Brexit ist ein Wort, das Karriere macht. Für die Mahner und Klager des Status Quo klingt es so wie die Form des Zaubertranks von Miraculix.
Die Bewertung des UK-Referendums durch die etablierten Politiker war insoweit von einem Konsens getragen, als der unbedingte Respekt vor dem Abstimmungsergebnis eine geradezu heilige Pflicht der Demokratie ist. Damit wird das Volk als einziger Akteur souveräner Entscheidungen bestätigt: alle Macht geht vom Volke aus!
Das klingt alles gut und richtig. Erstmals provoziert diese Gedanke in mir, die Stimmigkeit des Konzepts zu überprüfen.
Für einen Respekt vor der Entscheidung gibt es m.E. einige grundsätzliche gedankliche Vorbedingungen:
1. die Entscheider müssen sich im Klaren sei, worüber sie abstimmen.
Das ist wohl nur teilweise, vielleicht auch nur bei einer Minderheit der Fall gewesen: denn es ging offensichtlich gegen die ungesteuerte Zuwanderung und die sog. etablierte Politik in London. Einfluss nahmen auch das Wetter und die typischen Wahlverhaltensmuster über Altersgruppen. Doch das eigentliche und zentrale Thema sollte das der EU-Mitgliedschaft sein. Das war auch schließlich die Frage.
Sinnvoller wäre, nicht über ‚ja – nein‘ abzustimmen, nur über ausformulierte Alternativen zum Status Quo. Denn dann geht es nicht darum, ein Haus zu demolieren oder gutzuheißen, sondern sich darüber im Klaren zu werden, wie ein neues Haus aussehen sollte.
2. ein ausreichendes Maß an faktischem Wissen sowie das Verstehen sind für eine mündige Entscheidung grundlegend.
Es muss davon ausgegangen werden, dass nur eine kleine Minderheit über ein ausreichendes Zusammenwissen verfügt. Denn bei Meinungsäußerungen wurden keine Statements oder Herleitungen gehört, die auf eine Reflektion schließen ließen, nur Bewertungen, Urteile und Sprüche.
Die Kenntnis der Bevölkerungen über die Struktur des EU-Gefüges sowie ein Detailwissen über die politische Verantwortung eines jeweiligen Sachverhaltes sind ungenügend – wie alle Untersuchungen zeigen.
Die Faktenübermittlung und die Erklärung wurden jedoch von Campaignern übernommen. Die jedoch legten nur Bewertungen und einschlägige Argumente vor. Schließlich wurden sie auch von ihren Interessen geleitet. Dass eine Partei Richter und neutraler Berater spielt, ist ungenügend, gar kontraproduktiv.
3. Betroffene müssen gehört werden.
Sowohl die EU-Institutionen sowie die anderen Mitgliedstaaten durften nur von Ferne beobachten. Doch sie betrifft die Frage im Wesentlichen doch auch.
Man nehme an, ein Familienmitglied würde über einen Ausstieg aus einem gemeinsamen Aktienpaket entscheiden, ohne die anderen teilhaben zu lassen. Finden wir das gut? Ist das sinvoll?
4. Entscheidungen sollte es nicht ohne Entscheidungsgründe geben.
Man sehe sich im alltäglichen Leben um: soll ich eine Frage der Therapie über eine Internet-Recherche entscheiden? Oder soll ich besser einem Arzt konsultieren?
Wieso wurde keine Evidenz ähnlicher Phänomene herangezogen? Ist es nicht ein Geschenk, auf Experten- und Spezialistentum zurückgreifen zu können?
Interessant auch: in der Vergangenheit hatte vor allem England eine Separierung von Wales und Schottland abgelehnt. Die nämlich protestierten ebenso gegen Fremdbestimmung – was die jetzige Entscheidung umso verlogener erscheinen lässt.
5. demokratische Entscheidungen sind gerechtfertigt, wenn man Demokrat ist.
Hinter dem Wort ‚Politikbegriff‘ steht ein seltsamer Diskurs, obwohl das Wort so dröge und vermeintlich klar daherkommt. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall.
Denn das heutige Verständnis von Politik konzentriert sich darauf, ‚die Politik‘ als Dienstleister eigener Erwartungen und Interessen zu verstehen – anhand des Beispiels: „sorge für wirtschaftlichen Erfolg und dafür, dass es mir besser geht!“ Jedoch ist das aufgrund der zunehmenden Unmäßigkeit der individuellen Forderungen und ihres gegenseitigen Widerspruchs bis Ausschlusses kaum mehr möglich. Die Idee des Daseinsfürsorgestaats kann nicht funktionieren, da von allen zu vieles gefordert wird.
Wesentliche andere Elemente eines normativen Politikbegriffs werden davon abgetrennt: wie der Streit um die besten Ideen; die Stabilität durch Kompromisse; der Verzicht auf Eskalationen; Politik braucht Grundlagenwissen u.a.
6. Entscheidungen sollte man für sich, nicht für andere treffen.
Sicherlich sind Kritik an der EU und an den übrigen EU-Staaten eine traditionelle Strömung auf den britischen Inseln.
Doch ist die Frage, wieso eine eingespielte Mitgliedschaft in einem Staatenbund nach einer Generation wieder in Frage gestellt wird. Auch andere Mitgliedschaften wie NATO, Commonwealth oder WHO stehen ja nicht zur Disposition. Alle Mitgliedschaften in größeren Einheiten bringen ja mit sich, mehr Schutz und Sicherheit zu schaffen. Dieses Argument wurde der EU gegenüber nicht respektiert.
Schon die Entstehung des Referendums hatte einen völlig anderen Zweck: Nämlich die Hinterbänkler in der konservativen Partei ruhig zu stellen. Dazu kam die persönliche Rivalität zweier Kampagnen-Führer, die seit den Tagen ihrer gemeinsamen Erziehung in Eton existierte.
7. Bürokratie und Regulierung kann man messen. Man beurteilt es nicht danach, wer das Steuer in der Hand hat, sondern welches Ausmaß es hat.
Das vorherrschende Argument ist eine gesichtslose und unbekannte Bürokratie. Vermutlich ist die Tatsache, dass die ‚Eurokraten‘ fern und Fremde sind ein wichtigeres Moment als die Bürokratie. Denn die ist im UK nicht anders als in anderen EU-Staaten.
Und das Ausmaß der Regulierung ist eben mit dem Binnenmarkt zu erklären: wer gemeinsames Wirtschaften will, muss gemeinsame Regeln setzen.
8. Politik geht um die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft
Die Brexit-Befürworter sind die vom Land, aus strukturschwachen Regionen und die Älteren. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass sie sich schwach fühlen und nicht zu den gehören, die die Modernisierung vorantreiben.
Die Sehnsüchte konzentrieren sich nicht auf ein politisch eigenständiges UK, sondern auf Größe und Beachtung. Und das lässt sich wohl nur wiedererlangen, wenn man an das historische Modell von Größe anknüpft.
9. Demokratie kennt verschiedene Gesichter
Ein wichtiges Argument der Brexit-Befürworter war die Demokratieferne der EU-Institutionen. Das ist erstaunlich, gibt es doch zwei Kammern, der Staaten und der Menschen. Zudem operiert das EU-Gefüge in einem – wenn auch komplizierten – System von Checks und Balances. Kann es überhaupt mehr Demokratie geben?
Es sei denn, man will Elemente oder gar ein Grundprinzip von direkter Demokratie. Doch würde das enden wie die Urlaubsentscheidung einer Großfamilie: nämlich zu Hause und im Status Quo des immer gleichen.
In einem wesentlichen Punkt ist das richtig: denn die starke EU-Kommission ist ein Input-Geber besonderer Stärke – unvergleichlich mit den nationalen Ressorts. Doch gerade sie sorgt für Anstöße, die die EU erst zu einem Erfolgsprojekt machen.
Fazit: dieses Referendum ist geradezu ein Menetekel. Denn es ist Symbol für eine Entscheidung, die nicht Antwort auf die gestellte Frage ist. Sie ist ein klassisches Missverständnis. Aus Missverständnissen folgen häufig Konsequenzen, die gravierend und bedeutsam sein können. Und dies ist auf Ebene der Einzelperson ebenso gegeben wir auf Ebene von Bevölkerungen. Hier kann man wohl nur dem Historiker vertrauen, dem ganzen Sinn zu geben.