende Frage ist, ob man Gier steuern und unterdrücken kann. Das ist wohl möglich, wie uns Psychologen und Anthropologen uns sagen. Es ist nur der Ekel, der sich nicht unterdrücken lässt – alles andere schon.

Und zweitens handelt es sich um die berüchtigten alten ‚Rechnungen‘, also Verletzungen, die ungesühnt geblieben sind. Der Tod eines weiteren Familienmitglieds dürfte die letzte Gelegenheit sein, um sich zu rächen. Der alttestamentarische Grundsatz des Aug für Aug erzwingt sich Bahn.

Also ist Erbe vor allem Arbeit an sich, nicht Arbeit an anderen. Ich selbst habe mich gefragt, was wohl der Vererber wollte: das einzige, was ich erschließen konnte, war die soziale Fürsorge, die man mit seinem materiellen Gut unterstützen könnte. Ob ich dem nachgekommen bin, weiß ich allerdings auch nicht.

Zufriedenheit

In Kopenhagen hat ein Glücksmuseum eröffnet. Beim Verlassen des Museums bekommt man ein Zertifikat. Darin wird man aber auch aufgefordert, …

Natürlich lässt uns das schmunzeln, es wird einem warm ums Herz. Es ist immer ein gutes Signal, sich an das zu erinnern, was uns ausmacht: etwas genießen zu können, was wir als gut betrachten. Wir wissen schlicht nicht, ob Tiere und Pflanzen das gleichermaßen können.

Doch: es gibt wohl nicht nichts mehr als Gedanken, was uns auf dem Sterbebett mehr bedrückt, als etwas verpasst zu haben. Missing out ist auch ein Weltgefühl des Heute‘s ‚alles haben‘. Was hätte nur alles anders laufen können? Kann man sich dann fragen. Die Antwort wird ausbleiben, zumindest nicht mehr befriedigend bewältigt werden können.

Dann kommt der Buddhist daher und sagt: ätsch, hättest Du doch die Demut internalisiert! So einfach ist es aber auch nicht einzugestehen, dass etwas fehlte: das gemacht zu haben, was man sich vorgestellt hätte. Was ist nur aus dem Wunsch geworden, Feuerwehrmann zu werden? Oder Pilot? Oder Komiker? Oder Kanzler? Gott scheidet zwar aus, aber die Vergöttlichung seiner selbst hätte eben gut getan.

Die Grenzen an-zu-erkennen fällt schwer und will man nicht. Also waren es die Rahmenbedingungen! Es ist wie das verlorene Fußballspiel, das der Schiedsrichter vermasselt hat. Man kann darüber lächeln. Doch ist dies die Hälfte der Arbeit: zur Erfüllung gehört der glückliche Umstand, das Momentum, der Kairos. Es lässt sich nicht erzwingen, wofür nichts spricht.

Ein früherer Vorgesetzter meinte mahnend und beruhigend einst zu mir, dass für manche Idee die Zeit nicht reif sei. „Was für ein Blödsinn!“ dachte ich bei mir. Doch gestaltete es sich dann so, dass es langer Zeit bedurfte, dass das eine oder andere möglich wurde.

Auch damit kann man zufrieden sein – auch wenn es einem nicht gefällt.

Großmanns Getue

Männer tendieren dazu, Stärke zu demonstrieren. Das ist das anthropologische Erbe der Vorzeit.

Wir alle wissen, wie das aussieht: es ist diese Körperhaltung, bei der man die Schultern hochzieht und ein wenig nach vorne neigt. Es ist eine Geste der Bedrohung, die sich vor allem bei jungen Männern zeigt. Dazu kommt der breitbeinige Gang, der wohl Körperfläche demonstrieren soll. Muskeln gehören auch dazu, am besten entblößt; der Bizeps nimmt dabei eine repräsentative Stellung ein, soll ein pars pro toto für die körperliche Stärke sein.

In der Gestik des Gesichts spielt sich die vermeintliche Coolness ab, die mit der Vermeidung von jeglicher sozialen Einladung einher geht: die Augenlider gesenkt; der Blick starr; kein Lächeln, das als Aufforderung zum Kontakt interpretiert werden könnte. Dieses Ensemble ließe sich als Modell des Einzelgängers interpretieren, der durch das Leben driftet.

Das Alles passt in die Zeit des Steppenläufers, als der lone some Cowboy geboren wurde. Der streifte durch die Weiten und konnte sich der Gefahren erfolgreich erwehren. Er war eher der Krieger denn der Versorger, der Nahrung organisierte.

Sprichwörtlich sind die Alpha Tiere geworden, die sich in den sog. Vorstandsetagen breit gemacht haben. Dort soll es ein Hauen und Stechen geben; es soll um permanentes Positionieren gehen. Kürzlich nahm ich in ‚Bahn mobil‘ das Bild mit: „an der Wall Street geht es nicht um Geld, sondern um Macht und die Vermeidung von Machtverlust.“

Und oft lassen sich so auch Männer lesen, die sich des Repertoires des großen und starken Mannes hingeben. Heutzutage aber kommt man mit körperlicher Stärke nicht zum familiären und beruflichen Erfolg. Also wenden sich die neuen Männer immer mehr von dem Getue ab. Sie werden weicher und verlässlicher, also sozialer. Wenn kein Krieg ist, braucht man den ständigen Verweis auf Stärke auch nicht mehr.

Und dennoch: auch die heutige Zeit verlangt Stärke. Das Getue wandelt sich: denn man kann auf andere Stärken verweisen, von dem man glaubt, dass sie den anderen beeindrucken, zuweilen auch einschüchtern sollen. So ist die Demonstration von Wissen und Bildung eine Möglichkeit; der Verweis auf die vielen und guten Freunde wäre eine Option; eine weitere könnten die Ressourcen sein, wie Vermögen und Geld; oder aber man erklärt sich einfach als besser aussehend.

Es ist aber noch da, das Getue des Mannes – wie wohltuend und gelichzeitig anachronistisch. Da läuft er Marathon; er geht ins Fitness Studio: Der Mann geht mit der Stirn auf den anderen zu – und plötzlich ist Rudelbildung. Und wenn alles nichts mehr hilft, reicht es auch, sich selbst zu versichern: „dem habe ich es aber gezeigt.“

Schuld und Verantwortung

Kürzlich offenbarte eine zeitliche Koinzidenz, dass wir modernen Menschen eine gedankliche Ungenauigkeit mit uns herumtragen, die unser behalten stets beeinflusst. Es handelt sich um diffuse Ehe von Schuld und Verantwortung.

Plakativer Anlass sind zwei Rechtsverfahren, bei denen es um Schuld geht: zum einen handelt es sich um das Unglück bei der Love Parade in Duisburg, das nun eingestellt wird; zum anderen handelt es sich um den absichtlichen Absturz der German Wings Maschine 2015. Hier kommt es gerade zu einer Revision des Urteils. Denn die Hinterbliebenen wollen mehr Geld.

Im Wortlaut offenbaren sich die Probleme. Der Gerichtssprecher fast zu dem Prozessende zur Love Parade zusammen: „Tatsächlich waren viele in der Verantwortung. Doch Schuld haben sie nicht einzeln auf sich genommen. Daher ist es auch nicht gerechtfertigt, einzelne zu verurteilen. Vielmehr hat es eine Verkettung von misslichen Umständen und Fehlentscheidungen gegeben, die am Ende das Unglück ausgelöst haben.“

Eine der Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes argumentiert auf die Frage hin, wieso denn die Entschädigung der Lufthansa nicht ausreicht und eine erneute Klage angestrebt würde: „für das erlittene Leid ist die Summe einfach nicht hoch genug. Die Fluggesellschaft hat so viel an Schuld auf sich geladen, dass die Summe höher sein muss. Schließlich sei es moralisch nicht ausreichend.“

Und in beiden Fällen obsiegt die innere Stimme, dass hier kein Recht gesprochen werde. Denn menschliches Leid vor allem von Hinterbliebenen müsse ‚honoriert‘ und angemessen ausbezahlt werden. Es könne auch nicht sein, dass bei einem Unglück nicht irgendein Mensch Verantwortung tragen solle; und niemand gar schuldig sei.

Ähnliches hatte ich auch schon bei der politischen Reaktion auf das Attentat am Berliner Breitscheidtplatz verfolgt, als eine staatliche Hinterbliebenenversorgung eingefordert wurde: wenn der Schuldige schon nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könne, dann müsse doch wenigstens der Staat diese moralische Untat wieder auflösen.

Man könnte bei jedem größeren Unglücksfall dieselben Muster finden: die Trauer kann nur ertragen werden, wenn auch eine Ursache für das Unglück ausgemacht werden kann. Zumindest will der Mensch verstehen. Es ist ähnlich dem Nachtrauern einer Person, die an einer Krankheit verstorben ist. Man will verstehen, wieso es gerade diesen Menschen getroffen hat. Die Krankheit, die nicht dem Normalmaß entspricht, müsse eine eindeutige Ursache haben, für die am Ende jemand verantwortlich sein müsse.

Auch im öffentlichen und offiziellen Raum gibt es eine Verantwortung von Amtsträgern, die keine persönliche Schuld trifft – und dennoch ihre sog. Amtspflichten verletzt haben. Sie bezahlen das mit dem Amt. Und auch Eltern tragen für ihre Kinder die Verantwortung, wenn sie Unsinn treiben und materiellen Schaden verursachen. Ob sie es nun verhindern können oder nicht.

Man kann sich alles andere als über diesen inneren Zwang erheben oder gar lustig machen. Der Mensch will für einen Vorgang die Ursache kennen. Das macht ihn schließlich aus. Hätte er diesen Drang nicht, würde es wohl niemals Innovation, Forschung und Lernen geben. Es ist dem Menschen immanent.

Doch könnte es sein, dass es eben keine eindeutigen Ursachen für Katastrophen und Unglücke gibt. Die bloße Personifizierung der erbrachten Sühne ist eine Projektion: schreibt man jemand Schuld zu, so fühlt man sich entlastet. Doch ist das eben oft weder schlüssig noch logisch: denn Umstände können auch schuldig sein. Und wer könnte die schon beeinflussen?

Will man Menschen für Schäden durch Erdbeben verantwortlich machen? Dass sie ihrer Aufsicht nicht nachgekommen seien? Welche Hybris! Denn sie unterstellt doch, dass alles steuerbar sei, Fehler nicht existierten. Das eben gehört zur Welt. Ohne Fehler, Unzulänglichkeiten, Unbekannte Welten wäre alles zu Ende: es gebe niemals einen Schuldigen oder Verantwortlichen mehr – denn es passierte dann ja auch nichts!

„Sie haben sich verirrt“

Welch schönen Satz hörte ich gerade in einem TV-Krimi! Dass ein Täter einfach nur einen falschen emotionalen Weg gegangen sei – und sich so vermutlich um sein gesamtes Leben gebracht habe.

Es ist ein Urteil wie eine Erklärung zugleich, was – im Großen und Ganzen – passiert. In dem Drehbuch sind eher Kriterien offenkundig, die von niedrigen Motiven und anderen Umständen handeln, wieso es zur Tat kam und welche Umstände ausschlaggebend waren.

Geirrt zeigt vieles an, was uns aus dem Fadenkreuz von Schuld und Unschuld, Mitwisser und Verdächtiger, Opfer und Täter usw. herauslässt. Denn unsere Erwartung ist bei einem Krimi ja immer dieselbe: es geschieht ein Verbrechen; man muss suchen; den Täter finden; die Motivlage nachzeichnen; Überführen; und Verurteilen – woher kommt dann noch der Thrill, müsste man sich fragen? Vielleicht von den Verfolgungsszenen und anderer Action.

Diese These des Irrwegs jedoch nimmt die Perspektive des Lebens ein und ordnet die Tat und vor allem auch ihre Auswirkung dem gesamten Leben zu. Das ist von vorne und von oben gedacht. Es beurteilt eben auch das gesamte Verhalten einer Person, die sich schuldig gemacht hat.

Und die Verirrung zeichnet eben auch die Zufälligkeit des Moments, schuldig zu werden. Dies sehe ich immer gut getroffen an den großen Hinweisschildern am Rand der Autobahnen, wie „einmal nur nicht aufgepasst.“ Es kann so schnell passieren, zum Schuldigen und Bösewicht zu werden. Man stelle sich eben vor, ein Kind im Autoverkehr zu töten.

Und die Zufälligkeit zeigt sich eben auch in den Unfällen bekannter Menschen. Ein Beispiel dafür ist Michael Schumacher, als er mit dem Kopf auf einen Stein fiel. Oder der Extrem-Skifahrer Ressmann aus Österreich, dessen Tod durch die Auslösung eines falschen Karabiners verursacht wurde.

Man kann sich aber auch gedanklich und logisch verirren. Das jedoch würde kein Mensch ungerne zugeben, da das Denken eben Teil der eigenen Identität ist. Man stelle sich vor, dass man zugeben müsse, eine falsche Schlussfolgerung getroffen zu haben! Leider bleibt man dabei und versucht lieber eine zusätzliche sachliche Begründung für das Falsche zu finden. Es ist wie mit dem Mörder, der seine Spur verwischt. Die Scham ist eben so groß wie die soziale Sanktion des Irrtums.

Es ist, was man einem Erwachsenen ohnehin nicht zubilligt. Denn erwachsen sein, heißt mündig sein – eben irgendwie fehlerhaft, nachvollziehbar, einsichtig, und vieles mehr. Aber auch Erwachsene irren – und das ist eben Teil von uns. Ein Rechtssystem jedoch auf dem vollständig rationalen Menschen auszubauen, ist daher mit stetem Ruckeln verbunden, sich mit dem Menschsein auch auseinander zu setzen, um ihn rechtlich in ein System ordnen zu können. Im Rechtsystem gibt es zwar die Variante der Schuldunfähigkeit, doch die gilt nur für die Wenigen. Was ist mit der Mehrheit?

Im Rückblick kann der Mensch jedoch immer gut beurteilen, wohin sein Lebensweg hätte führen können. Denn am Ende eines Lebens erscheint das Leben eben wie ein Weg, der auch räumlich von der Geburtsstadt bis zum Ort des Totenbettes führt. Und dann kann man zugeben, falsch abgebogen zu sein. Dann nämlich muss man sich nicht mehr verantworten. Das Lebensende schafft den Freiraum für die blanke Ehrlichkeit.

Mein Plädoyer gilt der Ehrlichkeit über Einsichten, ohne jedoch dann das gesamte Spiel umzukehren, nämlich mit den Fehlern zu kokettieren, um sich über das richtige Handeln lustig machen zu können.

Protest

Der normale und seichte Protest ist zwischenzeitlich zum ‚anständigen‘ Dasein avanciert: man wehrt sich kollektiv – und am besten gegen vermeintliche Eingriffe des Staates in die Selbstbestimmung, die eigene Würde und das eigene Wertesystem – und das stets mit Berufung auf eine höhere Bestimmung. Das macht man so.

Es ist dieser Protest mit Samthandschuhen und ohne Gefahr für Leib und Leben. Es ist wie der alte Salonkommunismus, als man gegen die herrschenden Kräfte in verrauchten Kneipen bei viel Bier wetterte. Im gemütlichen und geselligen Salon vor einem sympathisierenden Publikum musste man keine Furcht vor der Repression haben.

Dieser Protest in unseren Breiten ist wie eine ewige Pubertät: man lehnt sich auf und will trotzdem geliebt werden. Man kann sich harte Sanktionen wegen beleidigenden Verhaltens nicht vorstellen. Also macht man weiter.

Es gibt zwischenzeitlich so viele solcher Beispiele, die zu einer Blockade anschwellen. Der letzte augenscheinliche Vorfall ist der Boykott einer Tesla-Ansiedlung in Brandenburg. Dann gibt es Fridays for Future – Aktionen von Kindern und Jugendlichen, die von ihren Eltern anerkennend begleitet werden. Oder nehmen sie die Protestierenden gegen die Windräder (auch ohne Julie Zeh’s Unter Leuten gelesen zu haben).

Wenn es ernst wird, scheinen Überzeugung und Haltung schlagartig überdacht zu werden. Dies hängt zusammen mit den Konsequenzen, also Sanktionen gegen den persönlichen Status: wenn man etwas zu verlieren hat, dann überlegt man es sich dreimal, ob man opponieren kann.

Nehmen Sie die Rolle des Betriebsrates in einem Privatunternehmen: dann nämlich
nicht umsonst gilt der Satz, dass das Betriebsverfassungsrecht und die Straßenverkehrsordnung die Gesetze sind, die am häufigsten gebrochen werden. Man kann sich mit diesem kollektiven und überheblichen Lächeln darauf verständigen, dass diese Betriebsräte ja nur verirrte Geister seine, die eben sonst keine andere Aufmerksamkeit im Leben bekommen würden.

Die Frage ist, ob man die schon ablehnen sollte, die eben Widerstand gegen Sanktionen abwägen. Denn das macht schon der Säugling: er geht so weit, wie er kann. Er ist wahrlich bestrebt, seien Freiräume zu erobern.

Natürlich leben auch immer wieder andere Menschen, die wahrlich mit ihrem Leben und ihrem Schicksal bezahlen. Nelson Mandela ist so einer. Bärbel Bohley ist ein anderer Typ: sie wollte einfach nicht ihre Sache weiterverfolgen, lieber woanders wieder opponieren. Oder Dietrich Bonhöffer: Irgendwie ist der soweit ent-rückt, dass auch wir heute keine Notiz mehr von diesem erstaunlichen Menschen nehmen.

Auch lässt sich Protest zum Prinzip erheben: wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt! Sagten die Kommunarden der 1968er Generation. Und viele von ihnen haben dies bis heute durchgehalten. Auch gibt es Stadtviertel, die einfach als Protesthochburgen gelten: gegen alles Mögliche, was der Verlauf des öffentlichen Lebens hergibt.

Man darf sich indes über Protest keinesfalls lustig machen. Man übt es immer ein bischen. Man kann ihn auch leben. Aber man sollte ihn stets auch zielgerecht einsetzen: Protest des Protestes willen ist ein Wirbel, der einem das eigene Leben verhagelt. Denn man hat nur noch Widerstand im Kopf, nur diesen einen Gedanken, der alles trägt – wie ein-seitig!

Moralpolitik

Die öffentliche Meinung ist bemüht, dass jegliches Handeln der sog. Politik in der Matrix von Political Correctness gemessen wird. Mir ist nicht richtig klar, welcher Kompass sonst der richtige wäre. Ich vermute dahinter den Begriff der Realpolitik: man muss schließlich versuchen, die Umwelt nicht nur mit einer fixen Matrix zu verstehen.

Es wird auch von der Sozialdemokratisierung der großen parteipolitischen Linien gesprochen. Die ‚Konservativen‘ beschweren sich, dass sie zusehends an den Rand gedrängt werden.

Hermann Lübbe hat 1984 einen Beitrag geschrieben, der den Absolutismus und die fachliche Ignoranz der sog. Moralpolitik verdammt. Überzeugend erklärt er, dass die Beziehung der eigenen Argumentation auf die Moral jegliche fachliche Diskussion zugunsten des Moralisten entscheiden wird. Schlimmer noch ist: sie löst die fachlichen Probleme nicht.

Ein gutes Beispiel könnte die Dimension von Frauen, Migranten oder Behinderten sein. Wer ein Problem aufwirft, ist per se (nein, wegen seiner vermeintlichen moralischen Lage) schuldig und im Unrecht. Sehr eindrücklich wird dies bei gelichtet Kritik gegen Israel: sie ist verboten, weil es die Juden verhöhnen könnte. Das krasse Vorgehen gegen die Palästinenser wird somit mit höherer Moral gerechtfertigt.

Wolf Biermann hat stets von der Auschwitz-Keule gesprochen. Er meinte damit das provozierte Ende jeglicher politischen Debatte: weil ich ein Alt-Opfer von Auschwitz bin, habe ich immer recht – basta?!

Auch wenn das alles politisch klingt, so kennen wir doch dieses Muster auch aus normalen sozialen Interaktionen nur allzu gut. Denn auch dort hat der schwächere immer recht, der Kranke, der Alte, das Kind, die Frau usw.

Meines Erachtens ist es vor allem gedankliche Faulheit und Bequemlichkeit, die Moralisten ausmacht: die Welt instinktiv Gut und Böse einteilen, wie in einer Dorfkirche des Mittelalters. Und schon damals war klar: wer gut und böse definiert, hat die Macht. Er ist derjenige, der sich auf die letzte Instanz, nämlich Gott, beziehen kann. Er behauptet es einfach.

Moralpolitik ist daher auch zutiefst un-sachlich. Es ist eine Einladung vor allem zum eigenen Narzissmus: ich bin auf der Seite der Richtigen und Guten: die anderen sind doof. Und so kann man sich mit einem guten Gefühl zurücklehnen – zumindest für den Moment.