Aus der Zeit gefallen

Bohemiens sind solche Personen, die sich kleiden wie eine Abteilung bei Madame Tussot. Sie gehören zur europäischen Kulturgeschichte, Kapitel ‚harmlos, aber schrill‘.
Vermutlich wurden sie schon immer negativ beurteilt, wie die Synonyme zeigen: Geck, Laffe.
Warum das so ist, muss man sich fragen. Denn zu ihrem Rollenverständnis gehört eben auch, höflich zu sein. Es ist ein wenig wie der gebildete und souveräne britische Gentleman. Und den mag irgendwie jeder.
Auch sind Bohemiens ein Gegenentwurf zum harten Mann mit all‘ seinen Mannbarkeiten aus Stärke und Muskeln. Der immer nur gewinnen will, die Auseinandersetzung eingeht, keinen Sinn für das Feine hat usw.
Musikalisch steht Max Raabe für dieses winzige Milieu, das aufgrund der geringen Anzahl keines mehr ist. Vielmehr handelt es sich um Einzelgänger, die sich vor einem Publikum exponieren wollen und müssen.
In Berlin gibt es einige von ihnen. Sie haben ihre kleinen Öffentlichkeiten. Einer von ihnen kandidierte letztens für den Deutschen Bundestag.
Ich mag solche Typen, die zeigen, dass man auch bei Gegenentwürfen zur Norm keine Angst vor Ablehnung haben muss und sein Anderssein genießen kann.
Kürzlich lernte ich, dass Fliegen, die von den Bohemiens getragen werden (auch von Frauen) in der Regel an den Bund angesteckt würden. Die Konsequenten unter ihnen jedoch würden weiter ihre Fliegen selbst binden. Die wären so gut wie nie symmetrisch – was gut zu den Bohemiens passt.

Die Bankrotterklärung der Politik

„Ich hasse alle“ ist ein Auswurf von Kindern in Momenten ihrer Trotzphase. Mit neuer und gewaltigerer Kraft wiederholt sich das in der Pubertät. Auch im höheren Alter begegnet man Menschen, die nichts Gutes mehr finden können. Es sind die verbitterteren und zu kurz gekommenen.

Neuerdings jedoch übernimmt auch die Mehrheit der Erwachsenen und reifen Menschen diesen Zug, alles und jedes zu verneinen. Man ist schlichtweg nur noch ‚gegen‘. Das hält auch Einzug in fast alle der alltäglichsten Unterhaltungen, wie viele Beobachter in Journalismus, Literatur und anderen Medien dokumentieren.

Allmählich löst auch Hass wissenschaftliche Neugierde aus. Vielleicht werden auch schon erste Erklärungsversuche typisiert. Ein Konsens hat sich hier noch nicht öffentlich verbreitet.

Man kann den Bewerter, aber auch den Bewerteten als Quell des Hasses ausmachen. Denn auch die gehassten Opfer scheinen erst den Hass auslösen zu können – man vergleiche das mit dem liebenden Vater, der aber nordafrikanischer Herkunft ist.

Es gibt auch solche, die sagen, man höre schon gar nicht mehr hin. Denn die Nachrichten seien so voll von Elend und Hass. Doch gibt es auch die, deren Milieu Hass als zentralen Charakterzug aufweist, wie Fox News, wie Rapper, wie Autonome.

Selbst die Politiker beginnen nun auch noch zu hassen. Trump muss für viele herhalten: hier aber scheint mir der Wesenskern des Mannes zu liegen, der eben den Status Quo ablehnt und zur jüngsten Vergangenheit des weißen industriellen Amerika zurückkehren will. Und so hasst er alles und jeden, der nicht dieser Epoche verschrieben ist. Das gilt auch für andere Diktatoren, die derzeit die Schlagzeilen bestimmen.

Ideologie heißt, alles abzulehnen. Katholizismus ist eigentlich das Modell, da es nur die eigene Lehre akzeptiert – und alles andere der Vernichtung freigibt: entweder man gehört dazu – oder man ist ein Feind. So wurde vermutlich auch missioniert. Bei der islamischen Umma ist das nicht anders.

Hass ist ein zerstörerisches Element für Frieden und Sicherheit. Gerade diejenigen, die das nie erfahren haben, scheinen es nicht schätzen zu können. Was tun mit den Menschen, die hassen? Ihnen die physiologische Grundlage entziehen – und ihnen zwangsweise Beruhigung zuführen? Sie vorsorglich einsperren? Ihnen freien Lauf lassen?

Und was hat denn die Politik mit all‘ dem zu tun? Niemand wird ihr ernsthaft zutrauen, den Hass der Menschen abstellen zu können. Doch man ruft als letzter Instanz nach ihr. Es lässt sich daran erkennen, dass vom Staat als Rahmen der Politik – wie zur Zeit einer historischen Werdung – Sicherheit erwartet wird. Nur dann wird ihm Legitimität zugesprochen. Bestand jedoch früher die Bedrohung mit Waffengewalt, so ist es heute der mentale, geistige und verbale Hass. Leider sind die Hasser auch diejenigen, die beschützt werden wollen.

Hierarchie

Menschliche Gruppen müssen sich organisieren, um handlungsfähig zu sein und eine interne Mindestordnung aufzustellen. So gehen sie sich nicht an den Kragen. Die Frage ist, was das aus uns macht, wenn wir uns für eine Ordnung entscheiden.

Es könnte so schön sein: Menschen leben in gegenseitigem Einverständnis zusammen. Alle können ihren Bedürfnissen und Interessen nachgehen. Nirgendwo führt das zu Konflikten oder Problemen. Kann das überhaupt funktionieren?

Doch Menschen sind eben nicht nur Panda-Bären, sondern auch Grizzlies. Sie können nicht einfach so genügsam nebeneinander leben. Wenn sie dann zusammen leben müssen, wird es kompliziert. Klarer Regeln bedarf es dann, wenn sie gemeinsam arbeiten müssen.

Hierarchie ist die einfachste aller Organisationsformen. Die Regeln sind einfach und von einfachen Menschen leicht bedienbar. Je nach Status muss man gehorchen oder Gehorsam einfordern. Bis auf diejenigen oben und unten in der Hierarchie haben alle dieselben Rollen.

Schaut man sich die Alternativen an, so sind die viel komplizierter. Nimmt man die Liberalen Demokratien, wird es richtig schwer: denn man muss die Regeln zwischenmenschlichen Verhaltens aushandeln, jeweils neu festlegen. Man vergleiche: in einer Hierarchie ist klar, wer wem Gefolgschaft leisten muss; in einer liberalen Demokratie kann man sich entscheiden, ob man dem reichen oder prominenten Menschen irgendeinen Vertrauensvorschuss gibt. An sich kann man sich verhalten, wie man will.

Hierarchisches Denken in einer freiheitlichen Gesellschaft ist wie ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, das nicht mehr in die Moderne passt. Und dennoch: es scheint bei vielen eine Intuition zu sein, sich in Hierarchien gut orientieren zu können. Selbst in Status-orientierten Betriebshierarchien werden plötzlich mündige Erwachsene zu ergebenen Gehorsamsempfängern. Da wird der Mittelmanager in einer Sekunde zum verlegenen Kind, das um die Wertschätzung seiner Vormünder buhlt. Da wird der reflektierte Experte zu einem Berichterstatter, der Angst vor der Zurechtweisung hat.

Hierarchisches Denken obsiegt über den gesunden Menschenverstand. Es ist wie ein tief verwurzeltes anthropologisches Prinzip, das sich hier seinen Weg bahnt. Wer schon findet es nicht als angenehm und privat, jemandem zu folgen, der die Richtung vorgibt? Und wen mit Weisungslust drängt es nicht, eine Gefolgschaft zu leiten? Er wird sich dafür anstrengen wie sonst nicht.

Hierarchisches Denken findet sich auch heute in unserer Gesellschaft, die Selbstreflektion und Eigenverantwortung zu ihren wesentlichen Merkmalen zählt. Schlimmer noch: der Staat (weniger der Arbeitsmarkt) setzt auf den mündigen Bürger: aber Mündigkeit ist der Gegensatz zu hierarchischem Denken. Sie vertragen sich einfach nicht. In der Schule werden wir zu denkenden Wesen erzogen, in Betrieben und anderen sozialen Kontexten wieder auf Funktionen reduziert und zu Befehlsempfängern gemacht.

Das Schlimmste an diesem Zielkonflikt ist die Konsequenz: denn Menschen verstehen ihre Eigenverantwortung als Recht und ihre hierarchische Funktion als Pflicht. Im letzten Fall vergisst man das Mitdenken; im ersten Fall führt dies zu einem Anspruchsdenken: der Staat hat mir gewisse Dienstleistungen zu ermöglichen, mich glücklich zu machen bzw. vom Unglück fernzuhalten. Je nach Fragestellung kann man sich so auf das ein oder andere berufen.

In hierarchischen Organisationsformen ist es äußerst leicht, sich nicht verantwortlich zu fühlen: schließlich wird alles von oben bestimmt!

Man muss sich fragen, wie sich eigentlich militärisches Denken vollzieht: denn der Plan ist das eine, die Ausführung das andere. Wenn der Soldat seine Waffe nur gelangweilt hervorkramt und sich erst gar nicht in die Feindberührung begibt, dann gewinnt man auch keinen Krieg. Doch sagt man wohl, dass die Moral in der Truppe schlecht ist.

Es funktioniert ganz wie der Feudalismus: gegen Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten erhält man Abstinenz jeglicher Verantwortung. Schließlich ist man nur ausführendes Organ. Man nehme den Vergleich zum Massenmörder Eichmann: ich habe alles nur auf Anweisung getan; also bin ich unschuldig. Die Hierarchie zersetzt Moral und Mitdenken, Eigenverantwortung und Menschlichkeit.

Was gibt es Schöneres am Körper als Hände?

Dürer malte zwei betende Hände, die so schön sind. Es ist eine Radierung, die als Druck vermutlich eine ebenso große Verbreitung gefunden hat wie die Mona Lisa. Sie hing in allen möglichen Haushalten zumindest in Deutschland. Was wohl die Betrachter damit verbunden haben?

Dass Dürer Franke war und dieses rüde, Konsonanten-lastige Deutsch sprach, ist kaum glaubhaft. Und dass es im groben Mittelalter, als die Karren im Morast der Wege stecken blieben, überhaupt so feine Darstellungen mit Bleistift entstehen konnten, ist eine dicke Inkongruenz.

Bill Withers widmete mit dem Lied ‚Grandma’s Hands‘ eine Würdigung dieses Körperteils. Gerade bei älteren Menschen ist schön anzusehen, wie die Erfahrung den menschlichen Körper gestaltet. Das Alter von Händen erzählt zwar keine Geschichten; doch die bloße Gestalt deutet sie an.

Doch worauf schauen wir eigentlich, wenn wir Menschen erblicken? Natürlich sind es Kopf und Silhouette. Kommt man sich allerdings näher, so sprechen die Hände unentwegt. Gerade wenn man sich gegenüber sitzt, übernehmen die Hände wohl die Hälfte der Unterhaltung.

Hände sind das Werkzeug des Homo Faber, des schaffenden und kreativen Menschen. Ganz wesentlich gehören wohl Hände und Kopf zusammen. Geradezu ist es das erste ausführende Organ des Geistes.

Doch Hände haben nicht nur ein Aussehen, sondern auch eine Haptik. Denn berührt man seine eigenen Hände, so ist alles dabei, was die Aufmerksamkeit erfordert: denn die hohe Nervendichte garantiert, dass man seine eigenen Stimmungen verändern kann. Händehaltungen, nicht Händchen halten, sind so sehr ein Anker des Ich’s. Man blicke auf die Raute von Angela Merkel; man erinnere sich der verschränkten Hände seines Pfarrers; man denke an das gemütliche Daumen Drehen; oder man rufe sich die gefalteten Hände älterer Menschen in Erinnerung.

Das Aussehen von Händen ist jedoch besser als die Berührung: denn Finger und Handfläche können rau und trocken sein. Hände können schwitzig, ja geradezu wässrig sein.

Und Hände nehmen auch wesentlich mehr Gerüche als andere Körperteile auf, da sie ja auch mit allem Außeneinflüssen in Kontakt treten.

Hände erzählen von beruflichen Tätigkeiten. Oft glaubt man gar, sie zeugten von Talenten und Haltungen. So ist die feingliedrige Hand die eines Künstlers, die kräftige Hand die eines Arbeiters.

Hände spielen auch bei emotionalen Reaktionen des Menschen eine wichtige Rolle. So rauft man sich die Haare; man vergräbt sein Gesicht in seinen Händen; u.a.

Hände sind wohl nicht nur Werkzeuge des Menschen. Sie sind ein Freund der Seele, ein Stück auf Außendarstellung des Charakters einer Person.

Nieder mit den alten Männern!

Wann gab es schon einmal eine Zeit, in der Verjüngung ein absoluter Wert war? Es ist eigentlich gleichgültig, wohin man schaut. In der Mode, im Sport, im Beruf – überall muss man möglichst jung sein. Gewissermaßen stimmt es, dass wir einem Jugendwahn unterliegen.

Gerade in der Politik und auf dem Arbeitsmarkt setzt sich das durch: Hauptsache jung – dann klappt es schon. Es wird irgendwie anders, aber sehr wahrscheinlich besser. Im Kern soll wohl Jugend Qualität garantieren. Dazu gehören Kreativität, Mut, Neugierde und so viele anderer persönlichen Eigenschaften, die man dem Alter nicht zutraut.

Gemessen an der Menschheitsgeschichte ist ‚jung’ natürlich ein relativer Begriff. Denn was heute jung ist, war vor 1000en von Jahren schon alt. Wer heute 40 ist, war im Neolithikum schon tot. Der Stammvater Abraham ist einer der wenigen überlieferten Alten seiner Zeit.

Aber in absoluten Jahreszahlen lässt sich das Alt-Jung-Schema ohnehin nicht werten. Denn es geht um die Relation zur jeweiligen sozialen Umgebung. So sind auch heute die jungen Alten ein Phänomen, das es in der Menschheitsgeschichte wohl nie gab. Gerade Ältere sind sehr verschieden in ihrem Altsein.

Funktionell liegt der Platz des Alters in Stammesgemeinschaften an der Spitze der sozialen Hierarchie. Denn stets ging das Kollektiv davon aus, dass Alter Erfahrung, Überblickswissen und Reflektion mitbringt und somit bestens für Führung und Weisung geeignet ist. Das wird auch untermauert durch psychologische Forschung, die – gerade in der Entscheidungstheorie – im Alter reifere und umsichtigere Entscheidungen feststellt.

Das hat sich auch in modernen Gesellschaften gehalten. Die überwiegende Mehrheit von Entscheidungsträgern ist 50+. Es herrscht grau und weiß, die Brille, der Ansatz zum und der veritable Bauch, die Selbstsicherheit, der gewählte Ausdruck und alles, was sie sonst noch kennzeichnet. Sie sind in Wirtschaftsmagazinen wie in Tageszeitungen immer in der ersten Reihe.

Heute jedoch tritt ein neuer Typ in die mediale Öffentlichkeit, der früher eher beargwöhnt wurde. Es ist der Sportler, der Jungunternehmer oder besser Geschäftsführer eines Start up‘s, der Umweltschützer oder der soziale Aktivist. Sie besetzen im Boulevard ohnehin die Titelblätter, sind aber auch in der breiteren Unterhaltung wie TV oder Magazinen die auffälligste Gruppe geworden.

Ich komme nicht umhin zu folgern, dass sich die breite Öffentlichkeit an diese anderen Prominenten gewöhnt. Ihnen wird Leistung unterstellt. Sie übernehmen auch Positionen in der Gesellschaft, die zwar neu sind, aber dennoch eine gewisse Funktionselite ausmachen. Und so wird die Distanz zur Schlussfolgerung immer kleiner, diesen auch eine Führung in politischen und wirtschaftlichen Fragen zuzutrauen – was übrigens in Kultur und Wissenschaft ohnehin gelingt.

Und so scheint auch in der Politik die Glaubwürdigkeit zu reifen, dass die Kläger an die Macht sollen. Es hat etwas von diesem Fanal, das mit der Studentenrevolte in den 1960ern erleuchtete. Nur, es gibt kein attraktives Gegenszenario zum Status Quo. Es wird schlicht gesagt: wir brauchen einen Neuanfang; es darf kein ‚weiter so‘ geben; alle wollen Erneuerung.

Diese Diffamierung des Status Quo ohne Konzept ist seltsam. Auch die Medien unterstützen es, indem sie den Wortführern ausreichend Sendeplätze einräumen und Zitate zu Schlagzeilen machen. Gerade in der Politik ist dies geradezu grotesk: ein Kanzler-Kritiker ruft die konservative Revolution aus gemeinsam mit einem isolierten Jungminister für Verkehr. Die Jugendorganisationen feiern sich mit der Demontage der Parteiführungen – ohne Programm!

Als Beobachter und denkender Mensch muss man aufpassen, nicht einfach nachzuplappern, was da wie ein Programm herkommt. Sonst hat man wohl nicht nachgedacht.

In Zukunft nichts Neues

Wird alles besser? Oder alles schlechter? Menschen haben hierzu ihre Meinung. Sie unterscheiden sich wahrscheinlich wie diejenigen, bei denen das Glas halb voll, und denjenigen, bei denen es halb leer ist.

Beide Ausrichtungen sind vereint darin, bei einer Unterhaltung ihre Ausrichtung kundzutun: heutzutage ist aber auch einiges anders geworden; es muss viel passieren, dass sich etwas ändert; es gibt ja noch ein Morgen; usw. Es ist wie das Gespräch über das Wetter, so beiläufig und häufig ist es Thema.

Und dann entspannt sich eine Art von Dialog, der nur aus Floskeln besteht. Tja, wieso nur hat sich so viel geändert? War es früher nicht auch schön, als es anders war? Aber: nicht alles war früher besser; früher war auch der Kaiser. Die Zukunft wird es schon richten. Die Menschen werden für dringende Probleme schon eine Lösung finden. Das war doch zu allen Zeiten der Geschichte so.

Es ist wie das zwangsläufige Einschwenken auf ein optimistisches oder pessimistisches Naturell. Hat man Angst vor der Zukunft? Oder freut man sich auf sie?

Zukunft ist aber auch fern: was kümmert es mich, dass mein Verhalten, das mir jetzt einen Vorteil erbringt, künftig einen Schaden nach sich zieht? Ist ‚nach mir die Sintflut‘ nicht ohnehin berechtigt? Oder kennen Sie das: „alte Männer sind gefährlich. Denn sie haben keine Angst vor der Zukunft.“

Erstaunlich ist, wie sehr diese eine Frage ein Abbild für das grundsätzliche Verhalten eines Menschen ist. Denn das scheint bei jeder einzelnen Handlung durch. Was im Großen gilt, ist auch Muster für das Kleine. Demnach könnte man Menschen einfach fragen, wie sie zur Zukunft stehen, wenn man etwas über die erfahren will

Es erschiene vermutlich seltsam. Doch gerade die übliche Beiläufigkeit könnte die Wahrheit ans Licht bringen. Und man könnte spekulieren, wie der andere bei konkreten Anliegen handeln würde. Vielleicht würde gar die Wahl des Urlaubsortes vorhersehbar sein: ach, ich bleibe einfach hier; gerade im Urlaub möchte ich etwas Neues erleben – ich habe ja nur eine begrenzte Zeit auf diesem Planeten.

Reichsbürger

Es gibt in Deutschland eine Bewegung von Reichsbürgern. Es ist politisch, da die staatliche Autorität abgelehnt wird; es ist sozial, da man eine größere Gruppe von Gleichgesinnten ausbildet; und es ist kulturell, da sich eine Konstruktion von identitätsstiftenden Merkmalen entwickelt hat.

Der Begriff ist erklärungs- oder besser interpretationsbedürftig: denn welches Reich ist überhaupt gemeint? Ist das säkular oder religiös? Wenn es es sich auf ein Kaiserreich bezieht, wieso nennt man sich Bürger und nicht Untertan? Wieso bricht solch eine Bewegung 60 Jahre nach Begründung unseres heutigen Staates auf? Kann es so überhaupt ein Mitglied geben, das ein Reich noch erlebt hat?

Es gibt auch eine Republik der Nudeln, wie von der Berliner Zeitung unter ‚Vermischtes‘ gerne berichtet wird. Die befindet so irgendwo in Brandenburg. Auch gibt es Ritterspiele, die Aufstellung von Schlachten, Gauklerfeste oder Erlebniswochenenden als Indianer. Und weiter ist nicht selten, das Menschen irgendwelche neuen politische Einheiten ausrufen.

Was ist das psychologische Moment dabei? Geht es einfach nur um das Dagegen? Fühlt man sich in der Gegenwart unwohl und sucht sich so einfach nur eine andere Zeit aus? Will man die wirklich leben – unter Akzeptanz der Preisgabe moderner Annehmlichkeiten und Rechte?

Und gibt es auch Ideen, aus der Idee eines Reichs das zu identifizieren, das von Mehrwert für die Gegenwart ist? Das wäre doch zumindest sinnvoll in dem Sinne, dass man das Verhalten erklären kann.

Doch handelt es sich wohl vielmehr um die Flucht in eine gedankliche Illusion. Und das wiederum ist spannend: denn auch Künstler tun das ebenso wie unternehmerische Menschen. Auch Gläubige machen dies. Doch auch Menschen mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen tun dies. Es gibt sicherlich bekannte Definitionen für die Abgrenzung der Richtungen. Und dennoch: ohne eine rationalen Erklärung und den Nutzen für das Jetzt sind das eben Spinner.

Unterwerfung durch Vornamen

Der Entertainer Thomas Gottschalk war kürzlich in einem Flugzeug, das auch ich bestieg. Ich nahm wahr, dass er wie selbstverständlich die Flugbegleiter duzte. Er kam in seinen Sitzbereich und tönte gerade so laut, dass die gesamte Umgebung es hören konnte.

Dieses Verhalten könnte man deuten als eine Art von ‚seht her, ich bin da‘-Standpunkt. Es ist ähnlich dem lautesten in einer Gruppe, der den Ton angibt. Aus Jugendgruppen – und somit aus eigener Erfahrung – weiß man um solche Typen.

Wenn ich an Menschen denke, die Ähnliches oder Gleiches taten, so entdecke ich ein Muster. Es handelt sich oft um ein ähnliches Persönlichkeitsbild und den fast immer gleichen sozialen Status. Es sind die Frontmänner! Frauen habe ich – vielleicht zufällig – niemals so erlebt.

Man nennt es jovial, selbstsicher, gewinnend, sozial dominant oder sonst irgendwie. Es gibt kein präzises Wort für dieses Verhalten. Eher muss man es umschreiben.

Schauen wir auf die Seite der Geduzten. Was denken die? Immerhin ist das eine Frage, die in der Wertewelt der Höflichkeit in Deutschland eine bedeutende Rolle spielt. Sie dürften wenig amüsiert darüber sein – es sei denn, sie verfallen dem Lautsprecher in dem Glauben, der Duzer würde sie mögen und deswegen duzen. Weit gefehlt, denn auf Vertrauen zu hoffen, wo Dominanz im Kleid des Vertrauens geübt wird, sollte niemanden per se beeindrucken.

Das ist schwierig für uns Deutsche. Bei Briten oder Skandinaviern haben wir immer diesen inneren Wunsch, dass Duzen alleine schon Lockerheit, Flexibilität und Vertrauen suggerieren würde. Die Bestätigung lässt häufig auf sich warten.

Kinder empfinden das Duzen als Bevormundung – was es im Kern auch symbolisiert: Du folgepflichtig – Sie führungsberechtigt. Denn der Vormund ist übergeordnet, hat die Kraft zur Erziehung und Anweisung. Um so schwieriger ist zu verstehen, dass sich einige Menschen dieser Gleichung und diesem Verständnis bedienen! Man sollte es einfach lassen.

Antisemitismus-Beauftragter vs. israelischer Kulturboykott

Zu derselben Zeit vollzieht sich in den Nachrichten ein erstaunlicher Vorgang: der Staat schützt die Juden vor Verleumdung; und die kulturelle Elite boykottiert den Staat Israel für seine Politik gegenüber den Palästinensern.

Wirre Zeiten! Könnte man sich denken. Denn ein rudimentärer logischer Widerspruch tut sich auf: wie kann man die Täter zu Opfern erklären? Was muss am vergangenen Größer sein als am Gegenwärtigen?

Abgesehen von der Besonderheit der Gruppe, die es zu schützen gilt, muss man sich doch fragen, wieso denn nicht andere Gruppen auch diesen Schutzstatus erhalten. Wo man auch nur Medien für seine Informationen nutzen will: immer taucht dieser Tage die Forderung auf, die Migranten, Flüchtlinge und Fremden abzuschrecken und mit minderen Rechten auszustatten. Das ist nicht nur hoffähig, sondern sogar Konsens der Mehrheit.

Sind Juden also die Ausnahme, da wir vor dieser religiösen Gruppe in einer tiefen historischen Schuld stehen? Besteht daher ein staatliches Interesse? Sind sie besonders bedroht und verletzlich?

Gilt das für viele andere Gruppen nicht auch? Sind die nur in Zahlen geringer vertreten? Haben Sie unserer Gesellschaft weniger zu befürchten? Nehmen wir als Beispiel Schwarze, die nichtmals eine Problematik darstellen. Nehmen wir als anderes Beispiel Syrer, die in immer größerer Zahl in Deutschland weilen. Nehmen wir als Beispiel Bulgaren und Rumänen, denen trotz ihrer EU-Bürgerschaft viele soziale Dienstleistungen verwehrt bleiben.

Vielleicht sollte die Politik abwägen und für jede Ethnie auf deutschen Boden einen Beauftragten einsetzen. Das würde einige 1.000 Beauftragte ausmachen.

Schwierig ist, dass man solcherlei nicht mehr diskutieren darf, ohne mit Denkverboten verurteilt zu werden. Biermann nannte es die Auschwitzkeule. Keulen haben es an sich, jemanden sprachlos zu machen. Schlimmer noch: es ist die Diktatur des demokratischen Eskapismus, der political over-correctness.

Das sog. päpstliche Geheimnis

Der sexuelle Missbrauch in der institutionalisierten katholischen Kirche wird wegen eines Kirchengesetzes nicht thematisiert bzw. tabuisiert, das sog. päpstliche Geheimnis. Es gebietet dem Wahrer der Institution Kirche, von ihr Schaden abzuwenden.
In jeder Einrichtung gibt es wohl so etwas: ein Schutzschild, sich nicht für alles verantworten zu müssen, was in den formalen Steuerungsbereich eines Herrschers fällt. Und dorthin können alle zweideutigen Sachverhalte geschoben werden, unangenehme Vorkommnisse, schwarze Kassen oder anderes, das man nicht in der Öffentlichkeit diskutiert sehen will. Kriterium dürfte auch sein, es nicht von einem säkularem Strafrecht berühren zu lassen, vielmehr einen moralisch zwielichtigen Sachverhalt erst gar nicht zur Diskussion zu stellen.
Dieser Vorbehalt des Schweigens und der Toleranz ist bequem. Es zementiert Macht. Es kann schwierigen Fragestellungen ausweichen helfen. Es macht klar, dass die Institution mehr gilt als der Ruf in der Öffentlichkeit. Es gelingt so, im Inneren zu regeln, was geregelt werden muss.
Die historische Kirche ist damit Vorbild für so ziemlich alle hierarchisch strukturierten Einrichtungen. Dadurch ist es auch ein Stück selbstverständlicher Organisationsentwicklung. Denn jede Organisation schafft sich das Gebot, sich zu erhalten. Vielleicht entwickeln sich deswegen alle Gruppierungen zu einem solchen Vorbehalt.
Erhält eine Herausforderung nicht den Stempel einer organisationsinternen Angelegenheit, wird automatisch der Vorbehalt in Frage gestellt. Dann kann sich der Herrscher nicht mehr auf die institutionelle Macht berufen; er muss aus der Perspektive eines anderen Systems eine Erklärung leisten. Und das ist schwierig, da dann zwei Organisationslogiken aufeinander prallen.
Im Kern handelt es sich dann um einen Konflikt zweier widerstrebender Loyalitäten. Auch ein liebender und bewusster Vater wird sein Kind verteidigen, wenn ihm ein gravierender Fehler unterlaufen ist. Er riskiert entweder auf der einen oder anderen Seite Misstrauen und Abwendung.
Wie schön wäre, hätte jeder Mensch ein Recht auf den Rückzug in den Raum des Geheimnisses. Dann käme er um alle inneren und äußeren Konflikte herum. Schweigen mag im Volksmund Gold sein. Es ist jedoch keine Handlungsmaxime für das Leben.