Ministerien dienen

Ministerien von Staaten können immer wieder neu begründet werden, wenn einzelne Themen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In den letzten Jahren machten zwei Entwicklungen Furore.

Zunächst legendär ist das Ministerium für Glück im Bhutan 2010. Denn es setzte ein echtes Zeichen. Und in 2018 kam dann das Ministerium für Einsamkeit im Vereinigten Königreich hinzu.

In Deutschland gibt es nur ein Kunstprojekt, das diesen Namen trägt, das Ministerium für Glück und Wohlbefinden: https://ministeriumfuerglueck.de/. Darunter wurden Aktionen und Workshops, wie für das positive Mindset durchgeführt.

Die Idee des Bruttonationalglücks will das BNP ersetzen, das auf wirtschaftlichem Wohlstand basiert: „Das Bruttosozialglück steht (im Gegensatz zum Bruttonationalprodukt) für die Idee, dass das Weiterkommen einer nachhaltig zusammenwachsenden Gesellschaft davon abhängt, dass eine Balance zwischen materiellem und emotionalem Wohlbefinden besteht. Ein ganzheitliches Zusammenspiel von spirituellen und kulturellen ebenso wie materiellen Inspirationsquellen fördert die positive Entwicklung der Menschen, die sich als Teil der Gesellschaft geschätzt und wahrgenommen fühlen. Dies macht die Qualität einer geistig gesunden Gesellschaft und dadurch auch starken Nation aus.“ (aus: https://www.bhutan-horizonte.de/bhutan-bruttonationalglueck.html)

Zwischenzeitlich gibt es viele andere Initiativen, wie für ein Schulfach Glück.

Anbieter von Trainings nehmen sich dessen an, wie das Glücksinstitut in Berlin.

Die Staatsräson nähert sich den modernen Bedarfen an, die eben nicht mehr nur materielle sind, sondern die Bedürfnispyramide von Maslow hochgeklettert sind. Denn zwischenzeitlich gelten Sicherheit, Ernährung und Wohnen als garantiert.

Dass die US-Verfassung the pursuit of happiness zum Staatsziel gemacht hat, gründete möglicherweise auf einem Irrtum. Denn Glück sollte hierbei nicht sein, was man 250 Jahre später darunter versteht. Es ging damals eher um ein Ankommen in einer Heimat, die man in Selbstverantwortung gestalten konnte – angesichts der Erfahrungen in Europa, wo Krankheit, Bevölkerungsdruck, Krieg und religiöse Auseinandersetzungen tobten.

Es könnten in Zukunft noch viele weitere Ministerien dazu kommen, wie für Lebenserfüllung. Dann würde der Staat tatsächlich eine neue historische Phase eingeleitet haben. Gerade in einer Zeit, in der jeder seine Freiheit nutzen können will, glaubt man, sich auf einen realen Umsetzer verlassen zu müssen. In der Zeit vor der Aufklärung war es Gott, auf den man sich verließ. Jetzt sind es die Kommunalverwaltungen, das Parlament und der Regierungsapparat, die es richten sollen.

Verschwörungstheorien

Ich weiß nicht, ob man sich über Verschwörungsthesen sorgen sollte. Man müsste zunächst versuchen zu spekulieren, welche negative Folgen überhaupt daraus erwachsen können.

Bei einer Prüfung sollte man nicht vergessen, auch eine mentale oder kognitive Erkrankung in Erwägung zu ziehen. Zumindest dürften die Geschichten nicht der alltäglichen Logik und dem durchschnittlichen Weltwissen entsprechen. Immerhin geraten hier Bilder, Worte und Logiken wild durcheinander, also ob jemand ein Puzzle gestartet und fehlerhaft zusammengesetzt hätte. Dieser Mangel an Norm-Normalität könnte als Krankheit verstanden werden.

Man müsste auch versuchen zu analysieren, wer solche Verschwörungs-Erfinder sind: wollen die nur wichtig sein? Glauben sie, zu den Auserwählten zu gehören, die die Welt erklären können? Ist es das schaurige Gefühl, Mitmenschen beeindrucken zu wollen?

Ich kenne dies anders gewendet: „Ich kenne den besten Honig-Macher der Stadt“ ist die recht unbescheidene Vorstellung, selbst den Meister zu küren; mit ihm auf Augenhöhe und Kontakt zu sein; und damit werter als andere zu sein.

„Ich habe gestern den Spitzenpolitiker x gesehen. Ich habe mit ihm nicht gesprochen.“ Und schon wieder fällt auf den Erzähler der Glanz des Namens und die Prominenz des anderen.

Tatsächlich lassen sich Menschen von solcherlei beeindrucken – würden sie nicht sonst dieses Muster nachahmen und sich selbst darstellen?

Der Voyeurismus angesichts von Unfällen entspringt wohl einer ähnlichen Logik.

Andererseits gibt es den Schauer des Geheimnisses, der Mystik und der Exklusivität. Es sind die Exzellenz und die Überlegenheit, die einen reizen, sich als Wissende mit anderen zu vergleichen.

Verschwörungen sind ja nichts anders als fehl geleitete Mutationen von kognitiven Gewittern. Sie sind ein wenig wie biologische Fehler, die aber in Wirklichkeit eine Wirkung entfalten.

Im Mittelalter nannte man das noch Aberglaube. Der aber jedoch wurde von der Kirche definiert, die nach dem Wesenskern des Katholizismus nur den einen Glauben zuließ. Damit ähnelt sie zumindest der säkularen Variante der Wahrheit heutzutage. Maßstab von Wahrheit heute ist Wissenschaft.

Verschwörungsthesen sind harmlos, sollen doch die Theoretiker vor sich brabbeln. Es wird nur dann gefährlich, wenn sich die Anhänger zum Handeln berufen und genötigt fühlen, um irgendein Gut zu bewahren. Ein düsteres Beispiel dafür dürfte die Hexenverfolgung sein, als man vermeintlich den Bösewichtern habhaft wurde.

Es handelt sich dabei um einen kollektiven Wahn. Wie häufig nur liest man von den Sekten, die sich dem Hier und Jetzt durch kollektiven Selbstmord entziehen? Die glaubt, dass das Ende der Zeit angebrochen sei?

Wie der Schwur in das Wort Verschwörung kommt, weiß ich indes nicht: vielleicht geht es in der Tat immer nur um das Zusammensein im Anderen. Das ist auch schön als Gefühl: man ist anders als die Mehrheit; und dennoch nicht alleine.

Von laut und leise

Menschen sind sehr unterschiedlicher Lautstärke: die einen sind leise, die anderen lautstark. Beides kann auf die Mitmenschen magisch wirken; das hängt von ihren Dispositionen und aktuellen Stimmungen ab.

Die Bedürfnisse der Hörer sind eine Mischung von aktuellen und strukturellen Elementen. Aktuell ist die Stimmung, ob man eher Ruhe oder Aufregung sucht. Das Alter kennt unterschiedliche Toleranzen. Zudem spielt wohl auch der Stress eine Rolle, der beispielsweise bei Hitze steigt. Strukturell sind Menschen wohl in starker Abhängigkeit von der Lautstärke, wenn sie Menschen bewerten.

Typen könnten die Beweger sein, die an ADHS leiden oder Jugendgangs anführen. Sie sind wie von einer Winde angezogen und spulen sich einfach ab. Typen sind auch die solitären Schweiger, die da sind, ohne dass sie bemerkt würden.

Es gibt ein Bedürfnis nach Schweigen: vor vielen Jahren las ich ein Interview mit Larry Hagman, der in Dallas JR Ewing spielte. Es hatte sich zur Regel gemacht, sonntags einfach nicht zu reden: „Man spricht ohnehin zu viel, vor allem als Schauspieler.“ Und just das hat gerade Emma Thompson in einem Interview auch gesagt. Schweigen sei ihr Normalzustand.

Schweigen wird auch als eine Methode verstanden, sich nicht zu versündigen und sich rein zu halten. Das Schweigegelübde der mittelalterlichen Orden sollte das individuelle Verhältnis zu Gott vertiefen helfen. Und tatsächlich stellte sich eine gesamte Bewegung in den Dienst des Schweigens, nämlich die Kartäuser Bewegung.

Die Abkehr vom Weltlichen lässt sich in der Klosterpraxis sehen, die heutzutage gestresste Unternehmer zum Innehalten einlädt. Das zeigt sich auch in säkularem Firmen, wie Orten der Einsamkeit:

https://m.spiegel.de/reise/fernweh/extrem-abgelegene-hotels-still-weit-weg-a-1286406.html

Gleichzeitig aber gibt es Menschen, die Lautstärke brauchen. Dann fällt mir immer der Spanier an sich ein. Ich glaube, dass er sich einsam fühlt, wenn nicht jemand in seiner unmittelbaren Umgebung laut spricht, ja schnattert.

Ich mag Musik, nur wenn sie laut ist, singt Herbert Grönemeyer über die Tauben.

Unglücklich

In einem Radiobericht zu Intel in Kenia hörte ich einen Läufer zitiert werden, wie er seine Zukunft einschätzen würde, wenn er kein Profi würde.

Ich lebe in einer Wellblechhütte mit meiner Familie.

Ich habe studiert; ich bin Ingenieur.

Trotzdem habe ich keinen Job, weil mir mein Land keinen anbieten kann.

Ob ich glücklich bin? Ja!

Ich habe nicht die Möglichkeit, mein Glück von materiellen Dingen abhängig zu machen.

Außerdem darf man nicht unglücklich sein: sonst wird man krank

Das Leben ist schön, dass macht mich glücklich!

S.a.https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/abseits/202002/16/kenia-hoehentraining-laeufer.html

Diese Begründung von Glück mag den Zuhörer überraschen. Denn Glück als Gegengewicht der Krankheit gegenüber zu stellen und als Trotz gegen entgangenen Wohlstand, würde uns in Europa nicht einfallen. Denn wir betrachten Glück als einen erstrebenswerten Zustand an sich.

Gleichwohl ist der Begriff frei für jegliche Befüllung: er könnte Zufriedenheit bedeuten, eben Wohlstand, sich glücklich schätzen, gesund, erfüllt sein usw. Natürlich überlappen sich die Konzepte, doch immerhin haben sie allesamt in unserer Wahrnehmung eines gemein: es sollte ein Zustand sein, den man sich erarbeitet; auf den man hinstrebt; der erst später im Leben kommt; und der möglichst dauerhaft ist.

Nicht vorgesehen sind glückliche Momente. Auch ist befremdlich, glücklich zu sein, wenn man das nicht objektiv nachweisen kann: ein bloßes subjektives Glücksgefühl wird sicherlich zumindest von uns Deutschen hinterfragt.

Glückselig ist ein Zustand, den man mit Stirnrunzeln hinterfragt: dieses ewige Lächeln ob der Geburt eines stolzen Kindes oder über die Vermählung mit einem Partner provoziert so manchen: komm doch jetzt endlich mal wieder runter! Schlimmer noch werden die spirituell Verklärten geahndet, indem man ihnen nachsagt, gedreht worden zu sein: dieses ständige Lächeln der Mitglieder einer Sekte x oder y ist dem Wahnsinn nahe.

So darf auch niemand unglücklich sein, der eigentlich alles hat: ein Haus, eine Familie, persönliche Gesundheit und einen guten Job. Nach deutschen Maßstäben hat der eben alles.

„Glück gehabt“ kann ins Negative fallen: dieser Typ hat den Karriereschritt oder den Lottoscheinen gar nicht verdient. Das ist ja nur Zufall. Glück gehabt würde man aber auch sagen, wenn jemand drohendem Schaden entgangen ist, wie bei einem Unfall, bei dem man hätte verletzt werden können.

Wie man es auch mit dem eigenen Glück hält: die Umwelt könnte es anders bewerten. Besser also erfindet jeder sein eigenes Glück. Auch das Placebo alleine schon hilft!

Was hätte nur alles schief laufen können!

Um sich vorzustellen, was einem das Leben gegeben hat, kann man sich ausmalen, was alles hätte scheitern können – absehbar oder zufällig.

Man nehme ein Blatt Papier und einen Stift; man male einen Strich für die Dauer des Lebens – und sortiere es in Abschnitte – je nach Phasen (seien es Orte, Partnerschaften, berufliche Abschnitte oder anderes). Man könnte die Brüche markieren, die so etwas wie Veränderungen oder Wendepunkte darstellen. Das könnten Trennungen, Krankheiten und irgendwelches Scheitern sein.

Und das könnte man auch erweitern: denn gerade in den stabilen Phasen geschieht nichts zum Schlechten: es war gut. Man könnte sich ausmalen, was passiert wäre, wenn … Denn gelegentlich deuten sich mögliche Katastrophen an – manchmal kommen sie aber auch unvermittelt. Dies ließen sich eintragen oder aufmalen.

Man könnte sich aber auch vorstellen, wie man sich in Krisen verhielte. Dazu reicht ja eigentlich schon ein einziger Angsttraum bei wachem Zustand. Da jeder ihm bewusste Ängste hat, kann man leicht daran anknüpfen. Vielleicht würde man spontan sagen, ‚das hielte ich nicht aus‘; ich würde wohl zusammenbrechen.

Aber ist es richtig, dass wir immer gleich kollabieren – in der Wunschvorstellung, wir würden ohnmächtig werden und beim Erwachen uns angepasst oder erfolgreich gertettet haben?

Ich selbst machte früher immer Späße darüber, dass ich wohl als Folter bewerten würde, wenn ich in einer Telefonzelle eingesperrt wäre und alle Lieder von Peter Maffey hören müsste. Doch ernsthafter geht es auch: was passierte, wenn ich gelähmt wäre; wenn ich keine bezahlte Arbeit finden würde; wenn ich meine Lieben verlöre und und und. Tatsächlich ist das ein oder andere eingetroffen. Doch bin ich nicht zusammengebrochen oder verrückt geworden.

Der Mensch ist eben wie eine Ratte: er überlebt allerhand. Wenn wir auch wissen, dass es so etwas wie ein Broken Heart Syndrom gibt; so sind wir doch überrascht, wie selten man dem erliegt. Viel viel häufiger – und in raschem zeitlichem Abstand – hat man einen Verlust und ein Scheitern kompensiert. Das ist das Erstaunliche an der Menschheit, aber auch an jedem einzelnen Menschen: er ist fähig zur Veränderung.

Was hätte nur alles anders laufen können?

Welche Schuhe will ich?

Kürzlich sah ich eine berühmte Schauspielerin in einem Café, Susanne Wolf. Sie trug golden schimmernde Schuhe. Auch trug sie viel Fingerringe und Nagellack. Das hat mich seltsam bestürzt. Denn es zwang mir die Frage auf, wieso man wohl solche Schuhe trägt.

Wieso eigentlich will ich bunt erscheinen, extravagant, anders? In jedem Fall will ich meiner Umwelt eine Botschaft geben: „ich bin anders als Ihr!“ „Ich bin hip.“ „Ich bin eben bestimmt nicht abhängig von Eurer Zustimmung.“

Meist werden die bunten Kleidungsgegenstände jedoch damit erklärt, dass sie sich eben darin wohlfühlen. Daran hege ich Zweifel. Denn man trägt solcherlei Dinge eher meist im öffentlichen Raum. Die Jogginghose und das T-Shirt dürften wohl die Wahl der Stunde sein, wenn es um den häuslichen Komfort geht.

Anyway: wenn ich mir also Schuhe kaufen sollte, dann dürfte das doch wahrscheinlich eher danach zu entscheiden sein, welche Funktion sie übernehmen. Fußballschuhe nutzt man nicht zum Tanzen!

Dann jedoch kommt das große ABER. Hat man sein Leben lang Schuhe gekauft, will man ja nicht immer dieselben Schuhe haben, auf die man hinunterblickt. Schließlich ‚reift‘ man auch in seiner Auswahl von Schuhen. Vielleicht will man ja auch nur den Zeiten vorbauen, wen man nur noch diese beigen Rentnerschuhe tragen kann – weil alle anderen die degenerativen Verformungen nicht mehr camouflieren. Möglicherwiese aber will man auch einfach nur mit seiner Mode gehen, der des mainstream oder seiner community. Schauspieler müssen wohl ohnehin anders sein, handelt es sich bestimmt nicht um einen angesehenen Beruf.

Schaue auf die Schuhe eines Menschen – und kannst recht viel daraus über die Persönlichkeit sehen; vielleicht mehr als das Gesicht oder die Stimme. Denn die Wahl der Schuhe ist bewusst; sie drücken den Willen, den Geschmack und die Abhängigkeit von Aussagen über Schuhtypen aus.

Da will man noch sagen, dass Schuhe nur nach dem Geschmack gekauft werden. Ich glaube, dass Füße keinen Geschmack haben. Sie nämlich stecken zuerst in Socken. Und dann miefen sie vor sich hin und zwingen ihrer direkten Umgebung ihren Geschmack auf. Schuhe vergewaltigen oft die Füße und ihre Bedürfnisse. Füße haben kein Wahlrecht, es ist nur der Kopf.

Du hast Deine Zeit gehabt

Welch vernichtender Satz! Der dem Angesprochenen den ultimativen Verlust vor Augen führt. Er klingt wie: „die Chance kommt nie wieder.“ „Nur einmal im Leben kann man derlei machen.“ „Das passiert im Leben nicht noch einmal.“

Irgendwann im Leben stellt sich die Gewissheit ein, dass der Rest kürzer ist als das davor. Das ist seltsam, hat man doch immer mit dem Gefühl gelebt, alles stehe einem offen; man könne alles immer wieder probieren; es bleibe noch so viel Zeit. Und dann plötzlich: ist diese Gewissheit hin! Nun kann man darüber noch nachdenken, was man alles noch so anstellen kann, um den Rest der Zeit so zu nutzen, dass man zufrieden sein kann. Einige Träume lassen sich so wohl noch erfüllen; wobei das eher materielle sein dürften.

Der Satz wird auch häufig herausgeschleudert, wenn man jemand sagen will, dass man nicht mehr mit dem anderen will. Es heißt: „Schluss! Es ist aus!“ Und man weiß, wie schwierig das zu akzeptieren ist.

Gewissheit und Einsicht in die Endlichkeit sind dem Menschen eher fremd: das Schaffen und Konstruieren von Neuem dagegen vertrauter. Normalzustand ist die Stabilität: nichts darf sich ändern.

Alle philosophischen Bemühungen herauszufinden, was den Menschen wirklich ausmacht, bestätigen dies. Es ist der homo faber, der homo ludens, der homo rationale usw – alle vereint sie, dass das Leben auf Erfüllung gepolt ist.

Zudem ist das Leben an sich zum höchsten aller Werte erhoben worden – wobei es freilich nur um menschliches Leben geht;-) Das zeigt sich darin, dass man heutzutage darum kämpfen muss, sein Leben legal zu beenden – oder den tabuisierten Selbstmord zu begehen. Der Selbstmord ist für die Mehrheit mit dem einen Makel verbunden – man kam nicht mehr, geistig oder körperlich. Der ‚Freitod‘ hingegen ist konzeptionell schon nicht mehr im kollektiven Bewusstsein.

„Deine Zeit ist gekommen“ tönt es am Ende eines Lebens, wenn denn die Balance zwischen Lebensstärke und -schwäche negativ wird. Und dann heißt es ein letztes Mal, dass es vorbei ist.

Antreiber

In der klassischen Lehre gibt es die Antreiber, die die Menschen nach ihren bedeutsamsten Antrieben klassifizieren können. Das Konzept erfreut sich großer Beliebtheit unter Trainern, Coaches und Populärratgebern. Es handelt sich um insgesamt 5 Antreiber: sei

Vielleicht sollte ein neuer sechster Antreiber hinzugefügt werden: „sei einzigartig“! Denn die Selbstoptimierung nimmt zwischenzeitlich eine kollektive Wucht ein, die ein eigenständiges Merkmal zu sein verdient. Denn Menschen zeigen ein Suchtverhalten sowie ein neues dominantes Merkmal.

Gerade unter den Heranwachsenden firmiert das zu einer neuen Norm, die von einer Minderheit als wichtigster Wert ihren Alltag deklariert wird: Mädchen im Alter zwischen 14-18 Jahren geben an, das der wichtigste Wert im Leben sei, gut auszusehen. Die sog. ästhetischen Behandlungen nehmen in der Medizin zu.

Daneben suchen die modernen Menschen mehr nach ihrer ureigensten Identität. Das zeigt sich an der geschlechtlichen Orientierung. Denn zwischenzeitlich soll es für sie Social Media über 60 Standard-Kategorien geben. Es ist genau das Wichtige vor allem für junge Menschen, sich auszuprobieren.

Ich erinnere mich noch an einen Mitstudenten, der sich verweigerte, seinen Namen auf eine Teilnehmerliste mit fortlaufender Nummer zu schreiben: „ich bin doch keine Nummer!“ blaffte er in die anonyme Runde.

Die Moderne wollte es so: der Mensch soll sich frei entschieden können und seine Freiheit auch dafür nutzen, sich selbst zu erfinden – frei von jeglicher äußerer Einflussnahme. Was daraus geworden ist, bahnt sich allmählich an. Mann und Frau müssen über einen Selbstentwurf verfügen, um – bei aller Gleichheit der Möglichkeiten an Freiheit – unterscheidbar zu sein. Nur geht es schließlich um die zivilisatorische Errungenschaft des Westens an sich, das selbstbestimmte Individuum.

Also bastelt man Zeit Lebens an seinem Ich. Dabei ist von enormer Bedeutung, sich einem Fremdvergleich zu unterziehen. Man muss sich unterscheiden, aber gleichzeitig auch wahrgenommen werden. Schließlich begeht man diese Selbstoptimierung nicht nur für sich, sondern seine soziale Rolle, mit all‘ ihren Erwartungen an sie.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: man ist auch für das Ergebnis verantwortlich! Und somit gerät der homo faber in die Rolle des produzierenden ‚und‘ konsumierenden. Das schafft einen Druck und einen permanenten Antrieb. Und voila: der sechste Antreiber ist geboren.

Bis ins letzte Detail

Die Nachrichten sind voll von Superlativen, wenn es darum geht, irgendeine Entschlossenheit auszudrücken. Meist geht es um die verletzlichsten Dinge auf Erden: Kinder, Behinderte und Sterbende.

Es wird unter Hochdruck, rund um die Uhr und x gearbeitet und fieberhaft gewirkt, alles Menschen Mögliche getan – ich frage dann offen, wieso man sich nur immer solcher Superlativen bedient. Denn einfaches Tun würde es doch auch tun.

Alleine hieran sieht man schon, dass Nachrichten eben nicht nur Fakten enthalten, sondern irgendwelchen Glaubenssätzen entsprechen. Und in Deutschland ist dies Einsatz, Leistungsbereitschaft, Wille und Mangel an Selbstachtung. Das ist durchweg ethisch, auch wenn Mitmenschen behaupten könnten, dass es falsches Heldentum ist.

Denn die Haltung gehört zum preußischen Katalog der Tugenden. Diese wurde missbraucht, um Kriege zu beginnen und nicht beenden zu wollen. Doch macht es diese Tugenden schlecht?

Ganz anders: die Älteren würden behaupten, dass den jüngeren Menschen genau diese Leistungsbereitschaft fehlte: die wollen nur chillen, um 4 Uhr Feierabend machen und und und.

Und schon wieder kommt die Nachricht im Fernsehen, dass die sog. Einsatzkräfte unterwegs sind. Man erfüllt seine Aufgabe mit Präzision, wie ein Uhrwerk, oder auch Generalstabs-mäßig vorbereitet.

Bei allem geht es nur um den eigenen subjektiven Glaubenssatz, alles Menschen Mögliche zu unternehmen. Daraus entwickelt sich natürlich auch die Annahme, das öffentlich verkünden zu müssen, da ansonsten ein – irgendwie berechtigter – Vorwurf ansteht.

Wir sollten jedoch davon ablasen, alles immer 100 %ig machen zu müssen. Das eigene Handeln muss hinreichend sein, aber nicht vollkommen. Das können wir Menschen einfach nicht. Sonst zweifeln wir an uns – und müssen uns von einer Illusion beherrschen lassen.

Das Innerste nach außen kehren

Ein Zitat zum Start: „Nichts zu verbergen, ist die größte Herausforderung im Leben.“

So sagt es Marina Abramovic in einem Interview des SPIEGEL kürzlich. Sie ist nach einem langen Künstlerleben und auf einem hohen Niveau an Respekt in der Szene unverdächtig, sich zu verbiegen.

Und der enorme Erfolg von Karl Ove Knausgaard zeigt gleichermaßen, was die Menschen bewegt: sie wollen wissen, was den Kern ausmacht. Die Kenntnis des praktischen Lebensumfelds, das Durchleben seiner biologischen Zeitspanne kennt jeder. Doch die Neugierde nach dem Eigentlichen bleibt. Es ist auch die Suche nach den wenigen Gesetzen. Wer will schon daneben stehen?

Schließlich ist auch die Psychoanalyse angetreten, das Feld zu bestellen, das die Saat verspricht: endlich sich wirklich kennen zu lernen. Heino Ferch formuliert es schön als ein Wiener Psychologie-Professor: „wer will nicht einmal in das eigene Dunkel hinabsteigen, wo man noch nie war? Sich mit den eigenen Dämonen auseinandersetzen? Es wird bestimmt nicht langweilig! Es ist eine lange Reise, auf die man sich zu zweit begibt.“

Ist das nicht vielleicht nur radikaler Voyeurismus? Den Schauder, den Thrill zu erleben, der uns selbst daran erinnert, dass wir auch nur Tiere sind – wenn auch sicherlich geistig höher entwickelt als der eigene Hund.

Nun sollte man dieses Gedankenspiel auch führen: kann man es auch gewinnen? Denn was passiert, wenn man mit seiner eigenen Unzulänglichkeit 1 : 1 konfrontiert wir? Will man so mit sich leben? Wird man sich verändern können? Ist es wirklich gut, die Fehler präsent im Bewussten zu haben? Oder hat Freud recht? – einmal transparent gemacht, verschwindet alles.

Ich kenne die Klassifizierung ‚austherapiert‘: das sind die immer aufgeschlossenen Menschen, die keine Tabus mehr zu kennen scheinen. Alles hat sich für sie aufgeklärt. Sie sind allen Gefahren des Lebens irgendwo begegnet. Und so heben sie sich wie Windlichter davon, durch nichts mehr erschüttert werden zu können. So ist es mit den Geheimnissen, die dann entschwinden.