Gesichtswahrung und Augenhöhe

Dieser verdammte Pflicht, das „Gesicht wahren zu müssen.“ Das hat sicherlich viel Gerechtigkeit, vielleicht noch mehr Ungerechtigkeit in die Welt bugsiert.

Ute Frevert schreibt über den Mann vor der Aufklärung, er sei irrational gewesen. Dessen Verhalten ist jedoch auch nach der Aufklärung weitgehend dasselbe geblieben.

Und im Tierreich begegnen wir ja auch dieser Gesichtswahrung. Aber: dort gibt es auch die finale Geste der Demut. Dann trollt sich der Kontrahent und alles ist gut. Im Tierreich töten sich die Kontrahenten nur dann, wenn es für sie um Existentielles geht, die Rangordnung, das Weib, das Futter.

Also ist der Mensch nicht alleine, wenn es darum geht, den anderen zu vernichten, um sein Gesicht zu wahren.

Was nur ist Ehre, wenn sie tödlich für sich oder eine andere Person sein kann? Ist Ehre Würde? Ist Ehre wichtig? Was bezeugt jemanden Ehre? Ist Ehre ein Wert an sich – oder wird er zugeschrieben?

Ein leiser Eindruck beschleicht mich, dass Ehre ein anthropologisches Muss ist, da sie überall vorkommen zu scheint. Doch ist sie wohl ungeheuerlich wandelbar.

Ich weiß persönlich nicht, wann ich genau meine Ehre verlieren würde. In der Pubertät wäre es vielleicht ein Nacktphoto unter der Dusche gewesen. Später hätte es die eigene Schuld sein können, einem anderen Menschen ein Unglück zuzufügen. Je älter ich werde, desto weniger weiß ich, womit ich so verletzt würde, dass meine Ehre verschwinden würde. Irgendwie mag ich das.

Gedankenwirrwar

Wie viele Menschen machen sich tatsächlich ein Bild von dem, wie Ihr Denken aussieht? Wie sehe sein typisches Denken wohl aus, wenn man es malen müsste? Als Bild ist es schwierig: doch meist brabbelt man vor sich hin. Es kann aber auch ein Dialog sein.

Manchmal gleicht es einem Gewitter, dann wieder einem Kampf. Denn es gibt sehr wohl innere Stimmen: zuweilen ist es ein innerer Schweinehund, dann ein Schutzengel, dann wieder die Ermahnung der Eltern und und und. Man kennt von Siegmund Freud den Konflikt zwischen Es und Ich und Ich und Über-Ich. Und das ist nicht nur Theorie.

Und es existieren auch Glaubenssätze, die deutschen Sprichwörtern und typischen Denkweisen entsprechen können: das wird schon gut gehen; dagegen kann man nichts machen; usw. Aber es gibt sicherlich auch individuelle Glaubenssätze, wie ‚ich kann nicht singen‘ oder ‚die Welt war schon immer ungerecht zu mir‘.

Oft wird man aber auch von spontanen Urteilen überrascht: den Typ mag ich nicht; das ist ein schönes Kleid; hier fühle ich mich wohl.

Tatsächlich gibt es auch Bilder, die meist aber nur ‚flashes‘ sind. Es Können Bilder aus der Vergangenheit sein, wenn man beispielweise an einen Ort denkt. Auch malt man gelegentlich eine Landschaft nach, so man aus dem Fenster eines Zugs schaut.

Spannender noch wird es, wenn man tatsächlich einmal eine Tageskurve aufmalte. Gibt es einen Rhythmus, der sich beobachten ließe? Was strukturiert mein Denken – nicht die äußere Welt?

Und welche Teile nehmen welchen Anteil an? So die Feststellungen, die der Körper erzwingt: ich habe Hunger; ich bin müde; hier ist es zu heiß; o.s.

Eine Frage ist natürlich, ob man ‚Ordnung‘ in die vermeintliche ‚Unordnung‘ bringen kann: wäre das nicht schön, sein Denken zu beherrschen zu können? Aber welche Instanz bitte sollte das denn tun?

Und wie beurteilte man wohl sein Denken, wenn man es aufgeschrieben sehen würde wie ein Transkript? Wäre es schön? Wäre es schlau?

Es gibt die Schlauberger und Besserwisser, die empfehlen ‚denk doch ‚mal nach‘ oder ‚hinterfrage Dich selbst‘ und eigentlich nur sagen wollen ‚Du liegst falsch‘.

Man müsste seinem denken eben doch begegnen! Es begleitet einen, es macht einen aus. Und dennoch kann man es kaum fassen.

Übrigens: es gibt kein Fazit aus dem Denken über das Denken! Dazu ist es zu wirr!

Der Wettbewerb ist tot, es lebe die Weisheit

Besinnt man sich auf alltägliche Situationen, so ist man überrascht, wie viele Wettbewerbsituationen man durchläuft: der Autoverkehr am Morgen, die Selbstzerfleischung unter Kollegen, die kürzere Warteschlange beim abendlichen Einkauf usw.

Das ganze Leben, das soziale Sein, ja die Natur sind ein einziger Wettbewerb. Die Evolution an sich ist ein einziger Kampf um das bloße Überleben. Gerade das Testosteron und seine Schwestern und Brüder sind die Garantie für biologische Kraft.  Der Kapitalismus ist der moralisch überhöhte Wettbewerb, der dem Gros der Menschen Wohlstand bringen soll. Und wollen wir uns heute mit einem belanglosen Fernsehprogramm entspannen, so schauen wir ein Quiz oder Fußball, im Kern eben Wettbewerbe.

Anthropologisch ist Wettbewerb wohl der Garantie für Fortschritt, wodurch sich gute Ideen in der Praxis etablieren. Davon profitieren dann viele mehr Menschen. Ehren wir den Gewinner im Wettbewerb, so sind wir blind für diejenigen, die sich nicht durchsetzen.

Ein Freund berichtete mir, dass er sich mit nun 60 Jahren aus dem Wettbewerb mit seinem Kollegen an der Hochschule verabschiedet habe. Es sei lächerlich, diesem System der veröffentlichten Papiere hinterher zu laufen. Die Lehre mache ihm nach wie vor enormen Spaß. Und seine Freizeit würde er nun wirklich Dingen widmen, die Abenteuer darstellten: so habe er an einem Online-Kurs über Einsteins beiden Relativitätstheorien teilgenommen. Es sei ein wunderschöner Ausflug in gedankliche Neugierde und Faszination gewesen – auch wenn er zugegebenermaßen nicht alles verstanden habe.

Das Alter scheint natürlicherweise den Wettbewerb zu belächeln: man lächelt über die früheren Anstrengungen, man genießt plötzlich Dinge an sich, man Das Schwinden der Wettbewerbs-Hormone bereitet uns Ein- und Ansichten, für die wir früher weder biologisch noch intellektuell in der Lage waren.

Doch hüte man sich vor den Eitelkeiten des Alters, wenn dann Hochbetagte sich einen Wettbewerb über das erfolgreichere Leben und die bessere Gesundheit geben. Man sollte nicht verspielen, was man an Ausgewogenheit zunächst erlangt hatte. Denn Alter schützt auch vor Torheit nicht.

Der hässliche Deutsche

Gerade noch galt Deutschland noch als das beliebteste Land. Alle waren überrascht, als dies im Sommer 2015 durch die Medien ging.

Und jetzt am ende des Jahres 2015? Es gibt Krisen und Skandale ohne Ende: die Affaire um die Volkswagen AG; der Skandal um den DFB und die Vergabe der WM 2006; das Wachstum von Pegida und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte; oder den BND, der alles ausforscht, was irgendwie in sein Radar gerät.

Wie nur werden diese Störungen in das Selbstbildnis der Deutschen eingehen? Werden Sie dem trotzen und einfach das traditionelle Bild behalten? Werden sie kritischer mit sich selbst? Hören Sie einfach auf, sich irgendwie als Deutsche zu beschreiben?

Die Nationalismusforschung zeigt, dass das tatsächliche Geschehen ziemlich ’schnurz‘ für das kollektive Selbstbild ist. Hobsbawm’s These der Bildung von Mythen beschreibt, wie sich dies vollzieht. Am Ende steht ein Gemälde, das eben die Vorstellung des Künstlers ist.

Große Gruppen mit ihrer Außenwahrnehmung zu spiegeln, ist eine interessante Ableitung aus dem Coaching mit Einzelpersonen. Doch schon die erste Runde an Überlegung zeigt, wie schwierig das ist: an wen sollte man sich wenden? Wer würde repräsentativ sein? Würde man überhaupt bereit sein, sich dem Spiegelbild zu stellen?

Es sieht also eher ernüchternd aus, wollte man mit der herkömmlichen Methode Deutsche darauf aufmerksam machen wollen, dass sie vielleicht anders sind als sie selbst glauben zu sein.

Mit der Aussicht auf die Integration von einer Millionen Menschen, die als Flüchtling nach Deutschland kommen, wird zusehends unklarer, wer am Ende ein Deutscher ist.

Jedenfalls ist genau diese Zeitgleichheit von Skandal und Flüchtlingsstrom eine Chance, ein neues Bild von sich zu malen. Vielleicht sollte man einen Wettbewerb unter allen Menschen hier machen – in Schule und unte Erwachsenen – um eine Collage zu schaffen: Schwester und Brüder, greift zum Pinsel und malt Euch Eure Wirklichkeit!

Sollen wir das klären?

„Klärung“ ist zwischenzeitlich mit einer Drohung von Gewalt assoziierbar: „komm, lass uns rausgehen und das klären.“

Es gibt auch diese Klärung bei Konflikten und Spannungen unter Familienmitgliedern und Kollegen. Es handelt sich dann um offene Konfliktgespräche. Sie sind oft unfair, von Machtasymmetrien geprägt, verletzend usw.

Vor allem die Ungleichheit der Waffen ist dabei für viele von Schrecken: der andere ist verbal überlegen; der andere kann mit dem Entzug eines Gutes drohen, das für mich wichtig ist; der andere trifft meine wunden Punkte …

Dazu kommt die Steuerungslosigkeit von Streit: der dreht einem nur immer das Wort im Hals um; der greift mich mit anderen Vorwürfen an, die nichts damit zu tun haben; der provoziert mich nur; der andere lässt mich nicht ausreden; das Gespräch eskaliert dann regelmäßig, bis wir schreien …

Das alles schwingt mit, wenn jemand ‚einlädt‘, die Klärung einer Meinungsverschiedenheit vorzunehmen.

Auf der Seite des Einladenden steht dann vielleicht die Gewissheit, ohnehin eine solche Auseinandersetzung zu ‚gewinnen‘ bzw. ein Resultat zu erlangen, das ihm passt.

Auch wenn man das Wort Klärung durch etwas anderes ersetzt, verschwindet das Phänomen kaum.

Wie also lässt sich das jeden Tag wohl tausendfach wiederholte Ritual mildern, in erträgliche Bahnen richten oder schlicht stoppen? Ich vermute, dass jeder wissen sollte, wie man klärt.

Faktenresistenz

Es gibt menschliches Verhalten, das sich in dem Satz konzentriert ‚das darf doch nicht wahr sein‘. Diesen Satz hört man, soweit sich jemand über einen anderen empört: die Mutter über das nicht aufgeräumte Zimmer des Sohnes oder der Autofahrer über den anderen.

Dann gibt es auch den Satz ‚das ist nicht wahr‘ oder ‚das glaube ich nicht‘. Auch der wird spontan geäußert, jedoch mit der Andeutung, dass dies subjektiv (noch) keine Realität ist.

Das hört man oft, wenn jemand die Nachricht über den Tod eines nahen Menschen erhält. Dann wollen die Menschen dieses Unglück nicht glauben, ja nicht wahrhaben: es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Nun gibt es aber auch Menschen, die Fakten einfach verneinen, verleugnen und wegschieben. Das gilt immer dann, wenn ganze Weltbilder angegriffen werden: der Holocaust ist eine Lüge; wir können die Erde ohne Schaden für die Nachfahren ausbeuten; Politik ist eben korrupt; …

Bei Interviews sieht das dann so aus: man dreht sich weg, schiebt mit einer Körpergeste den Anwurf weg und fällt schließlich in seine Argumentation zurück. Oder aber man stellt eine Gegenfrage oder bestreitet schlicht einen Wahrheitsgehalt.

Es hilft nicht, offensichtliche Fakten zu negieren. Es hilft nicht, sich bloß auf einem Anti auszuruhen. So werden diejenigen, die die Fakten kennen und ausführen, die Mehrheitsmeinung erobern. Zudem ist es peinlich, in einer aufgeklärten Gesellschaft mit dem Hohelied auf den Menschen, der sich rational verhält, genau das Gegenteil zu tun. Das rückt den Verneiner in die Ecke und Abgeschiedenheit. Wer will schon in der Ecke stehen bleiben?

Ehrgeiz

Das ist ja nichts Illegitimes“ fällt oft in solchen Gesprächen, wenn man plötzlich über Menschen oder das eigene Verhalten spricht, bei dem Ehrgeiz Motor eigenen Handelns ist.

Diese Gedankenfigur, sich von Ehrgeiz zu distanzieren, dürfte wohl in den 1980er Jahren aufgekommen sein. Es war uncool, Leistung zu wollen und sich durchsetzen zu wollen.

Hier schlägt das Gemeinwohl-Interesse zu, dass Egoismus und un-demokratisches Verhalten sanktioniert. Das ist doch eigentlich gut: denn in der Gleichheit zeigt sich die Errungenschaft von Aufklärung und Moderne.

Aber was macht es mit diesem kleinen Segment von Abenteurern und Experimentierern? Werden sie nicht dadurch ins Abseits gerückt? Ist das gut? Ist das ein Zeichen von Toleranz, dass alle sich gleichförmig bewegen sollten? Ist die Normalität vielleicht doch eine Diktatur des Durchschnitts?

Wie schade! Denn Ehrgeiz ist doch auch Motor des Ungewöhnlichen, der bunten Vögel, der Idealisten, der Querdenker, schlicht des ewigen sympathischen Außenseitertums. Ist das nicht Motor von Innovationen, von Anreizen, von Fortschritt an sich?

Im Ergebnis sollten wir uns einen Ehrgeiz wünschen, der sein darf, der nicht verunglimpft wird, der sein Selbst entwickeln darf, der ein Recht auf Ausnahme hat und der eben nicht gleich Aussen-Seiter sein muss.

Bildungsbürger

Man müsste sie eigentlich ablehnen, diese Schnösel und Realitätsflüchtlinge, die sich lieber mit einer Skulptur befassen als dem Problem der Armut.

Bildungsbürger bilden ein fixes Milieu – und soziales Netzwerk, das um staatlich finanzierte Kulturtempel gespannt ist.

Bildungsbürger sind etwa so beliebt wie reiche Leute, die der österreichische Sänger Danzer einst als ‚feine Leute‘ in den Boden sang.

Wie kann man sich aber auch über Bildungsbürger aufregen: als ob sie eine Brille hätten, die ihnen nur erlaubten, auf Kultur zu schauen, ohne den Obdachlosen an deren Sockel auch überhaupt wahrzunehmen.

Dann sind sie noch diese Besserwisser, die wie bei einer Studiosus-Tour unentwegt noch einen Bestandteil Wissens loswerden müssen, um nicht daran zu ersticken.

Bildungsbürger sind zudem frei von Fehlern und politischer un-correctness. Sie rauchen nicht, kleiden sich beige, haben keine Frisur, sondern nur Haare und tragen irgendwelche Gesundheits-förderlichen Schuhe.

Und dennoch: wie wohl macht sich ein Dialog mit einem Bildungsbürger aus, der keine Gemeinplätze zitiert, sondern dem Kontext angemessene Sätze? Kritische Reflexion ist ihm vertraut, er kann ein Phänomen analysieren, ohne es sogleich im reflexartigen Rückgriff zu bewerten. Dieses Ringen um die richtige Bewertung des Details erst erlaubt einen Dialog.

Ergo: Bildungsbürger sind zwar totalitär, da sie dem gegenüber keine Chance geben, sich im Dialog anzustrengen. Aber sie haben stets auch ein Ticket in der Hand, mir dem man das Versprechen auf einen interessanten Austausch einlösen kann.

 

Kinderstube

„Wenn jemand keine Kinderstube hat, ist er bei mir unten durch“. Wer kann dem nicht zustimmen? Denn es ist doch unangenehm, wenn „sich jemand nicht benehmen kann.“

Dieses Generalargument – oder gar Selbstverständnis – ist so einsichtig wie die Tatsache, das die Sonne scheint. Aber dennoch: was ist das richtige Benehmen? Gibt es hierfür einen globalen Standard?

Es gibt ihn nicht! Jede Kultur, jedes Land, jede Stadt, jedes Milieu, jeder Kiez, jede Gruppe und jede Familie hat ihr eigenes Konzept. Und nun?

Hat nun jeder Anspruch darauf, dass sich die Umwelt so benimmt, wie das eigene Benehmen es will?

Genauer: um mit Menschen überhaupt in Kontakt zu gelangen, ist eine gemeinsame Basis an Regeln nötig. Dazu zählt sicher auch rudimentäres Benehmen, wie Grüßen, aktives Zuhören oder Ausreden. Wahrscheinlich gibt es so auch eine universelle Sprache von Grundbenehmen.

Noch genauer: wenn nun die rudimentären Voraussetzungen erfüllt werden und dennoch ein ungebührliches Benehmen festgestellt wird, dann ist das wohl den subjektiven Weiten des Betrachters geschuldet.

Und darin entfaltet sich tatsächlich eine riesige Welt von Regeln, die das Benehmen definieren. Die sind teilweise von Eltern und Umgebung entwickelt, teilweise selbst gesetzt. Sie sind gespeichert, als Sätze, aber wohl auch als Ahnungen und Vorlieben. Sicherlich besteht auch eine Rangfolge von sehr wichtigen Bestandteilen und Dingen, die einfach nur angenehm sind.

Absolut und unveränderbar ist Ekel. Denn es handelt sich hierbei um einen der wenigen Instinkte, über die der Mensch noch verfügt. Riecht jemand atemberaubend, so wendet man sich. Aber auch das ist überwindbar, wie Menschen zeigen, die ihre eigenen Fäkalien essen.

Je geringer die Übereinstimmung mit dem Gegenüber, desto größer die Distanz und das Ent-setzen.

Um einer bloßen Ablehnung vorzubeugen, müsste sich der Urteiler bewusst machen, dass anderes Benehmen eben auch ein Recht des anderen ist. Ein Kompromiss wäre möglich, soweit man das ‚andere‘ als ‚ok‘ betrachtet.

Und nun? Es gibt keine absolute und allen einverständige Erklärung. Und so werden wir immer und überall und zu jeder Zeit das mangelnde Benehmen des anderen monieren können.

Es bleibt, sich selbst zu offenbaren, wie die eigene Kinderstube gestaltet war – und was man als Freundlichkeit und Höflichkeit empfindet.

Was ist schon Ostern?

http://de.statista.com/statistik/daten/studie/416484/umfrage/umfrage-in-deutschland-zu-zutreffenden-aussagen-ueber-ostern/

Immer weniger Menschen in Deutschland wissen, was Ostern ist und wieso Ostern gefeiert wird. Angesichts der Bewerbung von Osterprodukten, der man schwerlich entkommt, handelt es für alle sichtbar um bunte Eier und Hasen. In der Familie werden die freien Tage zu Treffen genutzt, bei der Teilnahme von Kleinkindern auch zum Verstecke-Spielen. Es ist schwer, den Dreh zum Ursprung zu finden, wenn die eigene Neugierde fehlt oder man nicht dorthin geleitet wird.

Man kann diese Unkenntnis und die Ignoranz beklagen. Man kann in der typischen Manier des Bildungsbürgers über die Verdummung ‚der anderen’ lamentieren. Man kann als religiöser Mensch ‚glauben’, anschließend mit modernen Missionsformen die Lehre zu streuen. Und man kann es freilich auch belassen, auf die Gefahr hin, dass der einst der Einfluss der christlichen Kirchengemeinschaft verebbt und Ostern als gesetzlicher kirchlicher Feiertag gestrichen wird.

Ein Weg, Ostern mit mehr als der Ostergeschichte zu befüllen oder eine Vorlesung außerhalb hochschulischer Säle zu halten, ist, den Weg so zu malen, dass die Geschichte sowie die Bedeutung von Ostern ein individuelles Bild erhält. Denn die Metapher Ostern ist so vielfältig, dass sie Menschen – ob sie gläubig, Christen oder säkular eingestellt sind – zumindest eine Anregung vermittelt.

Fakt ist: An Ostern feiert eine Weltreligion die Auferstehung ihres Gründers. Zunächst schwer verständlich, da nämlich niemand einfach so wieder aufersteht, wenn er gestorben ist. Doch überwindet dort ein Mensch seine biologische Natur, um von einem Wesen aus Fleisch und Blut zu einer abstrakten Idee und einem Programm zu werden. Ein Mensch wird nur deswegen erinnert, weil er etwas Interessantes zu sagen hatte.

Dieses Programm hat nichts mit der plastischen Gestalt von heutigen Kirchen in unseren Städten, ihren Privilegien oder Skandalen zu tun. Das Programm heißt Frieden, soziales Gewissen und Innehalten. Es ist nicht nur ein modernes Programm, sondern eines – vorstellbar – ewiger Gültigkeit.

Dass Jesus für die Menschen in den Tod gegangen ist, ist ein Trost für den Menschen an sich: es gibt tatsächlich die Idee davon, dass jeder für sich eine Unterstützung erfährt und nicht allein ist. Und dass jemand tatsächlich Leid auf sich nimmt, um anderen Gutes zu tun, ist ein Hinweis darauf, dass dies auch zur menschlichen Natur gehört.

Die konkrete Ostergeschichte zeigt uns aber auch die Gefahr der Auflehnung gegen etablierte Verhältnisse. Zwar mag sie kurzfristig für die Rebellen in die Katastrophe geführt haben, langfristig jedoch haben sie sich durchgesetzt. Also kann man auch gewinnen, ohne sofort Erfolg zu haben.

Und anders gewendet: muss man seine Opponenten gleich kreuzigen? Oder sollte man sich erst einmal in einen Dialog mit Ihnen begeben?

Auch zeigt Ostern uns, dass Engagement zu Veränderung führt. Bloßes Mitmachen – egal auf welcher Seite – lässt uns immer wieder nur Zuschauer und Reagierer auf andere Bewegungen um uns herum sein. Gestalten können wir so nicht. Und selbst das Waschen der Hände – so schön die Symbolik auch ist – ist eben ein Dulden von Wahn und Unvernunft.

Und welcher Natur die Beziehung zu Maria Magdalena auch immer gewesen sein mag, es zeigt doch zweierlei: zum einen gewinnt man Treue  und Vertrauen auch unter denjenigen, die nicht offensichtlich zu den seinesgleichen gehören; und gerade die Armen und sonst Ausgestoßenen, also die Marginalisierten, gehören dazu – sie sind die Ehrlichen, Erstaunlichen und Beweglichen in der Masse der Normalität.

Sind diese Lebensthemen etwa verstaubt? Inaktuell? Alle Fragen beantwortet? Haben wir heute einen höheren Zustand als Mensch erreicht? Oder hat es dieses Buch namens Bibel doch etwas, was es verständlich macht, dass man es 2.000 Jahre hindurch gelesen hat?

Die Welt immer wieder neu erfinden, das Jetzt als Höhepunkt der Menschengeschichte zu verstehen, ist nachhaltiger und macht das Leben bunter. Doch auch die alte Welt zu entdecken, ist eben, am Denken so vieler teilzunehmen, die schon da waren und das Heutige vielleicht schon einmal gelebt haben. Ostern könnte ein guter Zeitpunkt am Ende des Winters sein, unter dem Staub ein Schatzkästchen zu finden.