Unmündige Demokratie

Brexit ist ein Wort, das Karriere macht. Für die Mahner und Klager des Status Quo klingt es so wie die Form des Zaubertranks von Miraculix.

Die Bewertung des UK-Referendums durch die etablierten Politiker war insoweit von einem Konsens getragen, als der unbedingte Respekt vor dem Abstimmungsergebnis eine geradezu heilige Pflicht der Demokratie ist. Damit wird das Volk als einziger Akteur souveräner Entscheidungen bestätigt: alle Macht geht vom Volke aus!

Das klingt alles gut und richtig. Erstmals provoziert diese Gedanke in mir, die Stimmigkeit des Konzepts zu überprüfen.

Für einen Respekt vor der Entscheidung gibt es m.E. einige grundsätzliche gedankliche Vorbedingungen:

1. die Entscheider müssen sich im Klaren sei, worüber sie abstimmen.

Das ist wohl nur teilweise, vielleicht auch nur bei einer Minderheit der Fall gewesen: denn es ging offensichtlich gegen die ungesteuerte Zuwanderung und die sog. etablierte Politik in London. Einfluss nahmen auch das Wetter und die typischen Wahlverhaltensmuster über Altersgruppen. Doch das eigentliche und zentrale Thema sollte das der EU-Mitgliedschaft sein. Das war auch schließlich die Frage.

Sinnvoller wäre, nicht über ‚ja – nein‘ abzustimmen, nur über ausformulierte Alternativen zum Status Quo. Denn dann geht es nicht darum, ein Haus zu demolieren oder gutzuheißen, sondern sich darüber im Klaren zu werden, wie ein neues Haus aussehen sollte.

2. ein ausreichendes Maß an faktischem Wissen sowie das Verstehen sind für eine mündige Entscheidung grundlegend.

Es muss davon ausgegangen werden, dass nur eine kleine Minderheit über ein ausreichendes Zusammenwissen verfügt. Denn bei Meinungsäußerungen wurden keine Statements oder Herleitungen gehört, die auf eine Reflektion schließen ließen, nur Bewertungen, Urteile und Sprüche.

Die Kenntnis der Bevölkerungen über die Struktur des EU-Gefüges sowie ein Detailwissen über die politische Verantwortung eines jeweiligen Sachverhaltes sind ungenügend – wie alle Untersuchungen zeigen.

Die Faktenübermittlung und die Erklärung wurden jedoch von Campaignern übernommen. Die jedoch legten nur Bewertungen und einschlägige Argumente vor. Schließlich wurden sie auch von ihren Interessen geleitet. Dass eine Partei Richter und neutraler Berater spielt, ist ungenügend, gar kontraproduktiv.

3. Betroffene müssen gehört werden.

Sowohl die EU-Institutionen sowie die anderen Mitgliedstaaten durften nur von Ferne beobachten. Doch sie betrifft die Frage im Wesentlichen doch auch.

Man nehme an, ein Familienmitglied würde über einen Ausstieg aus einem gemeinsamen Aktienpaket entscheiden, ohne die anderen teilhaben zu lassen. Finden wir das gut? Ist das sinvoll?

4. Entscheidungen sollte es nicht ohne Entscheidungsgründe geben.

Man sehe sich im alltäglichen Leben um: soll ich eine Frage der Therapie über eine Internet-Recherche entscheiden? Oder soll ich besser einem Arzt konsultieren?

Wieso wurde keine Evidenz ähnlicher Phänomene herangezogen? Ist es nicht ein Geschenk, auf Experten- und Spezialistentum zurückgreifen zu können?

Interessant auch: in der Vergangenheit hatte vor allem England eine Separierung von Wales und Schottland abgelehnt. Die nämlich protestierten ebenso gegen Fremdbestimmung – was die jetzige Entscheidung umso verlogener erscheinen lässt.

5. demokratische Entscheidungen sind gerechtfertigt, wenn man Demokrat ist.

Hinter dem Wort ‚Politikbegriff‘ steht ein seltsamer Diskurs, obwohl das Wort so dröge und vermeintlich klar daherkommt. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall.

Denn das heutige Verständnis von Politik konzentriert sich darauf, ‚die Politik‘ als Dienstleister eigener Erwartungen und Interessen zu verstehen – anhand des Beispiels: „sorge für wirtschaftlichen Erfolg und dafür, dass es mir besser geht!“ Jedoch ist das aufgrund der zunehmenden Unmäßigkeit der individuellen Forderungen und ihres gegenseitigen Widerspruchs bis Ausschlusses kaum mehr möglich. Die Idee des Daseinsfürsorgestaats kann nicht funktionieren, da von allen zu vieles gefordert wird.

Wesentliche andere Elemente eines normativen Politikbegriffs werden davon abgetrennt: wie der Streit um die besten Ideen; die Stabilität durch Kompromisse; der Verzicht auf Eskalationen; Politik braucht Grundlagenwissen u.a.

6. Entscheidungen sollte man für sich, nicht für andere treffen.

Sicherlich sind Kritik an der EU und an den übrigen EU-Staaten eine traditionelle Strömung auf den britischen Inseln.

Doch ist die Frage, wieso eine eingespielte Mitgliedschaft in einem Staatenbund nach einer Generation wieder in Frage gestellt wird. Auch andere Mitgliedschaften wie NATO, Commonwealth oder WHO stehen ja nicht zur Disposition. Alle Mitgliedschaften in größeren Einheiten bringen ja mit sich, mehr Schutz und Sicherheit zu schaffen. Dieses Argument wurde der EU gegenüber nicht respektiert.

Schon die Entstehung des Referendums hatte einen völlig anderen Zweck: Nämlich die Hinterbänkler in der konservativen Partei ruhig zu stellen. Dazu kam die persönliche Rivalität zweier Kampagnen-Führer, die seit den Tagen ihrer gemeinsamen Erziehung in Eton existierte.

7. Bürokratie und Regulierung kann man messen. Man beurteilt es nicht danach, wer das Steuer in der Hand hat, sondern welches Ausmaß es hat.

Das vorherrschende Argument ist eine gesichtslose und unbekannte Bürokratie. Vermutlich ist die Tatsache, dass die ‚Eurokraten‘ fern und Fremde sind ein wichtigeres Moment als die Bürokratie. Denn die ist im UK nicht anders als in anderen EU-Staaten.

Und das Ausmaß der Regulierung ist eben mit dem Binnenmarkt zu erklären: wer gemeinsames Wirtschaften will, muss gemeinsame Regeln setzen.

8. Politik geht um die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft

Die Brexit-Befürworter sind die vom Land, aus strukturschwachen Regionen und die Älteren. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass sie sich schwach fühlen und nicht zu den gehören, die die Modernisierung vorantreiben.

Die Sehnsüchte konzentrieren sich nicht auf ein politisch eigenständiges UK, sondern auf Größe und Beachtung. Und das lässt sich wohl nur wiedererlangen, wenn man an das historische Modell von Größe anknüpft.

9. Demokratie kennt verschiedene Gesichter

Ein wichtiges Argument der Brexit-Befürworter war die Demokratieferne der EU-Institutionen. Das ist erstaunlich, gibt es doch zwei Kammern, der Staaten und der Menschen. Zudem operiert das EU-Gefüge in einem – wenn auch komplizierten – System von Checks und Balances. Kann es überhaupt mehr Demokratie geben?

Es sei denn, man will Elemente oder gar ein Grundprinzip von direkter Demokratie. Doch würde das enden wie die Urlaubsentscheidung einer Großfamilie: nämlich zu Hause und im Status Quo des immer gleichen.

In einem wesentlichen Punkt ist das richtig: denn die starke EU-Kommission ist ein Input-Geber besonderer Stärke – unvergleichlich mit den nationalen Ressorts. Doch gerade sie sorgt für Anstöße, die die EU erst zu einem Erfolgsprojekt machen.

Fazit: dieses Referendum ist geradezu ein Menetekel. Denn es ist Symbol für eine Entscheidung, die nicht Antwort auf die gestellte Frage ist. Sie ist ein klassisches Missverständnis. Aus Missverständnissen folgen häufig Konsequenzen, die gravierend und bedeutsam sein können. Und dies ist auf Ebene der Einzelperson ebenso gegeben wir auf Ebene von Bevölkerungen. Hier kann man wohl nur dem Historiker vertrauen, dem ganzen Sinn zu geben.

Wird man mit Reifung wieder Kind, oder was?

Kürzlich zeigte mir ein Bekannter, der in den Mit-50igern ist, dass er einen Account auf Instagram hat. Mit festem Blick auf das smart phone wies er mir nach, dass er mit einem Blumenbild über 300 Follower erreicht hätte. Ich wusste nicht so recht, wie reagieren. Mir war auch nicht klar, was er von mir als Reaktion erwartete. So nickte ich nur und murmelte ‚aha‘.

Würde genau dieser Kollege in der Öffentlichkeit einen Fehler eingestehen müssen, wäre ich ziemlich gewiss, dass er Ausflüchte finden oder gar seine Verantwortung leugnen würde. Durchweg lässt sein Verhalten darauf schließen, dass er öffentlich nur Aufmerksamkeit erleben will, soweit er sie positiv erlebt und bewertet.

Nun mag es sein, dass eben dieser Mensch trotz Alters und Lebenserfahrung eben noch nicht seinen Reifeprozess durchlaufen hat, über den auch er Zugeben und Demut erlernt hätte. Denn im Leben stellt sich immer einmal ein Standpunkt – oft auch die Einsicht – ein, dass man nicht immer der sein Muss und kann, der der Beste ist.

Dann könnte ich auch denken, dass er eher spielerisch diese Seite aufgerufen hat, um mir zu sagen: das leiste ich mir, Kind zu sein. Denn Kinder benötigen Bestätigung durch ihre Respektspersonen: „Mama, Mama, schau mal, ich kann das.“ Da ich den Kollegen schon länger kenne, scheint mir eher ausgemacht, dass er tatsächlich zeigen wollte, wie innovativ, modern und somit jung geblieben ist.

Gerade Männer demonstrieren diese Verhaltensweise im reiferen Alter. Sie folgen ihren Hobbies unbeirrbar – oder besser unbeeindruckt vom Stirnerunzeln ihrer lebensweltlichen Publikume. Sie sammeln Eisenbahnen, gehen Angeln oder treffen seltsame Miteiferer beim Beobachten von Verkehrsflugzeugen.

Man könnte meinen, nach einer Phase der Ernsthaftigkeit würden sie sich Ihren Interessen zuwenden und nicht mehr auf die Spiegelung ihrer Umwelt achten.

Doch bei diesem, meinem Kollegen habe ich eher den Eindruck, dass er sich wieder auf die Bedürfnisse des Kindes reduziert, gesehen zu werden. So würde er einem basalen Grundanliegen ‚schau mal’ nachgehen – aber das ist auch ok!

 

Halbwissen

Wie bequem ist es, einen streitbaren Gegenüber mit dem Vorwurf zu schelten, er dokumentiere bloßes Halbwissen! Wahrscheinlich habe ich das selbst auch schon getan.

Doch ehrlich: zu welchem Thema habe ich Voll-Wissen? Und was bedeutet das denn?

Es wird damit suggeriert, nur dann urteilen zu können, wenn ich alle Kenntnisse eines Sachverhaltes habe. Es wird damit auch impliziert, erst dann Bewertungen vornehmen und Entscheidungen fällen zu können. Die Zuschreibung von Expertise gereicht zur Vorstellung von Wahrheit und Zustimmung.

Der menschliche Kopf urteilt und bewertet aber nie so; der kleinste Hinweis genügt, um ein Urteil zu ‚fällen‘. Und das tut er auch, wenn der Sachverhalt fast zu umfassend ist, um durchdrungen zu werden. Klassisch ist das in unserem Bild von Stammtischen, an denen Meinungen zu Wahrheiten betoniert werden. Selbst Widerlegungen können dann solchen ‚Wahrheiten‘ nichts anhaben.

Dadurch relativiert sich Halbwissen reichlich: denn sprichwörtliches Halbwissen wäre bereits ‚die halbe Strecke‘ zur Wahrheit. Doch bleibt es ein polemisches Benchmark, das nur für eine dialogische Auseinandersetzung eingesetzt wird. Es soll einfach nur denunzieren.

Achten Sie also darauf: wer einen anderen des Halbwissens schilt, dem kommt es nur darauf an abzulenken.

Ein Experte würde sich vermutlich nie mit dem Vorwurf Halbwissen äußern oder erst gar nicht in eine Bewertung über ein Gegenüber einstimmen. Denn er könnte den Wettbewerb um das größere Wissen ja eingehen und würde gewinnen. Die soziale Anerkennung erhielte er durch die demonstrierte Expertise. Also: nur die halben Experten beschimpfen ihr gegenüber mit Halbwissen!

Management

Dieses Wort hat überall einen positiven Widerhall. Wieso eigentlich? Weil das mit Geld und Macht verbunden ist? Weil damit SmartMedia und Unabhängigkeit assoziiert wird? Weil es implizit Machbarkeit einschliesst und Erfolg garantiert?

Es ist gar einge-deutscht worden. So wird es im Sinne von ‚geschafft‘ genutzt und hat einen Klang von heldenhafter Überwindung von Hürden.

Es gibt tatsächlich dieses operative Management, das Menschen nutzen, um ein Geschäft irgendwelcher Art zu steuern und zu lenken. Das gilt für einen Laden an der Ecke wie für einen Haushalt.

Was aber weniger deutlich ist, könnte man mit strategischem Management bezeichnen. Gibt es das überhaupt? Und was ist es? Es handelt sich nicht um das Tagesgeschäft, sondern die großen Weichenstellungen, die erforderlich sind, um das Geschäft langfristig zu erhalten.

Hierbei frage ich mich immer, ob es strategisches Management überhaupt geben kann. Ist es nicht nur ein Wunsch, komplexe Situationen zu steuern?

Nehmen wir das Beispiel Nixdorf: der Unternehmenslenker, der erfolgreich die Computer in die Büros brachte, vermisste es, den Markt der Haushalte aufzubauen. Im Rückblick war das ein entscheidender ‚Managementfehler‘. Doch war vorauszusehen, was damals – zum Zeitpunkt der Entscheidung – undenkbar war?

Ein anderes Beispiel Nokia: der Konzern schaffte es, sich neu zu erfinden und ein Unternehmen von Weltrang zu werden. Und es gibt so viele dieser technologischen Entwicklungen, die zu neuen Nutzungsformen von klassischen Produkten und Technologien führen.

Doch strategisches Management? Es war schlicht ein Glaube, eine Ahnung, dass eine Entwicklung x zum Erfolg führen könnte. Das ist keine Berechnung oder größtes Management Geschick. Ansonsten wäre Erfolg planbar!

Das Wort Management ist wie das Wort Revolution: erfolgt ein unternehmerischer Umbruch mit Erfolg, ist es Management. Scheitert er, ist es Versagen, ganz wie die Rebellion.

 

Negatives dominiert

Das Negative merkt man sich 2,5 mal häufiger als das Positive! Denken Sie an einen vergnüglichen Abend mit Gästen: den Streit erinnert man, nicht aber die vielen Witze.

Und woran erinnert man sich am Abend, wenn man sich ins Bett gelegt hat? An die unbefriedigenden Episoden des Tages.

Und bei Meinungsumfragen werden die negativen Seiten eines Sachverhaltes 7 mal mehr weiter erzählt als die positiven.

Das mag ja eine Vorsehung des biologischen Erbes sein. Doch was bringt denn das heute noch, da wir alle auf der Suche nach Glück und Erfüllung sind?

Tatsächlich ist hier gefragt, seine Einstellung zu steuern. Denn wer sich auf die Automatisierung in seinem Kopf verlässt, ständig ‚Warnungen‘ zu erhalten, der ‚läuft irgendwann heiß‘. Hierbei sollte man aktiv gegensteuern. Das heißt sicherlich nicht, Warnungen in den Wind zu schießen. Doch sollte man sich des Sogs negativer Nachrichten bewusst sein.

Wir kennen die Situation, die Nachrichten mit den schlimmen Bildern von Terrorakten sowie die schlechten Informationen über die Wirtschaftslage. Wir verstehen die Situation, dass ein Arzt am Abend nach einem anstrengenden Dienst, in dem er böse Verletzungen gesehen hat, nur einen lustigen Spielfilm anschaut. Und wir gönnen ihm das,

Wir sollten den Mut aufbringen, uns auch dem Entzug zu stellen, zu verdrängen. Man kann auch den Schrecken zu vergessen versuchen.

Der Körper hat einen Mechanismus geschaffen, um mit dem schrecklichen Unfall nicht umgehen zu müssen. Er blendet einfach nur die kurze Dauer der Verletzung, des Aufpralls oder anderen aua. Das tut den Menschen gut, denn ansonsten blüht ihnen, Sicherheitsgefühl und Lebensmut zu verlieren – und wohl auch die posttraumatische Belastungsstörung.

Man sollte sich seinem Kopf etwas Schönes gönnen – Tag für Tag! Eine schöne Übung ist die Augen zu schließen und sich vorzustellen, das man sein Fenster öffnet. Dort sieht man, was einen erfreut. Man malt es in seinem Kopf und schmückt es aus. Man muss einfach dazu lächeln.

der wahre Tod

Kürzlich erfuhr ich vom Sterben einer älteren Frau, ganz konkret.

Wir sind so verwöhnt von dem romantischen und ’sauberen‘ Ableben in Film und Fernsehen. Es wird irgendein wichtiger Satz gesagt, der Hals entspannt sich und der leere Blick startet. Schöne falsche Welt!

Das Wissen um das Eintreten des Todes ist wohl nur einer winzigen Zahl von Menschen gegeben, ebenso wie der Start eines Lebens. Das ist auch sinnvoll im Sinne von Arbeitsteilung und Spezialistentum.

Der Tod kündigt sich durch gewisse und eindeutige Veränderungen der Körperlichkeit an. Die sind lesbar und lassen sich auch berechnen. Denn im finalen Stadium des Ablebens lässt sich zeitlich bestimmen, wann die Vitalfunktionen ausbleiben. Man sah dies bei David Bowie oder Guido Westerwelle. Letzterer wusste darum, so dass er sich noch am Morgen mit seinem Partner von der Welt verabschieden konnte.

Auch erlebte ich aus der Ferne binnen zwei Monaten drei Todesfälle, die von verschiedenen Krebsarten verursacht wurden. Die ‚Hinterbliebenen‘ berichten sehr genau über die Etappen bis zum finalen Ableben.

Es steht wohl ohne jede medizinische Begleitung tatsächlich so etwas wie der Zusammenfall der Funktionen an. Das kann mit einem schmerzhaftes Delirium sowie mit einem Versagen aller Schließmuskeln einhergehen.

Als mein Onkel 2014 starb, waren wir Familienangehörigen betroffen, traurig darüber, dass dieser Eigenbrötler und immer zugewandte und überaus humorvolle Begleiter nicht mehr dabei war. Doch Thema Nr. 1 war unter uns die Frage, ob er vielleicht Schmerzen empfunden und gelitten hat. Wir redeten uns das so lange zurecht, bis wir befriedigt das Gegenteil glauben konnten.

Dann las ich von einem neuen Buch, das Caitlin Doughty geschrieben hat: „fragen Sie Ihren Bestatter“. Wenn ich mir die Rezensionen so anschaue, so ist der Körper bereits in das Reich der Schatten übergegangen.

Dass wir uns alle abwenden und am besten nichts damit zu tun haben wollen, ist nachvollziehbar. Doch frage ich mich immer wieder, wieso wir uns immer im Schein ausruhen, nur das Gute sehen zu können: „nein, das kann ich nicht. Das ist mir zu viel. Ich würde ja immer dieses Bild im Kopf haben. Das würde mich aus der Bahn werfen.“ Das Nicht-Wollen steigert sich zur Panik, wenn man dann doch mit dem Ableben konfrontiert wird.

Man verspielt eine so große Chance, Abschied zu nehmen. Denn ein Abschied ist ein versöhnlicher Neustart in eine neue Zeit ohne den Verstorbenen. Man hatte vor Augen, dass ein Weiterleben nicht mehr möglich war. Man konnte dem Sterbenden die Einsamkeit und Angst alleine durch sein Dasein nehmen. Man kann so ein Kapitel einer 2er Beziehung abschließen, wie man ein Buch schließt und anschließend noch zärtlich über den Bucheinband streicht. So integriert man eine solche Episode gut in ’sein Buch des Lebens‘.

Quartett der Diktatoren

Nichts wächst derzeit so üppig wie der Block von Society-Nachrichten über Diktatoren. Ich habe mir schon überlegt, ein Spiel-Quartett zu erstellen. Das wäre eine ‚richtige‘ Behandlung dieses Typs von Menschen. Man würde sie mit dem Werfen der Karte auf den Tisch prügeln und wie Zirkus-Tiere behandeln.

Würde ich das Quartett strukturieren, müsste ich vermutlich einige typische Informationen hinterlegen, wie Land, Alter, Mandatsdauer. Frei nach ‚Trivial Pursuit’ könnte ich aber auch ein Special anbieten: mit den Daten zur jeweiligen Grausamkeit der Person, wie vermutete menschliche Opfer, größenwahnsinnige Taten, Zahl der öffentlichen Denkmäler, sensationelle Bauprojekte (oder Briefmarken, Badges, Kinder desselben Namens o.a.m.) des Diktatoren.

Um das Ganze noch pädagogisch wertvoll zu machen bzw. zur Reflektion zu provozieren, ließe sich ein weiteres Special über die potentielle persönliche Reaktion schaffen: was würde ich in einem solchen Land tun? Würde ich in die innere Emigration gehen? Würde ich in die Partei des Diktatoren eintreten? Würde ich auswandern?

Im neuen Zeitalter des Internets verblasst die Grausamkeit der Diktatur in dem Maße, wie die Clownerien der Personen ‚Salon-fähig‘ oder eben ‚Internet-kompatibel‘ werden. Denn die Skurrilitäten belustigen die Netz-Konsumenten in ihrer sicheren Entfernung zum jeweiligen Tatort. Die menschlichen Perversionen werden dadurch nicht mit der Betroffenheit betrachtet, mit der man Diktatur nach eigenen Maßstäben bewerten kann.

Die derzeitigen Auswüchse sind überraschend, glaubten wir vermutlich mehrheitlich, dass solche Verrücktheiten nicht mehr möglich sind. Doch Politik degradiert zur Show, bleibt immer weniger der Problemlösungsapparat für gesellschaftliche Herausforderungen.

Die Bewegung gegen das jeweilige Establishment basiert auf mehreren Quellen des Ungehorsams: erstens sind es die Spaßmacher und Politclowns, die sich gegen die Eliten wenden; es gesellen sich diejenigen hinzu, die meist ihre persönlichen Ressourcen als Geschäftsleute einbringen, um höchste Posten zu übernehmen; es gibt die Saubermänner, die gegen die korrumpierten Politiker des Systems wettern und meist auf lokale Aktionsfelder verweisen; und schließlich die Aufräumer – sie alle haben das Zeug zu Diktatoren haben.

Und Diktatoren sind tatsächlich nicht nur verrückt, sondern eben auch und gerade böse. Vielleicht nutzen sie ja Gewalt nichtmals zur Durchsetzung politischer Ziele. Möglicherweise ist Gewalt gerade das Ziel, um politisch basierte Ausübung persönlicher Macht zu legitimieren. Man muss sich das überlegen: es geht um Gewalt und Terror, nicht um Stabilisierung von Macht; es geht um den Gefallen daran, über Leben verfügen zu können. Nicht das Regieren ist das Ziel, sondern das Opfer, die ein Diktator verursacht.

Und man schaue sich die Kandidaten an: Duerte, Putin, Kim Jong-un, Erdogan, Lukaschenkow. Jenseits unserer europäischen Rationalität könnten sie jede Politiksatire oder Theatervorführung bereichern. Doch in ihren Ländern sind sie für menschliches Leid nicht nur verantwortlich, sondern der eigentliche Anker und Motor. Das Wort der Repression ist eben nur eine soziologische Floskel, die die wahre Grausamkeit verbirgt.

Auch als einzelner muss man sich davor hüten, solche Menschen zu bagatellisieren – selbst wenn man gute Erfahrungen damit gemacht hat, Gegner zu ignorieren.

Selbstbild

Reflektierte Personen wissen um das Geschwisterpaar Selbst- und Fremdbild. Die Denkfigur ist sehr fruchtbar, da sie zu vielerlei Reflektion anregen kann.

Hier will ich thematisieren, welche Wirren es auslösen kann, seinem Selbstbild zu begegnen. Das beginnt mit dem Erleben der eigenen Stimme oder einer Aufnahme / eines Videos beispielsweise auf einer Geburtstagsfeier. Man ist sich dann reichlich fremd.

Das Selbstbild herauszuschälen bedarf eines Tricks, da ich mich als Beobachter ja selbst beobachten muss. Wir nehmen nun aber an, dass könnte gelingen.

Zu einem Selbstbild gehören eine Reihe von Bestandteilen: die Meinung über den eigenen Körper; die grundsätzlichen Haltungen zum Leben in der Gesellschaft; ein Bewusstsein um Stimmungen und Launen; das Wissen um die eigenen Vorlieben; ein Gefühl für eigene Schwächen und Stärken; seine Marotten, seine Talente; die zentralen Zielsetzungen im Leben; das Gewahrsein um eigene Wertungen; die Bewusstheit um Routinen und Rituale; und vieles mehr. Überragt wird das vermutlich zu einer grundlegenden Haltung zu sich selbst: Man mag sich – oder man hadert mit sich.

Was passiert nun, wenn man mit seinem Selbstbild zumindest in wichtigen Bestandteilen unzufrieden ist? Führt das dazu, einfach sein Selbstbild umzudeuten – oder zu versuchen, sich darin zu ändern? Das muss jeder so entscheiden, wie er kann.

Das Konzept des Selbstbildnis geht davon aus, dass man das Fremdbild anderer nicht korrigieren kann. Dies wäre dennoch ein logischer Schritt, auch das einmal zu versuchen. Entweder ändert man sein Verhalten – oder

man ändert die anderen in der Deutung ihrer Beobachtungen.

Ich habe eine Kollegin, die ständig ihr Selbstbild ‚erfüllen‘ muss. Das besteht aus einer Verhaltensweise, die im Dialog oder einer Diskussion eine letzte korrigierende Bemerkung – adressiert an alle – macht, wohl machen muss. Es ist diese Verhaltensweise, für die Besserwisser ungemocht bleiben oder Kinder als altklug bezeichnet werden. Egal, ob die anderen reagieren, die Bemerkung kommt. Sie wird begleitet von einer verkniffenen und fordernden Gestik.

Was kann man hier tun? Sicherlich ließe sich ein partieller Metalog starten: mir ist aufgefallen, dass … Nun ist die Person insoweit berechenbar, als sie sich gegen diesen Anwurf emotional verwehren wird. Oder man sucht den indirekten Weg, indem man das Verhalten als störend beschreibt und bei einer unbekannten dritten Person verortet – in der Hoffnung, es löst bei ihr Verständnis aus.

Ich mag die Übung, sich auf Papier selbst beschreiben zu müssen / dürfen. Denn sofort denkt man an die Charakterzüge, die sozial akzeptiert oder gar gewürdigt werden. Die miesen Seiten lässt man besser weg; wer schon würde sich selbst als Nasenbohrer bezeichnen? Ich persönlich habe dann Gefallen an den strittigen Zügen, die eben nicht eindeutig positiv oder negativ sind. Denn bei einer solchen Übung kommt man mit dem Mitspieler schnell in den Dialog, auch wenn dieser Dialog dann leicht über die – gesellschaftliche – Wertigkeit der Eigenschaft geht.

Ich frage mich übrigens, ob nicht ohnehin Selbstbilder von Stimmungen abhängig sind. Wie häufig unterzieht sich der Mensch überhaupt einer Überprüfung seines Selbstbildes? Was ist, wenn Dissonanzen entdeckt werden? Das Abenteuer Selbstbild kennt nur ferne Grenzen. Jeder sollte es versuchen.

 

Herr Gauland, mein Nachbar

Kürzlich flammte eine öffentliche Provokation durch den Vor-Denker Alexander Gauland in den Medien auf: er soll bei einem Interview mit FAZ-Redakteuren gesagt haben, dass er den Fußballprofi Boateng ungerne als Nachbarn hätte.

Für wohl alle in der Öffentlichkeit wird dadurch der Verdacht erhärtet, dass AfD-Repräsentanten Abwertung und Beschimpfung gegen Personen mit Migrationshintergrund als Hauptziel verfolgen. Offenbar haben sie dafür unter Deutschen einen Resonanzboden. Es gibt Menschen, die dem nicht nur zustimmen, sondern diese öffentliche Form von Protest und Aggression sogar begrüßen.

Ich jedoch stelle mir vor, wie es wohl wäre, den einen oder anderen zum Nachbarn zu haben. Zuerst Boateng: es warten Teenies vor dem Haus. Der junge Mann wird nur im Sportwagen gesehen, mit dem er sein Grundstück verlässt und wieder betritt. Er ist bekanntlich ein ruhiger Mensch, von dem aufgrund seines physisch anstrengenden Berufs Ausschweifungen nicht zu erwarten sind: keine Parties, keine Drogen, keine wilden Partnerwechsel usw. Er würde vermutlich auch keinen Nachbarschaftsstreit lostreten, da er wenig zu Hause ist und mir nicht wie ein Gartenfreund vorkommt. Kontakt bekäme ich vielleicht bei plötzlichen besuchen seiner Familie aus Berlin oder Ghana, was mich wohl eher belustigen würde. Alles in allem würden wir uns einfach in Ruhe lassen, einen Kontakt haben.

Und dann Herr Gauland: ich befürchtete mit ihm durchaus Potenzial zum Konflikt. Dass er öffentlich streitbar ist und dafür Publikum anzieht (vielleicht gar benötigt), beweisen die letzten Jahre. Ich hoffte nicht, dass er ein Streithansel ist, der mit allem vor das Gericht zieht. Vermutlich würde er sich in der Straße für irgendetwas engagieren, wie Ordnungsregeln, diese selbst vorschlagen würde. Dann würde er vermutlich das ein oder andere Verhalten an mir kritisieren, da er allen Menschen gegenüber seine Ansichten nicht verbirgt oder verschweigen will. Ich kann mir auch vorstellen, dass er zu Gartenfesten mit Volksmusik und öffentlichen Reden einlädt. Das wäre dann schon eher ein Ärgernis auf meiner Seite. Und schließlich würden viele junge und alte Gaulands unsere Straße bevölkern. Ich würde mich dadurch nicht heimischer fühlen, sondern mich weiter zurückziehen.

Für mich ist meine Präferenz für eine Partnerschaft eindeutig: es wäre nicht der Herr im Jägerlook. Und Herrn Gauland müsste man fragen, ob er gerne sein eigener Nachbar wäre.

Wonach wir Politiker beurteilen

Wie häufig habe ich im alltäglichen Kontakt schon gehört, dass der oder die gar nicht geht. Denn die sind zu dick, zu dünn, zu doof, zu laut, zu aggressiv, zu hässlich, zu zu zu.

Die Glaubwürdigkeit des Politikers hängt vom Abgleich mit den eigenen Werten ab, ist also stets die Messlatte der Beurteilung. Das kann rational-analytisch sein oder instinktiv. Das Ergebnis ist dasselbe.

Eigentlich müssten wir doch die Menschen im Amt danach beurteilen, ob sie mit den Herausforderungen des Amtes zurechtkommen und sie meistern. Aber was wissen wir schon von dem Amt? Von den Aufgaben? Und von dem Menschen?

Ein wenig differenzierter: man stelle sich den Chef des Geheimdienstes vor! Die spontane Erwartung wäre wohl, dieser Amtsinhaber benötige das Wissen um die Durchführung geheimer Operationen, die Kenntnis des Aufbaus anderer Geheimdienste, kreative und erfinderische Fähigkeiten – und was man sich alles so denken kann.

Vermutlich dürfte jedoch die Fähigkeit schwerer wiegen, eine Behörde führen zu können. Eigenschaften wie Akten lesen, Budget steuern oder konzeptionell denken usw. dürften wesentliche Erfolgsfaktoren sein.

Da wir das alles aber nicht wissen (können) und uns in einer Demokratie dennoch ein politisches Urteil bilden müssen, halten wir uns an die Details, die uns einen Hinweis gehen könnten, wie das mediale gegenüber bewertet werden könnte. Und dann sind es die Äußerlichkeiten, die uns angeboten werden. Aber könnte ich dann noch die Eignung des Geheimdienstchefs feststellen? Würden Ärmelschoner und ein starrer weiter Blick dafür sprechen? Wohl kaum!

Ist denn nun die alltägliche Beurteilung des Menschen somit illegitim? Das ist sie nicht, will man nicht nur das ‚richtige‘ Beurteilungsprozedere zum Benchmark machen. Dennoch sagt uns unsere Ratio, dass dem so sein müsste.

Wie kommen wir nun aus der Falle, beurteilen zu müssen, ohne es zu können. Um konsequent zu sein: wir lassen es mit dem Urteilen, soweit wir keine ausreichenden Hintergrundinformationen haben; oder wir bauen genau die auf. Alles andere ist kein ‚Urteil‘. Wir selbst würden sich nicht wollen, vor Gericht nur nach unserer Nase beurteilt zu werden.