Wellensittich

Es gibt Szenen, die sind einfach eine Geschichte wert: so sprach mich heute eine Passantin vor der Haustüre an, ob ich einen Wellensittich vermissen würde.

Mit ernster Miene und voller Fürsorge drang die Frau darauf nachzudenken, ob im Haus möglicherweise jemand einen solchen Vogel hielte. Denn er wäre wohl verloren, würde man ihn auf diesem Ast vor dem Haus sitzen lassen und ignorieren.

Ich war mir nicht sicher, über wen ich mir Sorgen machen sollte: den Halter, die kümmernde Frau oder den Vogel selbst. Dennoch war ich berührt über die Sorge, die der Passantin im Gesicht stand.

Danach stieg in mir die Frage auf, ob diese Frau bevorzugte Gruppen hätte, um die sie sich kümmern würde. Hätte sie ähnlich reagiert, wenn ein dementer, älterer Mensch auf der Parkbank gesessen hätte – oder ein verschmutzter Drogenabhängiger im Körperkrampf auf einer Wiese?

Dieser Argwohn hat damit zu tun, dass das Kümmern je nach Opfergruppe sehr unterschiedlich bewertet wird. Die Regel könnte lauten: je hilfsbedürftiger die Gruppierung, desto akzeptierter in der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung. So steht auch das Kind, das sich nicht wehren kann, ganz oben auf der Liste.

Doch zweifele ich daran, da der bewertende Mensch immer auch die Verantwortung und Schuld mit einbezieht, dass ein Missstand eben auch verursacht sein kann. Damit fällt das Bedürfnis zur Fürsorge sehr schnell. Der Betrunkene, der Altem, Der Arme, der Drogenabhängige – alle sind sie schuldig an ihrer Misere.

Der Mensch lässt dabei völlig außer Betracht, dass – trotz einer Mitwirkung des Opfers – das Leid und die Bedürftigkeit dieselbe sind. So ist der verunfallte Motorradfahrer eben verletzt und bedarf der medizinischen Hilfe. Es ist völlig gleichgültig, ob er zu schnell gefahren ist oder ein Dritter ihn zum Sturz provoziert hat.

Fürsorge und Bedürftigkeit kennen keine Grenzen und Gewichtung. Und dennoch muss der Mensch eine Entscheidung treffen, da er nicht unentwegt seine Unterstützung eben kann.

 

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