Rausch der Macht

Vier Beispiele: Der Passant sagt „mach Strecke“ gegenüber einem älteren Bettler; die Manipulation der Ehefrau durch emotionale Erpressung; die kleinen Geschenke an einen Betriebsrats-Vorsitzenden, der nicht widerstehen kann; oder das kleine Mädchen, das ihren Hund erzieht.

Das Verhalten könnte jeweils auch anders, sprich besser sein: nämlich auf Macht verzichten. Tja, der Mensch scheint dem gegenüber genauso empfänglich wie gegenüber dem Dieb, der nur durch Gelegenheit dazu wird.

Lincoln sagte: „Macht an sich ist nicht das Problem; nur was die Menschen daraus machen.“

Viele von uns würden es von uns weisen, Macht zum eigenen Vorteil zu nutzen. Und doch tun wir es, manchmal wissentlich geheim, manchmal jedoch schlicht ohne jegliches Gefühl.

Und dennoch dürfte die Mehrheit gegen die Mächtigen und deren Privilegien sein. Man kann ja auch nicht ein Gegenüber mögen, das seine Macht gehen die eigene Person ausspielt.

Man sagt auch, dass Macht und Geld den Menschen zu Kopf steigen. Vielleicht ist Macht ja ein nicht kontrollierbares Suchtmittel.

Das ist möglicherweise vergleichbar mit dem sprichwörtlichen Blutrausch. Den gibt es scheinbar wirklich. Das berichten Psychologen von den Kindersoldaten in afrikanischen Bürgerkriegen. Wir mögen in Europa zivilisierter – sprich gewaltfreier – sein. Und dennoch missbrauchen wir wohl tagtäglich Macht.

Werbefläche T-Shirt

Ist Ihnen aufgefallen, dass T-Shirts meist einer Selbstauskunft verpflichtet sind?

Das beginnt schon beim Kauf: kaum mehr einfarbige Shirts lassen sich auf den Haufen finden. Dann ist die Mehrheit der Shirts durch ein Firmenlogo gekennzeichnet. Und ansonsten bieten sich nur T-Shirts mit irgendwelchen Aufschriften und Bildern.

Es ist schon erstaunlich, dass Kleidung immer wieder dazu genutzt wird, den Menschen zu verorten. Schon in Antike und Mittelalter beschrieben Kleidungsstile die Zugehörigkeit zu einer Schicht. Zudem gibt es für handwerklichen Tätigkeiten auch Kleidung, mit der man sein Gewerk ausführte.

Schmuckkleidung jedoch bezieht sich auf Region und Kultur; meist wird das heute als Folklore von Nationalkostümen genannt.

Mit der industriellen Revolution bedeutete Kleidung wieder das bloße funktionelle Äußere zu beruflichen Tätigkeiten. Gleichzeitig gab es aber auch Alltagskleidung, mit der man sich im öffentlichen Raum bewegte. Man ‚putzte‘ sich heraus. In Heimat- oder Betriebsmuseen lassen sich seltsam kostümierte Menschen im Kleid oder Anzug betrachten, die beispielsweise zur Kirche flanieren.

Heute will man seine selbst gewählte Zugehörigkeit ausdrücken. So erscheinen auf T-Shirts alle möglichen Identifikationen mit Einrichtungen, Orten und Personen. Der Träger verweist den Beobachter auf einen Punkt seiner Identität. Man will damit ausdrücken, dass man mit dem Wertekonzept und der zugehörigen sozialen Großgruppe verbunden ist.

Der öffentliche Raum ist insoweit global geworden, als global erhältliche Marken von Herstellern oder andere global bekannte Produkte überall bekannt sind. Gerade an Orten, wo Touristen zusammentreffen, kann man den Menschen unterschiedlicher offensichtlicher Herkunft dieselben Shirts tragen sehen.

Man hat aber auch keine Wahl: denn wie gelangt man zu einem individuell gestalteten Shirt? Man könnte Dinge aufnähen oder färben. Ich erinnere mich noch an die Batik-Orgien unserer Kindheit. Dann gab es auch noch diese Textilabzeichen, die man aufnähen könnte.

Auf der Brust trug man immer schon Zeichen. Gerade die Ritter trugen dort Symbole ihrer Familien und Herrschaften. Orden tragen Menschen mit Vorliebe auf dem Herzen. Aber auch Trauerschleifchen werden gerade da platziert.

Man muss sich aber fragen, wieso Menschen das tun. Es ist mit ihr wichtigstes Begehren, einer Gruppe anzugehören, von der sie glauben, ihr gutes Image fiele auch auf die persönlich zurück. Es geht auch darum, persönliche Verdienste zu zeigen. Es geht überhaupt darum, mit Menschen auch passiv zu kommunizieren, wie man gerne gesehen würde.

Man kann sich dem verweigern oder hingeben – es ändert sich wohl nichts an dem Mechanismus!

Bei sich bleiben

Kennen Sie den Moment, in dem Sie am liebsten in Panik, Trance oder in einen unkontrollierten Zustand fallen würden? Es ist wie die Aufgabe der kognitiven Kontrolle über den Kopf – und den Körper allemal.

Ein Beispiel: irgendetwas löst Unruhe in einer Menschenmenge aus; Köpfe drehen sich; sorgenvolle Gesichter blicken sich an; die Menge gerät in den Modus der Flucht. Gerade die Unwissenheit darüber, was los ist, steigert die Phantasie, was los sein könnte. Die Beurteilung hängt sich an Gerüchten und Vermutungen auf.

Ein weiteres Beispiel: man entdeckt eine Anormalität an seinem eigenen Körper, die mit Schmerz verbunden ist. Man konsultiert das Internet und entdeckt Horror-Erkrankungen.

Und ein letztes Beispiel: eine öffentliche Person wird plötzlich eines unmoralischen Verhaltens bezichtigt. Das passiert derzeit häufig in Folge der me too-Debatte. Eine lange geschätzte Person wird plötzlich einer Flut von Verdächtigungen ausgesetzt.

Zu gerne schließt man sich dem an, was sich offensichtlich aufdrängt. Es gibt entweder die Suggestion, eine Masse von Menschen habe Expertise oder man müsse schon dem folgen, was die Mehrheitsstimmung ist. Das Gewissen scheint hier in Umkehrung seiner Rolle eher zu schubsen denn zu bremsen.

Es handelt sich dabei wie um eine psychologische Ansteckung: das kognitive Immunsystem versagt. Man wird krank!

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es natürlich einen Raum, der sich als Pause nutzen lässt. Oft ist dann unter Psychologen die Rede von einer Chance, die man antrainieren kann.

Ich sehe jedoch eher ein grundsätzliches Merkmal von Persönlichkeit darin, sich stets und immer einen Rückzug von den Dingen zu bewahren. Das wäre dann internalisiert, also einfach immer ein Fenster vor der Bewertung.

Andere sagen dann vielleicht, man sei egoistisch. Denn man schert aus, ist nicht automatisch ‚dabei‘. Das muss man in Kauf nehmen.

Besser wissen vs. besser maulen

Derzeit tobt die Debatte darum, wieso extreme nationalistische Gedanken vor allem in Ostdeutschland Anklang finden.

Die gängige Antwort für Ostdeutschland lautet: man hätte 28 Jahre nach der Einheit die spezifischen Probleme wahrnehmen müssen. Die Lebensleistungen seien nicht wertgeschätzt worden. Vielmehr sei man auf die Rolle des Diktaturopfers und auf den Schmarotzer in Gesamtdeutschland degradiert worden.

Stellvertretend dafür ist die These des Vorsitzenden Mielke, der besseres Zuhören verordnet.

Antwort Nr. 2: Einfache Antworten

Auf Inforadio hörte ich eine Sendung, in der sich eine ehemalige hessische Unternehmerin, die nun Grundsicherung wegen ihrer MS-Erkrankung erhält, zu ihrem Schicksal äußert: „Wie kann man sein persönliches Schicksal denn dem Staat anlasten?“

Das aber würden nach meiner Erfahrung die Ostdeutschen tun. Die Antwort wäre ja.

Schließlich hatte ja auch Altkanzler Kohl den Ostdeutschen blühende Landschaften versprochen.

Antwort Nr. 3: Empörung lohnt sich

SPD-Politiker Saleh hat jüngst in Berlin gefordert, man solle sich bei den Ostdeutschen entschuldigen. Schließlich sei der Prozess der internen Vereinigung und Integration eigentlich ein Vorgang der Assimilation und Angleichung gewesen.

Tatsächlich scheint diese ständige schlechte Laune mit Blick auf die neue Zeit des wiedervereinigten Deutschlands zum Kammerton und zur normalen Stimmlage geworden zu sein.

Antwort Nr. 4: wir werden verarscht

Das Brummeln wurde zur lauten Empörung über ausgerechnet die Erfolgskanzlerin aus den eigenen Reihen, die es aufgrund ihrer Herkunft hätte besser wissen müssen.

Denn das ‚wie schaffen es‘ strafte all die Lügen, die die Angleichung der Lebensverhältnisse versprochen hatten; also vor allem den Wohlstand und die Bezahlung. Denn diese Angleichung war nie zu schaffen.

Alle Antworten haben eine Logik. Die Logik funktioniert allerdings wirklich nur, wenn die Voraussetzung erfüllt ist, das der Staat der Garantor eines erfolgreichen und erfolgreichen Lebens ist – welch ein Un-sinn!

Clickbait

Was für ein freundlich klingendes Wort – und doch ist es von großer seltsamer Wirkungsmacht. Gelesen habe ich es erstmals in einem Interview mit Jim Jarvis, einem Professor der Journalistik.

Es bezeichnet die erste News in einem Infoportal, die dem Besucher auf den ersten Blick ins Auge springt. Es sind diese Erreger von Aufmerksamkeit, die es den Betrachter kaum übersehen lässt.

Es sind tatsächlich ‚Schlag‘zeilen, die den Leser mehrheitlich in den Bann ziehen. Offenbar können wir uns ihnen nicht entziehen. Bei der BILD-Zeitung war es möglich, einfach nur vorbeizugehen. Doch bei Portalen ist man eher versucht zu klicken, um die ganze Story zu erfahren.

Dabei sind solche Geschichten eher von geringerer Bedeutung für das eigene Leben. Es kann das sein, was im Englischen human interest stories sind – nicht unbedingt Klatsch und Tratsch. Es kann sich aber auch um Katastrophen und Unfälle handeln. Oder es sind tatsächlich Nachrichten aus dem Reich der Politik, bei dem der Mensch die Schlagzeile macht, nicht sein Handeln.

Man kann dies als die ‚Medien‘ mit einem Unterton abtun – als ob sich dieser Unsinn nicht abstellen ließe; und einen selbst unberührt ließe. Das ist eine Selbstlüge, da genau diese Medien die behäbige Rationalität überlisten. Es ist wie der starre Blick auf den Personenunfall, von dem nicht lassen kann.

Diese losen Eindrücke von der ein oder anderer Thematik sowie von Personen öffentlichen Interesses bleiben mehrheitlich das einzige, was man über den Sachverhalt weiß. Und dieses Puzzle an unzusammenhängenden News malt unser Weltbild. Den Pinselstrich führen dabei die Redaktionen – und immer mehr auch Webarchitekten.

Und so wird unser Bild von der Welt eines von Extremen. Denn die Normalität gibt es dort nie, nur das Außer-Gewöhnliche. Bei Menschen suggerieren die News eindeutige Botschaften: Unfähigkeit oder Exzellenz.

Nur mehr der bildliche Eindruck zählt dann. Eine Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Informationen unterbleibt. So kommt es auch nicht zu einer Meinungsbildung im eigenen Kopf. Tauscht man sich mit anderen aus, so haben auch die nur die clickbaits gesehen – das Nachdenken bleibt im Flaschenhals stecken. „Sag mal, hast Du auch die Geschichte von Jan Ullrich und Paris Hilton gehört?“

Das englische Wort drückt aus, dass man gebissen wird – das zeigt die Aufgabe des fliegenden Blicks: wieder hinzuschauen und das Beißen zu verhindern.

Sarrazin

Thilo Sarazzin kannte ich als Begriff durch das Hören von Radio-Sendungen. Ich wusste, dass er im Bundesministerium für Finanzen tätig war, dann als Finanzsenator in Berlin. Er hatte einen guten Ruf. Vor allem senkte er die Schuldenlast des notorisch überschuldeten Berlins.

Und jetzt? Eine persona non grata, ein Aufwiegler; ein Extremist; ein Agitator; und vieles mehr. Er sei ein Hetzer, er gehöre aus der SPD ausgeschlossen, er verbreite Lügen über den Islam. Der zentrale Vorwurf jedoch ist der der Islamfeindschaft. Zudem darf ein etablierter Mensch mit einem privilegierten Zugang zu den Medien nicht sagen. Das ist Hochverrat am bürgerlichen Konsens, moralisch gut zu sein.

Nun habe ich das erste Buch von Sarazzin gelesen, Deutschland schafft sich ab. Mich erstaunte trotz der Presse das Arbeiten mit wissenschaftlicher Evidenz. Die Schlussfolgerungen folgten der These, dass der gelebte Islam der Einwanderer eine Gefahr für die Demokratie sei. Freilich malte der Autor ein Bild von einer sozialen und politischen Gefährdung. Das hat auch Michel Houellebecq getan, der jedoch von den bürgerlichen Lesern verehrt wird.

In einer Phase der politischen Diskussion, die vermeidet, Gefahren zu benennen, kommt das nicht christlich an. Sie verstößt gegen den Konsens, dass der Islam zu Deutschland gehört und dass das Land ein Einwanderungsland ist. So gerät man zum Außenseiter und wird der politischen Rechten zugeordnet.

Sarrazin als politischer Autor ist nicht das Problem, sondern sein Stand jenseits des Konsenses.

Im Auge der Macht

Gelegentlich habe ich durch meinen Beruf mit prominenten Amtsträgern zu tun. Das können sehr unterschiedliche Menschen sein.

Auch wohne ich in Charlottenburg in Berlin, wo es eine hohe Dichte an öffentlich bekannten Personen gibt.

Kürzlich musste ich jemandem die Hand drücken, den ich auch persönlich kenne. Es geschah etwas Seltsames: mein offenes und freundliches Gratulieren verband sich damit, dass ich der Person in die Augen schaute. Plötzlich akkommodierte der Blick meines Gegenübers in einen Weitblick, der mich nicht mehr fixieren konnte. Er schaute quasi durch mich hindurch.

Ich musste mich im Moment gar nicht mehr fragen, was das bedeutet. Denn es passierte eine Menge: zunächst war klar, dass dieser Augenblick an persönlicher Hinwendung zu Ende ist. Dann wurde alleine schon damit signalisiert, dass die persönliche Augenhöhe wieder der professionellen Distanz weichen muss. Gleichzeitig wurde deutlich gemacht, dass es der Mann mit Status ist, der die Spielregeln eigenständig beschreibt.

Mir fällt heute der Ausdruck Augenhöhe ein, der für uns Menschen so eminent wichtig ist: wer das leugnet, leugnet wohl die Wirklichkeit. Der Begriff beschreibt eher die echte körperliche Höhe, in der sich Augen treffen. Der kleine Mann war im Nachteil, da er den Kopf strecken musste – und somit suggerierte, dass seine Manneskraft einer physischen Auseinandersetzung nicht gewachsen wäre – das war in der Zeit der Waffen wohl die Norm.

Und so betrachte ich Menschen mit Macht genauer. Es sind diese Mikrogesten, die bewusst gesetzt werden. Es sind immer die, welche Überlegenheit suggerieren, wie dieser leicht gehobener Kopf; das Gähnen; das bewusste Zucken mit den Wimpern; das nur kurze Anschauen – als ob diese Menschen wüssten, wie man andere nochmals ihres Status und ihrer Rolle bewusst macht.

Als ich jung war, glaubte ich, dass das Treffen der Augen das Delikateste zwischen Menschen ist, wahrscheinlich mehr als Sex. Die evolutionäre Erklärung für den Übergang von Begatten zu sexuellem Kontakt Auge und Auge scheint das zu bestätigen: Mann und Frau wurden gleichwertig; der Mensch schaute auf den Akt.

Und so versuchte ich, den Blick auszuhalten, um meine Personenstärke zu beweisen. Ich versuchte das erstmals mit Stringenz bei dem Pfarrer im Vorbereitungsunterricht zur Konfirmation. Zwar schielte er leicht, doch empfand ich ihn mit seiner banalen Position ‚glaube einfach‘ als eine enorme Provokation. So begann ich mit Augenduellen. Und ich gewann immer häufiger.

Heute habe ich ein gewisses Repertoire – auch an Einsichten. Blicke haben ihre eigenen Regeln, wie Anschauen oder Beobachten. Es stimmt: das Auge schafft Macht!

Grau

Schwarz und weiß sind eine tolle Sache! Doch was ist eigentlich mit dem grau?

Mir fällt immer häufiger auf, dass die Polarität ein strukturelles Moment unseres Denkens ist, vielleicht auch eine Gefahr.

Die Verengung zeigt sich bei den Dimensionen: 2 Dimensionen sind leicht, 3 schwieriger, 4 unmöglich. Die Wahrnehmung der Welt orientiert sich daran: denn die 3-Dimensionalität ist fix mir der Moderne verbunden – wohingegen für die Menschheitsgeschichte zuvor der Grundsatz der 2-Dimensionalität galt.

Aber auch von unserer biologischen Ausstattung sind wir limitiert. Ein Beispiel ist der Schlagzeuger, der max. 3 Takte oder Rhythmen schafft. Und das ist schon eher kein kognitives Tun als motorische Routine.

Nimmt man den Körper abstrakt wahr, so ist eine Dualität gegeben, die zwei Körperhälften spiegelbildlich integriert: es gibt zwei von den Händen, Füßen, Beinen, Armen und Ohren.

Und man sieht an unserer Sprache, wir sehr die Polarität unser Denken prägt: jede Sache hat zwei Seiten; zweite Seiten hat eine Medaille; zu einer guten Ehe gehören immer zwei; der sind einer zu viel …

Der Gegensatz von gut und falsch ist auch religiös überhöht bzw. und so auch legitimiert: zwischen Himmel und Erde; zwischen Gott und Teufel; Freund und Feind; katholisch und nichts anderes …

Ich finde das Ausweichen wunderbar. Ich meine nicht die Mitte damit; eher nicht entscheiden zu müssen. Das lässt mir Zeit, mich nicht – für immer und ewig – auf eine Seite schlagen zu müssen.

Außerdem weiß ich, dass ultimative Bewertungen unsinnig sind: wie häufig irre ich mich! Und wie häufig entwickelt sich etwas, wodurch ich anders urteilen muss.

Diese totale Relativierung ist gleichermaßen Unfug, ohne dass ich weiß, wann grau in weiß und schwarz übergehen muss. So empfinde ich auch das Ausmaß an Freiheit bei der sexuellen Orientierung zu viel. Man kann Natur nicht bis zum Quietschen beugen.

Die Belegung des Entscheidens mit der Polarität – wie nach einem Reiz-Reaktions-Schema – will ich nicht zu meinem Grundmuster machen. Es schürt vorschnelle und instinktive Entscheidungen. Ob ich damit gut fahren werde, wird sich noch zeigen.

Ich bin so wütend

Alle möglichen Menschen empören sich dieser Tage über alles Mögliche. Es ist wie eine kollektive Aufwallung. Man beschwert sich über das eine, das andere und das weitere. Es gibt kaum mehr den Zustand, in dem eigentlich alles als in Ordnung befunden wird. Die Menschen kommen gar nicht mehr zur Ruhe.

Zwischenzeitlich gibt es immer mehr Analysen, die das Phänomen zu erklären versuchen. Es ist da von allerlei die Rede. Die Schwierigkeit freilich ist, dass es weder theoretische Ansätze noch irgendwelche Nachweise gibt.

Auch Literatur entsteht dazu, wie gar ein Buchpreis dem Thema gewidmet wird, i.e. Carolin Emcke mit Hass.

Man kennt das Verhalten meist von Heranwachsenden, die in ihrer Pubertät eine Phase des wütenden Aufstandes hinter sich bringen. Denn sie lehnen ihre Eltern ab und sich somit gegen sie auf. Das ist wichtig für ihr erwachsen Werden.

Wut ist so eine Sache. Vielleicht sind es tatsächlich Hormone; oder aber mangelnde Impulskontrolle. Aber es könnte auch Unzufriedenheit und Aggression nach dem Muster sein, dass sie entsteht, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden.

Wenden wir uns den Eltern zu: auch sie werden wütend, wenn sich ihre Kinder ihrer Kontrolle entziehen. Sie sind dann der bewussten Verletzung nahe – auch der Anweisung und des Befehls.

Oder bei Paaren: die Wut richtet sich gegen den, der sich nicht mehr verstanden sieht und fühlt. Er schreit. In französischen Filmen passiert dann noch mehr:-)

In der Generation meiner Eltern war Wut tabu – mit Ausnahme des Auslebens hinter verschlossenen Türen. Wut war privat. Heute fördern Zeitgeist und populäre Mehrheitsmeinungen das Herauslassen von Wut: das ist gut so! Sei ehrlich zu Dir und Deiner Umwelt! Lass es raus – sonst schadet es Dir. Sei Du selbst. Passe sich nicht an.

Und dann?

Ich irre mich

Der Mensch von heute irrt nicht selbst: er wird verwirrt; er wird verführt; er wird abgelenkt; er wird Opfer des Kontextes, seiner Umstände.

Kürzlich widerfuhr es mir auch: bei einer Kleinigkeit hatte ich schlicht nicht richtig nachgedacht: ich hatte mich geirrt. Mir war klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte – Ja gemacht! Er war mir nicht ‚unterlaufen’.

Bei meiner internen Fehlersuche kam ich schnell auf die Quelle meines Fehlers: es war Trägheit und der Mangel an Sorgfalt. Ich hätte das mit Konzentration lösen können. Insoweit war dies einer dieser berühmtem Flüchtigkeitsfehler.

Es gibt aber auch Fehler bei eigenen Operationen, bei denen weder Wissen noch Kompetenz ausreichen. Klassisch dafür sind kleinere mathematische Aufgaben oder Quizze in den öffentlichen Medien. Es reicht dann schlicht nicht, eine Aufgabe zu lösen.

Immer wieder bin ich selbst erstaunt, wie schwach mein aktives Wissen sein kann. Dann kann ich Dinge nicht abrufen, die mir immer bekannt waren. Ich könnte dann sagen: „eigentlich weiß ich das. Doch irgendwie komme ich gerade nicht darauf. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich müde bin.“

Eine beliebte Erklärung für nicht Wissen ist auch das Abtun: „heutzutage ist doch überall alles abrufbar. Da muss man nicht selbst noch Wissen anhäufen und sich anstrengen.“ „Wichtig ist doch nur zu wissen, wo etwas steht.“ Und wenn dann jemand mit Detailkenntnissen über irgendeinen Sachverhalt glänzt, dann wird dies durch andere Äußerungen abgewertet: „Das gehört wahrscheinlich auch zum Lexikon unnützen Wissens.“

Gleichzeitig gibt es eine Tradition, Denkfehler aufzudecken, die immer wieder und von allen Menschen begangen werden. Sie irren sich; werden aber auch zu Fehlern verleitet.

Es ist interessant, wie sehr der Mensch von der Fehlerfreiheit seines Denkens ausgeht und überzeugt ist. Gar wird es zum Entscheidungskriterium für so vieles statuiert. Beispiel ist der Augenzeugen-Nachweis. Er wird oft zur Grundlage dafür gemacht, dass ein Freiheitsentzug verhängt wird.

Der heutige Mensch traut seinem Denken alles zu. Es ist seltsam: denn während der Schulzeit wird ihm durch die Notengebung geradezu ständig vor Augen geführt, dass es ein Delta zur Perfektion, also zur Fehlerfreiheit gibt.

Das ist auch Aufklärung!