Die Langeweile am Menschen

Viele Ehen und Partnerschaften gehen zu Bruch. Freundschaften leben sich vielleicht auseinander; aber man kann leicht wieder an sie anknüpfen.

Wieso eigentlich ist das so? Sind Liebesbeziehungen auf ein zeitlich beschränktes Fenster im Leben beschränkt, in dem es den Körper nach Fortpflanzung verlangt? Ist es dann auch vorbei, wenn das Ziel erreicht, also die Kinder da sind? Haben die Wissenschaftler recht, wenn sie sagen, dass mit Kindern plötzlich ‚ein neues Leben‘ beginnt?

Was nur sollte man aus dieser überaus einfachen Annahme schlussfolgern? Sollten Liebesbeziehungen erst gar nicht für das ganze Leben geschlossen werden? Würde es nicht reichen, einfache Fortpflanzungspartnerschaften zu bilden? Und dann auseinander zu gehen, wenn die Kinder materiell selbständig sind?

Hat eigentlich unsere biologische Natur überhaupt lebenslange Partnerschaften vorgesehen? Hat die Biologie überhaupt eine Begründung dafür, wieso es Partnerschaften jenseits des Geschlechtsreife geben sollte? Bezeichnet der Satz, keine Lust mehr an dem und auf den anderen zu haben, genau den Zeitpunkt, an dem kein Mehrwert des Zusammenseins mehr besteht?

Weiter könnte man einen Fehler darin sehen, was den kollektive Sinn einer ehelichen Beziehung ausmacht. Die Ehe wurde doch nur von der Kirche erfunden, um die Frau vor Übergriffen durch zügellose Männer zu schützen. Und dann machte sie nur noch als Versorgungsgemeinschaft in einer Zeit Sinn, als die Frau eben nicht für Ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen konnte. Ist also Liebe nicht eine bloße Mode oder ein Atavismus der Minne?

Roger Willemsen beschriebt in einem Interview, wieso er alleine geblieben ist: 2,5 Jahre seien maximal drin, dann stehe eine Veränderung zur Normalität an. Er habe diese Schwelle nie überschritten. Man hört aber auch, dass Willemsen sie nie überschreiten wollte. Und dann schmunzelt er über das Symbol des Ehebettes.

Doping

Welch interessantes Phänomen! Wer trägt eigentlich die Schuld?

Die Opfer sind ausgemacht: die Sportler. Die Täter kennt man auch: das Umfeld. Wer ist dieses Umfeld? Es sind die Trainer, die Ärzte, die Verbände. Wer ist derjenige, der keine Rolle spielt? das Publikum. Wie einfach kann die Welt sein!

Würde es dieses ‚System‘ nicht geben, würden wir nicht nicht verkleidet bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft vor dem Fernsehen kleben, um dem deutschen Gewinner zuzujubeln.

Das System hat nicht nur eine Voraussetzung, sondern auch einen Motor – und das ist die öffentliche Aufmerksamkeit. Gebe es keine Stadien, gebe es keine mediale Berichterstattung. Gebe es nicht die Lust am Zuschauen von sportlichen Wettbewerben, dann gebe es nicht diesen Sport. Es ist die kollektive Erwartung, große Wettkämpfe zu verfolgen, heldenhafte Siege

Verlierer zu küren und Verlierer zu bedauern.

Die sog. Hintermänner sind nur Erfüllungsgehilfen dieses Systems. Die Beschuldigung, alles sei nur noch Kommerz und es ginge nur noch ums Geld, lenkt den Faktor ab, der auch diese treibt: uns, das Publikum.

Es sind die kleinen und signifikanten Botschaften des Publikums, die den Druck erst wirklich entstehen und pervertieren lassen. Die veröffentlichte Meinung jagt den Misserfolg wie ein Versagen, gar wie einen Verräter oder Kriminellen. Wie die das Team der eigenen Nation hat nur 3 Medaillen gewonnen! Was ist denn bitte in der Vorbereitung falsch gelaufen? Wer hat da keine ganze Arbeit gemacht? Bestimmt ist der Trainer nicht der richtige! Die Athleten sind eben zu bequem geworden – sie können sich nicht mehr quälen.

Und so kann man sich denn auch über diese Bösewichter aufregen, zetern, wettern und sie verdammen.

Die Verklärung, früher sei Sport noch Spaß gewesen, ist ein schöner Traum, der eben nicht mit der Realität korrespondiert. ‚11 Freunde müsst ihr sein’, sagte Herberger zu seinen Helden von 1954. Doch wer schon einmal einen Mannschaftssport versucht hat, weiß doch, wie sehr dies Wunschbild ist. Da schießt der eine mehr Tore, bekommt mehr Beifall und wird als Bester Spieler gekürt. Das schmeckt einem nicht.

Sind wir unschuldiges Publikum wirklich außen vor? Ernsthaft gefragt: würde es den gedopten Sport überhaupt geben, wenn wir nicht da wären? Nein! Man stelle sich das System gedopten Sports ohne Publikum vor!

Was sollte das denn? Wer käme nur auf die Idee, ohne Applaus zu rackern, um Höchstleistungen zu erzielen? Die wären wirklich verrückt! Die Doper, das sind wir Zuschauer.

 

Rituale post Terror

Dieser Tage gibt es in den Nachrichten so viele Berichte über Terroraktionen wie ich mich in meinem Leben nicht erinnern kann.

Da ich ein erfahrener Kunde und Konsument solcher Nachrichten bin, bin ich in dem Prozess der Abarbeitung so versiert wie diejenigen, die ihn steuern.

Dieser Prozess könnte in einer QM-Verfahrensanweisung stehen. Denn er folgt einem etablierten Muster. Einige Bestandteile kehren in loser Reihenfolge wieder.

1. die Fakten werden bekannt gegeben: wer ist der Täter? Wer sind die Opfer? Wie ist das Verbrechen gelaufen? Diese Phase wird wie ein Krimi inszeniert, der von Journalisten wie in einem Sprechtheater vorgetragen wird. Echtbilder tauchen meist auf, da Augenzeugen nunmehr auf ihre Handies zurückgreifen können. 2. die Suche nach der Ursache wird aufgrund guter Polizeiarbeit und dem Legen von Spuren durch die Täter rasch beendet. Nach Stunden und Tagen herrscht Klarheit darüber. 3. es werden moralische Führer nach ihrer Einschätzung gefragt, als ob sie die Reaktion und den Kurs festlegen müssten. Das sind Politiker, Experten / Wissenschaftler, Prominente. Schweigt einer, wird sofort bemälkelt, da interessiere sich ja einer nicht. 4. die Öffentlichkeit debattiert darüber, wie eine Wiederholung verhindert werden kann. Meist geht es dann darum, Gesetze zu ‚verschärfen‘, Aufklärungsarbeit zu leisten und potentielle Tätergruppen präventiv zu betreuen.

Das dauert einige Tage, bis die Medien wieder ein neues Thema priorisieren. Und wenn wieder ein Abschlag verübt wird, beginnt das Abarbeiten wieder von vorne.

Das seltsamste Phänomen in dieser Reihung von Etappen ist die Beteuerung des emotionalen Schocks und Schreckens: Fassungslos, bestürzt, tief entsetzt, innerlich betroffen und und und. Doch bis auf die Beteiligten und die Angehörigen der Opfer dürften nur empfindliche Menschen tatsächlich ‚betroffen‘ sein.

Vielleicht ist dies schleife ja ein Ritual, mit dem wir schell wieder zur Tagesordnung und zum Normalzustand übergehen können. Mich beschleicht aber der Argwohn, dass es sich hierbei um ein nerven kitzelndes Infotainment handelt. Es unterhält und interessiert. Es ist ein typische ‚human interest story’. Klassen sie uns das ‚öffentliche Interesse definieren. Es kann doch nicht sein, dass dies das Wichtigste ist.

Ver’treten‘

Mir passierte etwas Seltsames: plötzlich begann mir die Hüfte beim Laufen zu schmerzen. Es entstand inmitten des Rotationsraumes dieses permanente Pieksen, das mit den Kilometern wuchs. Ich war reichlich verunsichert, da bei mir normalerweise alle Zipperlein und Beschwerden in Bewegung wieder verschwinden. Hier war es anders.

Also machte ich mich auf zum Mediziner, um zu eruieren, ob mein Körper nun im Zeitalter der Arthrose angekommen ist. Der Osteopath ging bei seiner Anamnese sorgfältig vor, um zu prüfen, worin die Ursache bestehen könnte. Während seiner Erkundigung befragte er mich auch, ob ich vielleicht einen falschen Schritt gegangen sei. Denn dann könne sich ein Körper schon einmal eine Ausgleichsbewegung angewöhnen, der dann Schmerzen verursache.

Ich konnte mich nicht erinnern. Also manipulierte mich der Osteopath, so gut es ging. Irgendwie hob er die gesamte Verschrobenheit und Verspannung meines Körpers wieder auf.

Und später konnte ich mich doch tatsächlich erinnern: ich war Monate vorher bei einem Lauf in eine Art Loch getreten. Das hatte ich sogar bemerkt, da es sich seltsam anfühlte. Ich schloss für mich, das der Körper dies schon wieder regeln würde. Er tat es nicht.

Diese Geschichte lässt sich als symbolisch beschreiben: ein kleiner Fehltritt löst eine Verrenkung des gesamten Systems aus. Es entsteht eine Kaskade an Folgen.

Ähnlich kann es dem Menschen ergehen, wenn ein kleiner Gedanke den Kopf flutet. Es kann ein schönes Bild sein, aber auch ein böses Stück Vorstellung.

Verhindern lässt sich das nicht. Dies passiert, da uns das Leben nicht nur mit Kleinigkeiten konfrontiert wird, sondern diese Kleinigkeiten einen festen und minütlichen Normalzustand ausmachen.

Lässt sich aus dem Virus vom kleinen Anfang zum großen Ausgang irgendetwas gewinnen? So viel: lässt man sich in eine solche Spirale fallen, dann wird aus kleinen Anstößen ein großes Ereignis; es sei denn, man schreitet ein.

Zwei Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen: erstens sollte man sich der Gefahr von Ketten-Reaktionen bewusst werden; und zweitens sollte man das Detail nicht unterschätzen, wenn es um den Zustand des Systems geht. Manchmal hilft bei Systemfehlern, nur ein Detail zu ändern.

In Ordnung – perfekt – Recht haben

An der Sprache erkennt man Denkmuster. Somit lassen sich zentrale Werte einer Sprach- und somit auch einer Nationalkultur finden. Sie können ganz wesentlich zum Verständnis beitragen, wie ein Volk tickt.

Im Deutschen gibt es so viele Hinweise auf diese Mischung aus protestantischer und preußischer Tugendlehre, die um zentrale Begriffe von Arbeitsamkeit, Anständigkeit und Rechtsamkeit kreisen. In Breslau sah ich auf einem Friedhof mit Gräbern aus dem 19. Jahrhundert den Namen ‚Dienstfertig‘. Das passt!

Mit zentralen Begriffen werden Maßstäbe zur Bewertung von Sachverhalten und Menschen von Generation zu Generation übertragen. Sicherlich ändert sich die jeweilige Bedeutsamkeit über die Zeit. Doch im Kern erleiden diese Werte keinen Bedeutungsverlust.

Zur Illustration kann die Bewertung der Leistung eines Theaterschauspielers gereichen: die war in Ordnung! Eine Leistung mit dieser Kategorie zu beschreiben, heißt, das bloße Agieren zu respektieren. Da hat sich jemand angestrengt und an die Regeln des Schauspiels gehalten. Ausdruckskraft und individuelle Stärken, das eigentliche Momentum der Schauspielkunst, blieben so sekundär.

Das Benchmark ‚perfekt‘ ist aus den Sätzen ‚er spricht deutsch perfekt‘ oder ‚die Maschine läuft perfekt‘ geläufig. Die Zielsetzung ist klar: keine Fehler; im Plan; unter Kontrolle. Der Anspruch an die Umwelt, der aus dieser Haltung erwächst, ist enorm: Fehler ausgeschlossen. Man vergleiche dies mit der kolportierten Einstellung von Südamerikanern oder Südeuropäern: Hauptsache, es läuft irgendwie. Und so geht man dann auch mit den Schwächen seiner Umwelt, vor allem seiner Mitmenschen um: es ist eben dramatisch, wenn er zu spät kommt oder ungenügend Geige spielt.

Und dazu gesellt sich auch noch das Verlangen von Deutschen, Recht zu haben. Schön ist der Vergleich zum Französischen: es bezieht sich auf die Vernunft (raison). In unserem Sprachraum gilt Recht als richtig. Einen anderen Maßstab gibt es nicht. Und selbst wenn man Zweifel hätte, erfüllt die Befolgung des Rechts einen Selbstzweck.

Diese Denkfiguren sind ein Prägestempel unseres Verhaltens und unserer Lebenseinstellung. Sie offenbaren viel von dem, worin unsere Werte bestehen, unsere Leitbilder sind.

Man möge sie als Menschen-feindlich oder a-sozial beurteilen. Doch hilft diese Verurteilung nicht viel. Denn sie sind nun einmal da. Also heißt es, sie zu vergegenwärtigen und zu kennen. Zumindest kann man manches Verhalten seiner deutschen Mitmenschen besser verstehen.

 

Was ist der Unterschied zwischen Feindbildern und Feinden?

Das ist ein fundamentaler Unterschied: denn ein Bild ist ein Bild. Wie gerne beschuldigen wir – auch im alltäglichen Leben – ‚die‘ da? Die da aufscheinen, sind nach unserer logischen Assoziation auch die Verursacher.

Nehmen wir ein Beispiel: da gibt es Terroranschläge von einzelnen Personen. Ist daran nicht die Politik schuld, weil sie es nicht verhindert hat? Und sind es nicht diese junge Männer, die nach ihrer Flucht in Deutschland gewalttätig werden? Die Schlussfolgerung: Politik und Flüchtlinge verursachen Terroranschläge.

Ein weiteres Beispiel: mein Nachbar hat nicht aufgepasst, als seine Waschmaschine leckte. Der Schaden war überschaubar; doch bekannte sich der Nachbar nur unwillig zu seinem Versehen. Taucht einmal wieder ein Problem in meiner Wohnung auf, verdächtige ich genau diesen Nachbarn: der Schuft hat wahrscheinlich wieder nicht aufgepasst.

Feindbilder und Feinde können eins werden. Es kommt uns Menschen entgegen, nicht in jedem neuen Fall nachdenken zu müssen. Diese Routine entlastet ungemein. Denn es schont unsere Aufmerksamkeit für das Detail und schenkt uns die Zeit für anderes. Leider bleibt aber dadurch unsere ehrliche Einschätzung auf der Strecke.

Wird man darauf angesprochen, reagiert man instinktiv, um den Vorwurf sorgfältiger Prüfung zurückweisen zu können: ‚Ich weiß schon, zwischen Verdacht und Wissen zu unterscheiden’. Dadurch entfernt man sich noch weiter von einem Verhalten, das gerecht genannt werden könnte.

Und plötzlich hat man den anderen auch noch als Feind ausgemacht. Und so wachsen die Feindschaften von einer Bequemlichkeit zur nächsten Faulheit.

Nicht zu vergessen ist, dass man sich im Malen von Feindbildern so fallen lassen kann wie im Zeichnen von komplexen und tiefen Gemälden. Es macht Spaß, das Feindbild zu einer Ausstellung über den vermeintlichen Feind zu erweitern. Ganze Kompositionen bis zu kleinen Weltbildern können so entstehen.

Aus der Mücke wird dann der Elefant, der als Bild so leider missbraucht wird. Denn der Elefant ist zwar groß, seine Macht aber gering. Er ist so angewiesen auf die Zuschreibung von Macht wie auf seinen Nährboden in der Savanne. Würde der Elefant doch nur als ein schönes und sensibles Tier wahrgenommen Werden!

Lebensmotto

Als kürzlich die britische Abgeordnete Cox willentlich getötet wurde, gab es ein Eindenken in der gesamten Öffentlichkeit. Denn das Opfer war eine Gegnerin des sog. Brexit. Mit der Nachricht kommt rasch der Gedanke auf, wie sinnlos politische Debatten sind, vergleicht man sie mit der Grausamkeit von Einzelschicksalen. Denn hier wird eine Mutter zweier Kinder, eine Ehefrau und talentierte junge Frau plötzlich um ihr Leben gebracht.

Der Ehemann ließ noch an demselben Tag der Öffentlichkeit das gemeinsame Lebensmotto zukommen. „Wir wollten nur zwei Dinge: unsere Kinder mit Liebe überschütten und unseren Beitrag leisten.“

Welch eine freudige Überraschung, dass es weiter Lebensmottos gibt. Denn ich hatte bereits gefürchtet, dass dies der Vergangenheit angehörte, ähnlich wie Tagebücher u.a.

Wer kennt das nicht aus Filmen oder Büchern des 20. Jahrhunderts? „Ich handele immer nach dem Grundsatz x.“ „Mein Vater hat mir mitgegeben, dass ich immer an y denken sollte.“ „Es hat mir immer gut getan, mich nach dem Prinzip z zu verhalten.“

Es kann ja sein, dass dies eine Konstruktion sondergleichen ist. Wer kennt nicht sein inneres Bedürfnis, Sachverhalte und Ereignisse mit einem überlegten Handeln zu erklären? Das ähnelt stark dem Resümieren über den vergangenen Tag, wenn man abends im Bett liegt und auf den Schlaf wartet. Dann nämlich lässt man auch Revue passieren, was sich zugetragen hat. Man konstruiert dann gerne eine Geschichte, die einen Sinnzusammenhang für Dinge schafft, die eben nicht zusammenpassen.

Lebensmottos helfen, innere Überzeugungen in Worte und Bilder zu übersetzen. Andererseits können dadurch erst Haltungen auslösen, wenn beispielsweise der autoritäre Vater damit seine Kinder sozialisiert.

Lebensmottos können so auch einschränken: wenn man von dem für wahr gehaltenen Sinnsprüchen nicht mehr weg kommt, obwohl es den eigenen Wünschen widerspricht. Ein Beispiel ist das Rollen-Motto für den Jungen, sei stark! Der ist aber kein Indianer und empfindet sehr wohl Schmerzen.

Eine schöne Übung wäre, sich selbst mit 5 Lebensmottos zu beschreiben. Die sollte man anderen vertrauten Menschen vortragen, um zu erfahren, ob man sich die aus der Außenwahrnehmung tatsächlich wahrnehmen lassen.

 

Wellensittich

Es gibt Szenen, die sind einfach eine Geschichte wert: so sprach mich heute eine Passantin vor der Haustüre an, ob ich einen Wellensittich vermissen würde.

Mit ernster Miene und voller Fürsorge drang die Frau darauf nachzudenken, ob im Haus möglicherweise jemand einen solchen Vogel hielte. Denn er wäre wohl verloren, würde man ihn auf diesem Ast vor dem Haus sitzen lassen und ignorieren.

Ich war mir nicht sicher, über wen ich mir Sorgen machen sollte: den Halter, die kümmernde Frau oder den Vogel selbst. Dennoch war ich berührt über die Sorge, die der Passantin im Gesicht stand.

Danach stieg in mir die Frage auf, ob diese Frau bevorzugte Gruppen hätte, um die sie sich kümmern würde. Hätte sie ähnlich reagiert, wenn ein dementer, älterer Mensch auf der Parkbank gesessen hätte – oder ein verschmutzter Drogenabhängiger im Körperkrampf auf einer Wiese?

Dieser Argwohn hat damit zu tun, dass das Kümmern je nach Opfergruppe sehr unterschiedlich bewertet wird. Die Regel könnte lauten: je hilfsbedürftiger die Gruppierung, desto akzeptierter in der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung. So steht auch das Kind, das sich nicht wehren kann, ganz oben auf der Liste.

Doch zweifele ich daran, da der bewertende Mensch immer auch die Verantwortung und Schuld mit einbezieht, dass ein Missstand eben auch verursacht sein kann. Damit fällt das Bedürfnis zur Fürsorge sehr schnell. Der Betrunkene, der Altem, Der Arme, der Drogenabhängige – alle sind sie schuldig an ihrer Misere.

Der Mensch lässt dabei völlig außer Betracht, dass – trotz einer Mitwirkung des Opfers – das Leid und die Bedürftigkeit dieselbe sind. So ist der verunfallte Motorradfahrer eben verletzt und bedarf der medizinischen Hilfe. Es ist völlig gleichgültig, ob er zu schnell gefahren ist oder ein Dritter ihn zum Sturz provoziert hat.

Fürsorge und Bedürftigkeit kennen keine Grenzen und Gewichtung. Und dennoch muss der Mensch eine Entscheidung treffen, da er nicht unentwegt seine Unterstützung eben kann.

 

Motivationstrainer

Bernd Höller dürfte der Motivationstrainer sein, der in Deutschland dieser Tätigkeit – oder dem Begriff – erst eine gewisse Bekanntheit verliehen hat.

Als Person könnte man den Menschen als ’schillernd‘ bezeichnen. Denn er füllt Hallen und hat beruflichen Erfolg. Er führte ein luxuriöses Leben mit allen Markern des Jet Sets. Aber er wurde auch wegen Meineides zu einer Haftstrafe verurteilt und ging pleite.

Kürzlich konnte ich den Menschen Höller in einer Talkrunde im TV sehen. Ich war überrascht, da er geradezu schüchtern und rhetorisch blass erschien. Auf sein Scheitern angesprochen hat er professionell geantwortet, dass dies eine wichtige Lernerfahrung gewesen sei.

Dennoch rümpften Anwesende die Stirn wie es auch viele Beobachter tun. Die Gründe liegen zunächst wohl im Erscheinen von Heller: Er wirkt durch und durch unsympathisch: geweißte Zähne, akkurates Haar, Teint und wohl einen Ferrari vor der Tür.

Dagegen wirkt jeglicher Mitschnitt von Höllers Auftritten wie eine hysterische Show, da Menschen jubelnd und sichtlich bewegt irgendwelche Ausrufe tätigen, wie ‚ich kann es‘ oder ‚ja, ich will es‘. Es mutet an wie ein Gottesdienst von Fundamentalisten in den USA, das Kreischen von Fans irgendwelcher Popmusikgruppen oder johlende Fußballfans.

Für Deutsche erinnert das stark an die politischen Manipulationen, die im Laufe der eigenen Geschichte zur Diktatur geführt haben. Es klingt wie Göbbels‘ Frage, ob die Deutschen den totalen Krieg wollten. Heutige Deutsche fühlen bzw. argwöhnen dann, dass sie entmündigt werden.

Ich frage mich allerdings, ob man das so aburteilen darf. Dabei fällt mir als erstes die Kampagne von Obama zu seiner ersten Präsidentschaft ein. Der Slogan hieß: ‚Yes we can‘. Dann kennt man diese geschrieene Selbstermunterung auch aus dem Sport: bevor sich Neureuther den Hang hinunter stürzt, dann feuert er sich selbst an. Und dann gibt es die vielen Personal Trainer, die ihren Kunden beibringen wollen, bei einem sportlichen Vorhaben zu bleiben.

Eine explizite Kritik entfaltet sich vor allem an den Techniken sowie an der oberflächlichen Verhaltensänderung, die wohl nur für den Abend in der Halle reicht.

Dennoch kann man an der Zielsetzung kaum zweifeln, da sich ein Motivationstrainer ja bemüht, den Menschen Zuversicht, ein Bewusstsein für die eigenen Stärken sowie ein Vorhaben zur Verbesserung zu vermitteln. Das wollen auch Coaches und Trainer, die auf eine Stärkung von Selbstwirksamkeit und Selbstmanagement hinarbeiten.

Ich muss selbst einmal an einer solchen Veranstaltung teilnehmen, um zu erleben, ob solche Massenermutigung wirksam sein kann.

 

Zeitung lesen

Endlich hat jemand Evidenz gesammelt, was in Zeitungen gelesen wird. Thema Nr. 1 sind die Todesanzeigen, gefolgt von den Kreuzworträtseln.

Für Bildungsbürger beginnt mit dieser Information wohl der schleichende Untergang des Abendlandes. Doch muss man sich fragen, wie sich reales Zeitung Lesen vollzieht.

So liest doch nur eine kleine Minderheit einen Beitrag von Beginn an bis zum Schluss. Wir Leser skannen die Überschriften, sehen die Illustrationen und Bilder oder lassen uns von irgendwelchen Schlüsselworten leiten, die uns besonders interessieren. Wieweit nur sind wir von dem aufgeschlossenen, in der Breite interessierten und kundigen Leser entfernt?

Schlimmer noch wird es, wenn man sich andere Interessen und Motive anschaut, die zum Zeitung Lesen verführen. Das kann das Rascheln der Zeitung beim Frühstück sein, diese typische Abfolge beim Umblättern großer Blätter, das Ritual des Sonntagsfrühstücks. Als Kind schon argwöhnte ich, dass diese Kaffeehaus-Leser eigentlich nur so taten und schauspielerten.

Der Autokauf bietet uns eine ähnliche Überraschung. Denn bei der Kaufentscheidung spielt unter den 3 Top-Begründungen das Geräusch mit, das die Tür beim Zuschlagen macht.

Wie fehl-rational sind wir doch selbst bei der Zeitungslektüre: denn wir wollen doch auch Bestätigung unserer Weitsicht. Wir möchten uns gar nicht bilden. Wir möchten unsere Bildung nur verfestigen. So lesen wir auch nur, was uns ohnehin interessiert. Und wir lesen die Autoren, die eine bestimmte Aussage versprechen. So gibt es auch scharfe Parteiungen unter den Lesern von Tageszeitungen und Wochenmagazinen: man gehört immer zu einer Familie.

Was ich lese? Ich bin ein Leser der Unentschiedenheit. Ich habe es nichtmals in meinen sonntäglichen Alltag integrieren können, das Wochenendblatt zu konsumieren. Und dann verschiebe ich das Lesen, bis der Stoff nicht mehr aktuell istJ In der Zeitung selbst mag ich die Glossen und die großen Kommentare. Die kleine Schrift ärgert mich, Länge auch. Verunsichert bin ich durch Literatur- und Kunstseiten. Denn fast jeder Beitrag zeugt von einem großartigen Jahrhundertwerk. Wie ein Kind staune ich über die Wissenschafts- und Forschungsnachrichten: denn dort werden Neuigkeiten in Hülle und Fülle angesprochen.

Die etablierte Politik und die Wirtschaft haben die geringste Dichte an Inhalt, der für das eigene Umfeld wichtig ist. Ich fühle mich bei der Lektüre immer wie ein Anwärter auf einen Bachelor-Abschluss.

Doch blicke ich auf die nächst jüngere Generation, so verharren die schon auf der Ebene der Überschriften und ihrer Subtexte. Nur noch die Lektüre eines x online-Dienstes reicht dann für den Tagesablauf. Das Zeitung Lesen wird zur Ausnahme. Womit werden nur zukünftig die Blumenverkäufer ihre Sträuße einpacken?