Kürzlich offenbarte eine zeitliche Koinzidenz, dass wir modernen Menschen eine gedankliche Ungenauigkeit mit uns herumtragen, die unser behalten stets beeinflusst. Es handelt sich um diffuse Ehe von Schuld und Verantwortung.
Plakativer Anlass sind zwei Rechtsverfahren, bei denen es um Schuld geht: zum einen handelt es sich um das Unglück bei der Love Parade in Duisburg, das nun eingestellt wird; zum anderen handelt es sich um den absichtlichen Absturz der German Wings Maschine 2015. Hier kommt es gerade zu einer Revision des Urteils. Denn die Hinterbliebenen wollen mehr Geld.
Im Wortlaut offenbaren sich die Probleme. Der Gerichtssprecher fast zu dem Prozessende zur Love Parade zusammen: „Tatsächlich waren viele in der Verantwortung. Doch Schuld haben sie nicht einzeln auf sich genommen. Daher ist es auch nicht gerechtfertigt, einzelne zu verurteilen. Vielmehr hat es eine Verkettung von misslichen Umständen und Fehlentscheidungen gegeben, die am Ende das Unglück ausgelöst haben.“
Eine der Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes argumentiert auf die Frage hin, wieso denn die Entschädigung der Lufthansa nicht ausreicht und eine erneute Klage angestrebt würde: „für das erlittene Leid ist die Summe einfach nicht hoch genug. Die Fluggesellschaft hat so viel an Schuld auf sich geladen, dass die Summe höher sein muss. Schließlich sei es moralisch nicht ausreichend.“
Und in beiden Fällen obsiegt die innere Stimme, dass hier kein Recht gesprochen werde. Denn menschliches Leid vor allem von Hinterbliebenen müsse ‚honoriert‘ und angemessen ausbezahlt werden. Es könne auch nicht sein, dass bei einem Unglück nicht irgendein Mensch Verantwortung tragen solle; und niemand gar schuldig sei.
Ähnliches hatte ich auch schon bei der politischen Reaktion auf das Attentat am Berliner Breitscheidtplatz verfolgt, als eine staatliche Hinterbliebenenversorgung eingefordert wurde: wenn der Schuldige schon nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könne, dann müsse doch wenigstens der Staat diese moralische Untat wieder auflösen.
Man könnte bei jedem größeren Unglücksfall dieselben Muster finden: die Trauer kann nur ertragen werden, wenn auch eine Ursache für das Unglück ausgemacht werden kann. Zumindest will der Mensch verstehen. Es ist ähnlich dem Nachtrauern einer Person, die an einer Krankheit verstorben ist. Man will verstehen, wieso es gerade diesen Menschen getroffen hat. Die Krankheit, die nicht dem Normalmaß entspricht, müsse eine eindeutige Ursache haben, für die am Ende jemand verantwortlich sein müsse.
Auch im öffentlichen und offiziellen Raum gibt es eine Verantwortung von Amtsträgern, die keine persönliche Schuld trifft – und dennoch ihre sog. Amtspflichten verletzt haben. Sie bezahlen das mit dem Amt. Und auch Eltern tragen für ihre Kinder die Verantwortung, wenn sie Unsinn treiben und materiellen Schaden verursachen. Ob sie es nun verhindern können oder nicht.
Man kann sich alles andere als über diesen inneren Zwang erheben oder gar lustig machen. Der Mensch will für einen Vorgang die Ursache kennen. Das macht ihn schließlich aus. Hätte er diesen Drang nicht, würde es wohl niemals Innovation, Forschung und Lernen geben. Es ist dem Menschen immanent.
Doch könnte es sein, dass es eben keine eindeutigen Ursachen für Katastrophen und Unglücke gibt. Die bloße Personifizierung der erbrachten Sühne ist eine Projektion: schreibt man jemand Schuld zu, so fühlt man sich entlastet. Doch ist das eben oft weder schlüssig noch logisch: denn Umstände können auch schuldig sein. Und wer könnte die schon beeinflussen?
Will man Menschen für Schäden durch Erdbeben verantwortlich machen? Dass sie ihrer Aufsicht nicht nachgekommen seien? Welche Hybris! Denn sie unterstellt doch, dass alles steuerbar sei, Fehler nicht existierten. Das eben gehört zur Welt. Ohne Fehler, Unzulänglichkeiten, Unbekannte Welten wäre alles zu Ende: es gebe niemals einen Schuldigen oder Verantwortlichen mehr – denn es passierte dann ja auch nichts!