Das Haus, in dem ich wohne, hat sich einen Mythos gegeben: es soll harmonisch, wertschätzend und zivilisiert sein. Man lächelt einander zu, wenn man sich trifft, man erkundigt sich, man hält sich höflich die Tür auf. Gar veranstaltet man ein Hoffest miteinander, um miteinander zu plauschen und guten Wein zu genießen. Man ist schwer politisch korrekt!
Es hat sich allerdings ein Streitfall entwickelt: eine Gruppe will einen Außenfahrstuhl im Innenhof bauen. Besonderes Motiv ist der möglichst beschwerdefreie Zugang zur eigenen Wohnung für diejenigen, die in den oberen Stockwerken wohnen. Damit versichern sich die Bewohner, dass sie bis ins Alter dort verbleiben können.
Daraus ist eine Auseinandersetzung geworden. Es geht nicht so weit, dass es ein Krieg ist. Aber es rüttelt an dem Mythos der Hausgemeinschaft. Entladen hat sich der Meinungsstreit auf einer Sitzung der Eigentümer. Die Befürworter hatten ihre Planungen dargelegt und ein Gespräch angeboten, um Detailfragen zu klären. Darauf hin kündigten die Gegner an, bei einem Mehrheitsbeschluss zu klagen. Das sieht das entsprechende Gesetz vor.
Die Gegner aber wollten sich nicht nur des Gesetzesrechts versichern, sondern auch, moralisch recht zu behalten. Erst waren sie Opfer, die unzumutbare Nachteile bei Lärm, Helligkeit und Schmutz in Kauf nehmen mussten. Dann warben sie fürsorglich für eine Einstellung der Planungen, damit sich die Befürworter nicht finanziell belasten mögen. Schließlich schossen sie ein moralisches Trommelfeuer ab, dass die Planungen unsauber seien, die Statik des Hauses bedroht wäre, die Wohnungen an Wert verlieren würden, der hübsche Innenhof kastriert würde und einiges mehr. Schließlich waren sie sich der Legitimität ihrer Gegnerschaft bewusst.
Zudem bewegten sie noch die Diskussion dahin, dass die Befürworter ihre Versprechen nicht erfüllt hätten: sie hätten keine Alternativen aufgezeigt, keine Rücksicht genommen – sie seien ihrer Dienstleistung nicht nachgekommen. Wer etwas verändern will, muss schließlich einen Mehrwert für alle schaffen.
Angesichts der polternden Darstellung kann man sich sicher sein, dass die Gruppe jegliches Recht auf ihrer Seite sieht. Dennoch versteht sie sich nicht Interessengemeinschaft, sondern als einzige Repräsentation von Gemeinschaft. Die intendierte Veränderung wird als Verrat interpretiert.
Hier vollzieht sich also das immer gleiche Verfahren, sich zum Kern der Wahrheit zu machen und die anderen als Renegaten zu verunglimpfen. Es ist wie bei der AfD, sich als Wahrer des Deutschtums zu definieren und die anderen als Vaterlandsignorant zu entlegitimieren.
Der Medienwissenschafter Pörksen hat in einer einsichtigen Analyse das Presseverhalten am Tag des jüngsten Terroranschlages in Münster den Mechanismus geschildert: man schwingt seine Wahrheit – und somit sich selbst – immer höher auf, um gehört zu werden.
Ich frage mich anhand der Rechtstopos des billigen Ermessens, ob sich die Fahrstuhlgegner ihrer Manipulation bewusst sind – und die Unfairness billigend in Kauf nehmen. Wahrscheinlich ist genau die Grenze ihrer Einsichtsfähigkeit dort erreicht, wo klar wird, dass sie unethisches Terrain betreten. Sie sind schlicht Vertreter ihrer Interessen, nicht der des Hauses. Und ich glaube, dass dies die bitterste Pille zum Schlucken wäre – bitterer als der Aufzug.