Mich nervt diese Perfektion

Hin und wieder gibt es Lichter unter den Menschen – diese immer guten und so richtig handelnden Menschen sind ein Modell für ihre Umwelt. Es sind im Großen und Kleinen geradezu Lichtgestalten.

Es liegt im Auge des Betrachters. Denn diese Perfektion blüht im Auge des Betrachters: zum einen ist er angezogen von der Vorbildwirkung eines solchen Menschen. Man bewundert das immer richtige Verhalten.

Zum anderen aber trifft diesen scheinbar fehlerlosen und fabelhaften Menschen eine konsequente Ablehnung. Denn auf ein Maß an Perfektion zu treffen, ist für viele Menschen unerträglich.

Zwei widerstreitende Grundmotive stehen diesen Reaktionen Pate: einmal ist ein solches Licht Ansporn, genau das nachzuahmen, was man an der Lichtgestalt verfolgen kann.

Ein anderes mal aber fühlt man sich bedrückt durch das Spiegelbild: denn es führt einem selbst vor Augen, dass man eben nicht das Licht ist; kein unumstrittenes Vorbild; kein Modell für alle; nicht alles so tut, wie man es vorhat; und auch nicht fehlerfrei ist.

Es ist wie mit dem Einser-Schüler, der immer alles richtig macht. Natürlich wird wahrgenommen, dass da einer konkurrenzlos immer der Beste ist. Zudem kämpft jeder für sich selbst auch für gute Noten und sonnt sich dann in einem guten Platz im Wettbewerb. Doch kann und will man nicht akzeptieren, dass da einer in einer anderen Liga spielt. Also beginnt man – irrational – diesen Besten zu hänseln und ihn aus dem – fairen – Wettbewerb der Abgehängten auszuschließen.

Aber nicht nur die Intelligentesten trifft der Bannstrahl. Auch die moralischen Größen trifft der Bann. Gauck war für viele Ostdeutsche ein Besserwisser; Jesus für die Pharisäer einer, der ihre Existenz untergrub; Obama ein Feind der Falken; …

Die politisch Korrekten waren und sind für diejenigen, die ihren inneren Schweinehund kennen, so unerträglich wie die Laienbrüder für die Gemeindemitglieder. Es ist zu viel des Guten!

Meinungsbildung in der Blase

Eine Kollegin erzählte mir, dass sie Kommentare in den sozialen Medien für einen Vorteil hält: wenn eine News über die Medien ginge, könnte sie die besser einschätzen, wenn andere Menschen sie kommentieren würden.

Sofort dachte ich abschätzig, dass das nur und ausschließlich ein Beweis für die Faulheit am Denken ist. Denn ohne Versuch einer eigenen Reflektion und dem Eifer, etwas verstehen und somit einschätzen zu können, ergibt man sich nur in die Abhängigkeit der Meinungen anderer – woher die auch immer kommen. Diese Kollegin könnte sich doch selbst schlau machen, um abzuwägen, was wahr ist und wie man es beurteilen könnte.

Damit mache ich es mir aber auch leicht, da ich nämlich selbst zwei Optionen bei Sachverhalten habe, die ich gerne irgendwie einschätzen würde: zum einen könnte ich die Journaille heranziehen oder gar selbst recherchieren, um selbst irgendwie urteilen zu können. Andererseits könnte ich einfach nur aufgeben und mich irgendeinem Urteil anhängen. Ergo: auch ich bin abhängig von Kommentierungen – aber eben von solchen, von denen ich annehme, dass sie begründet und recherchiert sind.

Und dennoch: wenn ich mir eine Meinung oder besser eine Ahnung davon bilden will, was ein körperliches Unwohlsein oder eine Auffälligkeit ausmacht, dann kann auch ich im Netz recherchieren. Im Internet gibt es eine Reihe dieser Gesundheitsforen. Dort kann man die Beobachtung an seinem Körper posten – und plötzlich bekommt man von allen Seiten Rat. Dann kann man in die Welt der Laien eintauchen – oder auch nicht.

Immerhin haben Selbsthilfegruppen das Image, hilfreich zu sein. Denn die Betroffenen wissen, worauf es ankommt. Experten sind nicht dabei, dafür die Opfer.

Auch die Suche nach einem Dienstleister in der Nähe des Wohnortes ist so schnell ausgemacht, sei es ein Handwerker, ein Arzt oder ein passendes Hotel für die Freunde: Jameda weiß Rat.

Zentral ist wohl die Frage, inwieweit man sich Meinungen bilden kann oder nur bestehende / widerstreitende Meinungen übernehmen will. Es ist die Frage des Könnens und des Wollens: kann ich das? Gelange ich überhaupt zu einer persönlichen Meinung? Weiß ich, wie das geht? Traue ich mir das zu? Wozu überhaupt? Und es ist eine Frage von Haltung und Überzeugung: wozu soll ich mir überhaupt eine unabhängige Meinung bilden? Muss ich mich dann nicht streiten? Lebe ich nicht besser, wenn ich mich einer Meinung anschließe?

Es offenbart sich hier beim Nachdenken ein Zug unter den Menschen, der mit unserem Bild vom reflektierten, abwägenden, reifen und unabhängigen Bürger in einer freien und pluralen Gesellschaft nicht übereinstimmt, ja nicht sein darf. Es ist nicht vorgesehen, einfach Herdentier zu sein. Man muss ein einsames Steppenpferd sein.

Also ist das nicht für jeden etwas, auch wenn die gesellschaftliche Norm anders lauten sollte. Dennoch sollte sich jeder im Klaren sein, ob man einfach nur ‚follower‘ sein sollte, nur ein Geist, der anderen Recht gibt oder eben nicht.

Meine Dämonen

Ingmar Bergmanns Geburtstag jährt sich zum 100. mal. Das bedeutet natürlich im Kalender der Kunstinteressenten, sich an ihn zu erinnern. Und so würde kürzlich ein Interview mit ihm gesendet, das ich zufällig hörte. Es ging um Dämonen.

Zu selten werden Dämonen thematisiert. Einige werden wohl das Konzept erst gar nicht kennen, bei anderen liegt es verschüttet. Oder sie würden es einfach Ängste nennen.

Bergmann erzählte von einer dieser immer wiederkehrenden Sorgen. Seltsam war die eine, mit vielen Menschen gemeinsam an einem Ort zu sein – für einen Regisseur eigenartig. Verständlicher ist da der Dämon, er könne eines morgens erwachen, ohne seine Kreativität und Energie aktivieren zu können.

Auch im Jubiläumsjahr von Luther lernte man eine Menge über die innere Zerrissenheit des jungen Mannes, der mit echten Teufelsbildern rang, aber auch mit spirituellen Nöten oder sozialen Ängsten.

Und wohl jeder Mensch hat seine Dämonen, die ihn temporär oder lebenslang begleiten. Es sind wohl die einsamen Augenblicke, in denen Menschen sie vor dem inneren Auge haben. Und ebenso dürften Dämonen dann auftauchen, wenn das Leben Krisen auftut. Dann weiß man jedoch nicht, ob die Dämonen sie verursacht haben oder ihr Auftreten erst dadurch ausgelöst wurde.

Dämonen dürften Traumata nur bei ihrer emotionalen Belastbarkeit ähneln. Dämonen sind wohl eher nicht mit großen negativen Erlebnissen, also Schocks, verbunden.

Viele gehen mit ihren Dämonen offen um. So hoffen die auf Erleichterung, da sie sie mit anderen teilen. Vielleicht könnten die anderen auch darauf Rücksicht nehmen. Viele werden sie aber auch verschweigen, um nicht als schwach zu gelten oder ausgenutzt zu werden.

Bei einer Nachfrage wüsste ich nicht zu äußern, welcher Dämon für mich der stärkste und bedeutendste wäre. Vermutlich würde ich so agieren wie bei einem Vorstellungsgespräch, indem ich vermeintliche Schwächen anführen würde, die man aber auch positiv wenden könnte. Den Dämon aber würde ich in meiner inneren Welt weiter bekämpfen.

Karrierezwang

In einem aktuellen Film sah ich eine Szene, in der eine junge talentierte Frau gefragt wird, wieso sie Karriere machen will. Sie antwortet: „ich weiß es eigentlich nicht. Ich brauche es einfach.“

Ich habe mich immer gefragt, wann Vorgesetzte und andere Entscheider einen Karriereschritt unterstützen. Es gibt wohl viele intuitive, alltagsverpflichtete und persönliche Gründe: da rekrutiert man seinesgleichen; da glaubt man entscheidende Talente zu entdecken; da wirkt Sympathie, da man mit einer Person gut kann; da wird man von Höflichkeit und Aussehen verführt usw.

Rationalität entfaltet jedoch nur ein belastbares Profil von Führungskräften, das zur Kultur des Unternehmens sowie zu seiner strategischen Ausrichtung passt. Ewige und universale Führungskompetenzen gibt es nicht, Profile variieren. Sie können eben nicht überall die gleichen sein. Das erkennt man schon alleine bei der Unterscheidung von Positionen eines Generals in der Armee und dem Spielführer einer Sportmannschaft. Sie müssen Unterschiedliches mitbringen.

In größeren Unternehmen und im öffentlichen Dienst gibt es immerhin so etwas wie eine theoretische wie praktische Fundierung mittels Beurteilungssystemen und Kennzahlen. Dort sind auch Führungskräfteprofile in Übung. Für wohl 90 % der Betriebe ist das wohl nur eine bloße Illusion.

Zurück zu den Anwärtern: wieso eigentlich will man Aufstieg, Karriere, Laufbahn und Führung? Was treibt Menschen dazu, mehr Arbeit und Stress auf sich zu nehmen? Welcher Mehrwert ist für sie damit persönlich verbunden?

Ich kenne einige Personen, die immer klar gemacht haben, dass sie Chefs werden wollen. Sie ziehen daraus ganz offensichtlich eine persönliche Befriedigung. Vermutlich würden sie auch in Tests entdeckt, dass ihre Motive sie dazu treiben.

Wir lehnen uns zufrieden zurück, wenn wir von Menschenbildern wie dem homo sapiens oder dem homo oeconomicus hören. Es muss sie wohl geben, die so sind. Sie machen eben einen bestimmten Anteil der Menschheit aus. Auch in einer Gruppe verteilen sich üblicherweise die Rollen, immer auch mit einem Anführer.

Doch was ist das Grundmotiv? Ist es Gestaltung, Selbstwirksamkeit, Macht, Lust zu Bedeutung, Risiko, Streben nach Status und was sonst noch in Frage kommt. Vielleicht verbergen sich aber auch Sätze dahinter wie: ich will einfach etwas tun; ich glaube, ich kann das; ich möchte wirksam sein; ich will mit meinem Leben etwas anfangen.

Was passiert denn eigentlich bei diesen Menschen in ihrem privaten Umfeld? Sind sie dann anders? Oder wollen sie dort ebenso Bestimmer sein? Mein Erfahrungsumfeld sagt, dass solche Menschen nicht unterscheiden können. Wieso auch? Sollte man einen Unterschied zwischen privatem und persönlichem Umfeld machen (können)?

Ein Grundantrieb dürfte sein zu gestalten. Es dürfte auch das Gespür für Energie sein. Sicherlich gehört auch Neugierde dazu, um etwas zu erkunden, was man nicht kennt. Weiter ist es wohl Experimentierfreude. Schließlich dürfte auch Lust am Wettbewerb hinzukommen.

Eine andere Seite könnte die Gier nach Aufmerksamkeit sein, das Sonnen im Staunen seiner Mitmenschen, die Sucht, nicht alleine sein zu können und sich in der Beobachtung anderer zu spiegeln. Weiter geht Führung auch damit einher, über andere Menschen zu bestimmen. Führung ist dabei komplex, da sich dahinter Erziehung, Fürsorge, Unterdrückung, Manipulation und Ausnützen die Waage halten können.

Es gibt die berühmte Bedürfnispyramide von Maslow. Dort scheint mir der Zwang des Menschen nicht ausreichend scharf repräsentiert, seine innere Energie für ein Ziel – gleich welchen Inhalts – einzusetzen. Davon Betroffene können nicht anders. Der Glaube an die eigene Führungsqualität kann eine Sucht sein. Dass es eine Erkrankungsfalle, glaube ich nicht.

Ich bin mit mir im Reinen

Also muss ich mit Dir – der Du mir da begegnest – nicht im Reinen sein. Denn meine Leitschnur ist eine andere. Es ist ohnehin wichtiger, wenn ich mich nicht mit ständigen Kontroversen zum Grübeln zurückziehen muss.

Kanzlerin Merkel hat dies nach der Flüchtlingskrise gesagt. Damit gab sie der deutschen Öffentlichkeit kund, dass sie trotz dieses Rucks der Öffentlichkeit nach rechts weiterhin derselben Überzeugung ist wie zuvor.

Was wäre, wenn wir alle eine solche Haltung hätten? Wie sehe die Gesellschaft aus, wie Familie oder Schulklassen? Wäre dann nicht das ‚basta‘ in uns allen programmiert? Wann also darf man sozial verträglich sagen, dass ‚ich bin mit mir im Reinen‘ ok ist?

Der Kuchen an seelischer Reinigkeit ist und bleibt begrenzt. Denn eine umfängliche Reinigkeit aller und jeder verbietet sich schon logisch. Es ist wie der Konflikt zwischen Gleichheit und Freiheit.

Dennoch gibt es Konflikte im Inneren eines Menschen, die ein Maß annehmen können, das schwer erträglich ist. Was bedeutet dann, mit sich im Reinen zu sein? Habe ich die Konflikte dann gelöst oder sie einfach für beendet erklärt? Es klingt nämlich so, als ob man seine Überzeugung unter Abwägung aller Widersprüche gefunden habe.

Auch wenn sich dieser Zustand nicht erreichen lassen sollte, so ist schon alleine die Vorstellung davon ein Fortschritt. Denn das Gefühl frei von Konflikten zu sein, ja rein – ist wie das Gefühl, gewärmt und gewaschen aus der Badewanne zu steigen. Noch besser ist es, sich vorzunehmen, genau diesen Zustand anzustreben, also eines Tages dahin zu gelangen, mit sich im Reinen zu sein.

Hausgemeinschaft – dieses ehrenwerte Haus

Das Haus, in dem ich wohne, hat sich einen Mythos gegeben: es soll harmonisch, wertschätzend und zivilisiert sein. Man lächelt einander zu, wenn man sich trifft, man erkundigt sich, man hält sich höflich die Tür auf. Gar veranstaltet man ein Hoffest miteinander, um miteinander zu plauschen und guten Wein zu genießen. Man ist schwer politisch korrekt!

Es hat sich allerdings ein Streitfall entwickelt: eine Gruppe will einen Außenfahrstuhl im Innenhof bauen. Besonderes Motiv ist der möglichst beschwerdefreie Zugang zur eigenen Wohnung für diejenigen, die in den oberen Stockwerken wohnen. Damit versichern sich die Bewohner, dass sie bis ins Alter dort verbleiben können.

Daraus ist eine Auseinandersetzung geworden. Es geht nicht so weit, dass es ein Krieg ist. Aber es rüttelt an dem Mythos der Hausgemeinschaft. Entladen hat sich der Meinungsstreit auf einer Sitzung der Eigentümer. Die Befürworter hatten ihre Planungen dargelegt und ein Gespräch angeboten, um Detailfragen zu klären. Darauf hin kündigten die Gegner an, bei einem Mehrheitsbeschluss zu klagen. Das sieht das entsprechende Gesetz vor.

Die Gegner aber wollten sich nicht nur des Gesetzesrechts versichern, sondern auch, moralisch recht zu behalten. Erst waren sie Opfer, die unzumutbare Nachteile bei Lärm, Helligkeit und Schmutz in Kauf nehmen mussten. Dann warben sie fürsorglich für eine Einstellung der Planungen, damit sich die Befürworter nicht finanziell belasten mögen. Schließlich schossen sie ein moralisches Trommelfeuer ab, dass die Planungen unsauber seien, die Statik des Hauses bedroht wäre, die Wohnungen an Wert verlieren würden, der hübsche Innenhof kastriert würde und einiges mehr. Schließlich waren sie sich der Legitimität ihrer Gegnerschaft bewusst.

Zudem bewegten sie noch die Diskussion dahin, dass die Befürworter ihre Versprechen nicht erfüllt hätten: sie hätten keine Alternativen aufgezeigt, keine Rücksicht genommen – sie seien ihrer Dienstleistung nicht nachgekommen. Wer etwas verändern will, muss schließlich einen Mehrwert für alle schaffen.

Angesichts der polternden Darstellung kann man sich sicher sein, dass die Gruppe jegliches Recht auf ihrer Seite sieht. Dennoch versteht sie sich nicht Interessengemeinschaft, sondern als einzige Repräsentation von Gemeinschaft. Die intendierte Veränderung wird als Verrat interpretiert.

Hier vollzieht sich also das immer gleiche Verfahren, sich zum Kern der Wahrheit zu machen und die anderen als Renegaten zu verunglimpfen. Es ist wie bei der AfD, sich als Wahrer des Deutschtums zu definieren und die anderen als Vaterlandsignorant zu entlegitimieren.

Der Medienwissenschafter Pörksen hat in einer einsichtigen Analyse das Presseverhalten am Tag des jüngsten Terroranschlages in Münster den Mechanismus geschildert: man schwingt seine Wahrheit – und somit sich selbst – immer höher auf, um gehört zu werden.

Ich frage mich anhand der Rechtstopos des billigen Ermessens, ob sich die Fahrstuhlgegner ihrer Manipulation bewusst sind – und die Unfairness billigend in Kauf nehmen. Wahrscheinlich ist genau die Grenze ihrer Einsichtsfähigkeit dort erreicht, wo klar wird, dass sie unethisches Terrain betreten. Sie sind schlicht Vertreter ihrer Interessen, nicht der des Hauses. Und ich glaube, dass dies die bitterste Pille zum Schlucken wäre – bitterer als der Aufzug.

Der Mord nebenan

Gelegentlich im Leben passiert es: in räumlicher Nähe kommt ein Mensch gewaltsam zu Tode. Der Mensch ist wohl stets gerührt von einem solchen Thema, da er territorial veranlagt ist.

Ich hatte das auch schon mehrnals erhebt, zuletzt im Winter, als ein Pfarrer der benachbarten französischen Gemeinde von einem aufgenommenen Flüchtigen ermordet wurde. Kürzlich teilte mir jemand mit, dass in seiner Nähe der Sohn seinen Vater geköpft habe, der ihn Zeit seines Lebens drangsaliert hatte.

Es ist überhaupt erstaunlich, wie häufig das Leben dies erbringt. Das hat aber sicherlich sich damit zu tun, wenn man in einer Großstadt wohnt. Denn dort passieren statistisch eben mehr Morde.

Andererseits lesen wir Krimis oder schauen wir Kriminalfilme, in denen täglich das widerfährt, was uns nur selten in Realität erwischt. Wir lieben wohl einfach den Abgrund, der uns selten konkret erreicht – und wenn er da ist, dann auch daran teilhaben zu können.

Mein Vater erzählte mir von einem Bekannten, der einst in einer Auseinandersetzung auf der Straße erstochen wurde.

Und immer ist das Gefühl: irgendwie war ich nahe dran. Eigentlich bin ich fast Opfer, fast Teil des Mordes. Was nur treibt den Erzähler des Mordes, ihn zu dramatisieren? Ist das unerklärlicher Schauder? Ist es der Drang, Aufmerksamkeit zu erzeugen? Ist es also nur das fishing for attraction?

Man stelle sich nur vor, man würde tatsächlich involviert! Das sehe dann völlig anders aus. Denn die Betroffenheit wäre real, vielleicht gar mit einer handfesten Bedrohung. Dann würde man über den Mord von nebenan wohl anders sprechen.

Der Hass auf das Herkunftsland

Ich kenne zwei Menschen ganz gut, die sich in Wort und Tat gegen ihre Heimat auflehnen: der eine ist Niederländer und hadert mit seinen ewig freundlichen und aufgeräumten Landsmännern. Für ihn sind die Niederlande einfach zu laut, zu nett, zu gut. Ihn nervt kolossal dieser Vorzeigestatus, der die Nennung etwaiger Nachteile zur Petitesse macht.

Die andere ist Schwedin und verachtet die Dominanz des politischen Liberalismus in ihrem Heimatland. Die Offenheit, mit der auch private Angelegenheiten ans Licht gezerrt werden, deutet sie als eine unbotmäßige Einmischung in persönliche Angelegenheiten. Zuwider ist ihr auch die Unmöglichkeit, dagegen zu sein. Und auch sie: das ist mir zu viel Bullerbü.

Die beiden fallen mir sofort ein, wenn Menschen über ihre Heimat herziehen. Ich selbst assoziiere mich nicht mit diesen Menschen, die ihre Heimat vergöttern. Ich belächele eher meinen Stuttgarter Hintergrund. Irgendwie fallen mir dazu Schildbürger und Schlümpfe ein. Immerhin verteidige ich auch meine Mitschwaben gegen Ressentiments: so gibt es tatsächlich so etwas wie einen schwäbischen Humor.

Doch auch andere Landsmänner blicken zurück im Zweifel. Ein Österreicher beispielsweise muss dieser Tage ertragen, wie sein Land hin zu einem Zustand kippt, den man kaum mehr rational nennen kann.

Eine gebürtige Weißrussin erzählte mir, dass das Image ihres diktatorischen Heimatlandes überhaupt nicht auf die Realität zuträfe. Die Jugend würde einfach keine Notiz von den Restriktionen nehmen: man feiere weiter.

Und natürlich gibt es diejenigen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg und wirtschaftlicher Misere verlassen mussten. Es lässt sich wider Erwarten beobachten, dass es ausgerechnet die sind, die leiden und gleichzeitig ein Hohelied auf ihre Heimat singen. Das mag damit erklärbar sein, dass sie eben unfreiwillig ihre Heimat verloren haben: deswegen hängen sie an ihr.

Wahrscheinlich muss man schließen, dass entschlossene Heimatkritiker gute Beobachter sind. Sie reflektieren, wägen ab und ziehen Schlussfolgerungen. Leider bekommen sie dadurch keine Freunde. Sie werden jedoch mit neuen Eindrücken andernorts entlohnt.

Der ‚wie geht es mir‘-Test

Ein junger Schauspieler wurde in einer Talkrunde recht unvermittelt gefragt, ob er sich häufiger im Spiegel anschaue.

Die Antwort war erstaunlich: ich mustere mich nicht im Spiegel. Ich schaue mir in die Augen, um zu wissen, wie es mir geht. Den Blick auszuhalten zeigt, dass man gerade mit sich im Reinen ist. Nur das wäre wichtig, wenn man in den Spiegel schaut.

Das war mir völlig neu. Ist es wirklich schwierig, seinen eigenen Blick auszuhalten? Ist das nicht nur der Fall bei anderen, die einen anschauen? Und gibt es nicht sogar eine natürliche zeitliche Länge, mit der man einen Blick aushält?

Seinen eigenen Blick zu mustern, ist nicht unähnlich dem Mustern seiner Körperteile oder seines Aussehens. Immer versucht man durch leichtes Bewegen, Drehen und Wenden, eine gute Figur zu machen. Müsste das dann nicht auch automatisch passieren, wenn man sich in die Augen blickt?

Natürlich sind die Augen die Eingangstore der Seele. Deswegen vermutlich blickt man auch niemals Menschen über einen kritischen zeitlichen Rahmen hinaus in die Augen. In den USA kann das schon einmal zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Aber auch der Satz ‚was guckst Du?‘ zeigt die Empfindsamkeit vor allem jüngerer Menschen, oft auch von Menschen bestimmter Kulturkreise, soweit man ihnen in die Augen schaut.

Ist man denn tatsächlich in der Lage, seine eigene Stimmung und Wohlbefinden zu analysieren, wenn man keinerlei Übung mit anderen Menschen hat. Was sind denn überhaupt Zeichen dafür, dass Augen eine helle oder dunkle Stimmung verraten? Und ich meine nun nicht den Grundcharakter des Blicks und der Augen, sondern die Varianten bei einem einzigen Menschen.

Vielleicht reagiert bei diesem Test aber auch das Augenpaar, wenn man sich selbst mustert. Vielleicht bricht man in Tränen aus, wenn man zu bohren sucht. Oder aber man macht mit den Augen irgendwelche Faxen, um anzudeuten, dass man lustig gestimmt ist.

Man muss es wohl einfach häufiger ausprobieren, ob dieser Test Sinn macht.

Dem Lächeln der Zähne erlegen

Kürzlich traf ich eine jüngere Frau, die dieses Lächeln hatte, was wir entwaffnend nennen würden. Wieso das ‚entwaffnend’ heißt, würde ich auch gerne wissen.

Kleine Kinder haben das auch. Auch wenn sie etwas ‚angestellt‘ haben, ist eine Maßregelung schon aufgrund des Lachens unmöglich. Es ist aber auch sinnlos, da die Reife nicht vorhanden ist. Dazu kommt dieses Glucksen, das uns alle innerlich erfreut.

Ich las einst, dass Lächeln und damit die Erzeugung von Sympathie abhängig ist von der Zahnreihe ist: die Schneidezähne lang, die Nachbarzähne kurz. Vielleicht weist das ja auf eine Zeit, also wir uns vor markigen Eckzähnen fürchten mussten.

Andererseits sah ich ein Poster von Helene Fischer, auf dem ihre fiesen Eckzähne durch den Photoshop noch gestärkt wurden. Das sah eher aus wie ein Engels gleicher Vampir. Es störte!

Kann es tatsächlich sein, dass ein Muster so durchdringt, dass unser Werturteil dadurch beeinflusst wird? Ich glaube ja: denn die Glaubwürdigkeit des Gegenübers wird in hohem Maße dadurch bestimmt, ob sie oder er in unsere schematisches Muster passt, das wir jedem auferlegen.

Man sollte den Test machen, indem man sich selbst im Jetzt überprüft; aber auch die Menschen an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lässt, mit denen man Umgang hatte. Die harte Frage ist: welchen Einfluss spielt die Zahnreihe?

Dazu fällt mir ein, dass es kaum Stars gibt, die seltsame Zähne haben. Da ist Jürgen Vogel; dort ist Vanessa Paradis; dann gibt es Politiker, die nicht mehr lachen, wie Wolfgang Schäuble; oder Wolfgang Neuss, der keine Zähne mehr hatte.

Ich erinnere mich an eine Szene in einem Buch von John Irving, in dem er eine Szene beschreibt, wie er als Junge von einer älteren Frau zu einem Zungenkuss genötigt wird, die keine Zähne hat.

Andererseits ist die Makellosigkeit einer Zahnreihe auf den Titelbildern von TV-Magazinen seltsam: sie sind immer perfekt – also ohne jegliche Anomalie; mathematisch symmetrisch; vollständig geformt; blanchiert.

Überhaupt scheint sich das Zeigen der Zähne vom Tierreich entfernt zu haben: dort ist Fletschen Bedrohung und Warnung zugleich; bei Menschen ist es wohl eher eine Einladung. Wir essen einander schließlich nicht.

Zähne sind aber auch Status des Wohlstands. Jürgen Klopp beispielsweise hat blanchierte Zähne.

Tatsächlich sind Zähne bei der Bewertung von Menschen, die man neu trifft, völlig unterbewertet. Auch wenn man sie nicht nachzeichnen kann, spielen sie wohl doch unterhalb rationalen Funktionierens eine bedeutsame Rolle.