Gerechtigkeit reloaded

Edward Snowdon ist ein Typ. Da taucht dieser junger Mann auf, der all‘ die Courage hat, eine moralische Ungerechtigkeit öffentlich zu machen. Und die Menschen huldigen ihm insgeheim.

Dann aber beginnt die Schere im Kopf zu wirken, die sagt, man könne doch nicht Dinge verraten, für die man einst versichert habe, sie nicht offenzulegen.

Der Deutsche ist von so vielen Seiten beeinflusst: die Überwachungserfahrungen aus NS- und DDR-Zeit sind ein Menetekel, das uns eben schon in der Schule an die Tafel gemalt wurde. Dann wollen wir die schier grenzenlose Freiheit im Internet genießen, die uns endlich alles erlaubt. Und schließlich kennen wir nun den umstrittenen Helden, der sich gegen die Übermacht auflehnt.

Wer kennt solche Situationen nicht auch aus Familie und Betrieb? Soll ich sprechen, auch es wenn mir schaden könnte? Soll ich schweigen, um meine und die Existenz meiner Familie zu retten? Die gewöhnlichen Gewissensfragen sind die aus dem Bundeswehrgewissenstest der 1990er Jahre, dem Verrat der Affaire einer Freundin oder dem Beichtgeheimnis der Seelsorger.

Welch Konflikt! Niemand von uns kann ihm in seinem Leben ausweichen. Was nur ist der richtige Weg im Dickicht zwischen Authentizität und Rationalität? Schweigen und Ignorieren hilft, hinterlässt jedoch ein schlechtes Gewissen. Wir sind nicht alle Helden. Doch müssen wir uns auch noch im Spiegel anschauen können. Was also tun?

Nehmen wir ein Beispiel: eine Kollegin wird vom gemeinsamen Vorgesetzten gebosst. Geschieht dies im Teamgespräch, schauen alle zu Boden. Niemand will sich mit dem Chef anlegen, jedoch lehnen gleichzeitig alle diese einseitige Machtausübung durch ihn ab. Den Kindern würde man zu Hause sagen, wehr Dich doch! Geht man ins nächste Museum, empört man sich doch auch über diese schweigenden Massen, als die Juden in die Lager geschickt wurden.

Die Empfehlung, es mit sich selbst ausmachen zu sollen, ist probat, einfachund irgendwie elegant. Zumindest sollte man dies im Kopf wälzen: wem geben wir Recht? Wie sollten wir reagieren? Die Frage ist zu trennen zwischen der eigenen Haltung und der Option des Handelns.

Bei der Überlegung, wie zu handeln ist, sollte man sich mehrere Fragen stellen: besteht ein Erfordernis, das Unrecht zu stoppen, die Missstimmung zu beenden und das Überflüssige abzustellen? Ist dies zu bejahen, dann: welches Handeln ist erforderlich, um zumindest das Verhalten des Vorgesetzten einzudämmen? Weiter heißt es, die Erfolgswahrscheinlichkeit abzuwägen, je nachdem, welche Schritte notwendig sind.

Und dann geht es zu einem selbst: muss ich selbst handeln? Würde ich von anderen erwarten, mir zuliebe zu handeln? Wie wäge ich meinen potentiell persönlichen Nachteil mit dem Vorteil für den anderen ab?

Wir handeln in solchen Situationen unterschiedlich. Wir wissen aber auch, dass nur eine Minderheit der Kollegin zur Seite springt. Wir ahnen, dass wir ein schlechtes Gewissen haben. Und wir verdrängen rasch den Umstand, sich für seine Entscheidung zu schämen. Schließlich erfinden wir gute Gründe, nichts unternommen zu haben.

Was wichtig ist – gerade wenn es einem schwer fällt: Man muss sich der Frage stellen; man muss ehrlich zu sich sein. Und man muss die Konsequenzen für sein eigenes Handeln selbst tragen. Hat man sich entschieden, kann man sich auch anderen erklären.

Und Snowdon? Er hat die Frage klar und eindeutig beantwortet – und das als Mensch. Zum Helden und Heiligen wird er von den Mutlosen gekürt werden.

Ablehnung

Mit Ablehnung kann der Mensch nur schwer umgehen. In früheren Zeiten verhungerte man wohl gar, wenn die engere soziale Gruppe eine Person ablehnte. Heute wird das emotionale Bedürfnis nach Wahrnehmung und Wertschätzung ausgehungert.

Ablehnungen vollziehen sich immer und überall. Im Vergleich zur Freude über einen neuen Kontakt wiegen sie vielleicht gar schwerer. Es kann zu einem Schmerz ausarten, der eben nicht durch eine Schmerztablette, Ausschlafen oder körperlichen Gegendruck verschwindet.

Was passiert da eigentlich? Rational weiß man doch, dass man nicht von allen gemocht wird. Man selbst mag auch nicht alle Mitmenschen. Doch im Kopf gilt diese höhere Einsicht nicht, wenn eine Ablehnung überraschend oder auch erwartet eintrifft. Man fühlt sich dann elend, einsam und verlassen.

Es fühlt sich an wie ein Stich, der sich in das verlässliche Gedankengerüst bohrt und plötzlich allen Raum einnimmt. Es fühlt sich an wie eine ungewollte Konzentration, die emotional noch überhöht wird. Es ist wie ein Befehl ‚konzentriere Dich darauf‘ – sonst droht Gefahr.

Umgehend steht man in der Entscheidungssituation, auf die vermeintliche Verletzung zu reagieren oder sie abzutun. Diese kurze Phase der Ohnmacht ist wie die Starre des Rehs im Autoscheinwerferlicht.

Wohl geht man zwangsläufig alle Trauerphasen durch. Erst prüft man, ob eine Geste, ein Satz oder anderes wirklich eine Ablehnung sein soll. Dann will man es nicht wahrhaben. Dann geht es ins Bewusstsein über. Und schließlich ignoriert man es.

Also kann man sich daran gewöhnen? Wohl nicht. Aber man kann damit besser umgehen, wenn man Ablehnung erst hinnimmt, dann aber auch akzeptiert.

Man kann Ablehnung aber auch aus seinem Kopf herauslassen und den Ablehnenden fragen oder die Ablehnung diskutieren. Das aber ist wohl nur dann von Erfolg gekrönt, soweit man das Gegenüber dazu bereit weiß und berechtigterweise mit einer Modifikation der Ablehnung rechnen darf.

 

Rechthabenmüssen

Martin Walser, der Schriftsteller aus dem Süddeutschen, sagte in einem Interview (SPIEGEL 52/2012, S. 134): „Und ich sage jetzt vor Zeugen: soweit möchte ich mich bringen, dass ich nicht mehr recht haben oder mich verteidigen will!“

Walser ist 85 Jahre alt und zieht eine ganz eigene Lebensbilanz. Er hat keine Lust mehr auf diese Auseinandersetzung mit der Außenwelt.

Manfred Rommel hat einst in einem Interview gesagt, die wahren Abenteuer fänden eigentlich im eigenen Kopf statt. Er war schwer an Parkinson erkrankt und konnte nicht mehr das Haus verlassen. Vermutlich war er dafür dankbar.

Ist das der Zustand des Weisen? Er zieht sich in sich zurück und lässt die anderen anders sein?

Ist das auch ein Ideal für die Lebensmitte oder gar die Jugend? Immerhin ist es ein Benchmark: denn das besagt, dass man sich weder von der Meinung anderer abhängig machen noch sie beeinflussen muss.

Dieser Schritt bedeutet nicht den bewussten Verzicht auf eine Spiegelung durch die anderen. Der ist auch weiter spannend.

Doch kann man sich auf die innere Auseinandersetzung zwischen den eigenen Stimmen einlassen, sich als Zuhörer zurücklehnen sowie sich über den Austausch und den Erkenntnisgewinn freuen.

Es lebe die innere Einkehr!

Konvertieren

Ich kannte einst einen unheimlich attraktiven Menschen – eine Frau. Sie war wahnsinnig lebendig, ueberraschend, humorvoll und kreativ, ehrlich und herausfordernd.

Die Welt hat sie verloren, da sie sich mit einem streng Gläubigen vermaehlt hat. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Der Mensch ist weg, die Huelle lebt fort.

Es laesst sich beobachten, dass Konvertiten immer streng glaeubiger als die etablierten Glaeubigen sind. Das mag ein Dienst am neuen Kollektiv sein, um seinen Nuetzlichkeit unter Beweis zu stellen.

Vertikutieren ist ein Bild fuer Konvertieren: es wird alles auf den Kopf gestellt und durch ‚den Wolf gedreht‘. Kein Stein bleibt auf dem anderen.

Wieso tun das Menschen? Sind sie einfach unzufrieden mit ihrem bisherigen Sein, mit ihrem Leben? Sind sie ihrer Identitaet, ihrem Ich müde und ueberdruessig geworden?

Im Gegensatz zum Karneval kann man den neuen Mantel des streng Gläubigen nicht einfach ablegen und sich umziehen. Man waescht ihn und zieht ihn immer wieder an.

Auch wenn Menschen ihre Zustaende immer wieder aendern, unterschiedliche Laender bereisen oder ihr Repertoire an Wuenschen und Erwartungen ableben – duerfen wir unser unserer eigenen Attraktivitaet und der Freude seiner Mitmensch einfach so entziehen?

Ob Gott das so wollte?

Sotchi und die Folgen

„Es lebe der Sport“ sang Reinhard Fendrich einst. Zynisch machte er sich
ueber die Profituemelei der Hobbysportler lustig.

Nehmen Sie an, Sie kaemen von einem fremden Stern und wollten unsere Welt
kennenlernen! Sie wuerden auch an Sport nicht vorbeikommen. Belustigend
fuer Fremde muss schon diese Aussprache des Wortes sein, da man seinen
menschlichen Mund zu einem runden Ring formen muss.

Und so wuerde Ihr Zugang ueber die Berichterstattung der Medien folgen.
Dort zaehlen nur diese Treppchen und Amulette, die man niemals auf der
Strasse tragen wuerde.

Mit den Medien zusammen hebt und senkt der Buerger und Zuschauer seinen
Daumen. Es ist dann ganz leicht, die Helden von den Versagern zu
unterscheiden. Das passiert gar schon wahrend der Kommentierung: stimmt die
Weite, bekommt der Athlet Lob, sonst Schelte.

Gleiches vollzieht sich mit den Dopern: so viele Helden wurden durch
Tinkturen, Spritzchen, Ergaenzungsmittel zu outlaws. Der Zuschauer hat mit
diesem Switch zur Verdammnis offenkundig kein Problem. Denn die Haeme und
Erregung ueber das Verbotene, die Formulierung der sozialen Ausgrenzung ist
eindeutig: Du gehoerst nicht mehr dazu, nicht mehr zu uns, den Guten und
Regelbefolgern. Sie sind Verbrecher, da die vermeintliche Taeuschung
schwerer wiegt als die potentielle Verletzung des eigenen Koerpers.

Es zeigt sich in diesen beiden Phaenomenen, dass der Sport einem
anthropologischen Grundbeduerfnis entspricht: es setzt sich ein Instinkt
zum Johlen, Jubeln, Verdammen und Vergoettern durch. Mann und Frau koennen
die Sau rauslassen! Moralische Konventionen, ethische Verhaltensweisen und
soziale Umgangsregeln werden anders und schaerfer gewichtet.

Fuer die Sportler selbst ist eine Teilhabe am Spitzensport Wagnis genug:
kaum erlangt der Mensch Prominenz, wird er zum Objekt der Massen. Er wird
geradezu ver-rollt und ent-individualisiert.

Fuer die Funktionaere ist das Spektakel Boden ihres Wirkens und Sicherung
ihrer materiellen Existenz. Zudem macht Macht Spass.

Fuer die Medien ist Sport ein fester Punkt vor der Wettervorhersage, aber
auch eine Rubrik neben Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – nicht Teil,
sondern mit gleicher Bedeutung.

Fuer die Zuschauer ist Sport meist zuschauen, nicht Sport ausueben. Sie
sind wie im roemischen Zirkus die Masse.

Was bleibt, wenn das Stadion verlassen ist und der Fernseher erlischt?
Schaltet man dann wieder um? Pflegt man dann das eigene Kind, das weinend
den Sportplatz nach einer Niederlage verlaesst? Kann man sich dann die
Doping-„Suende“ erklaeren? Verzeiht man sich dann selbst die langsame
Jogging-Runde? Und kann man dann wieder ueber die Maenner auf der Strasse
schmunzeln, die ihren Trainingsanzug in schrillem Polyester zur Schau
tragen?

Ich wuerde mir es wuenschen.