Die Vokabel der moralischen Integrität ist nach meiner Kenntnis niemals mit dem Deutschland der Nachkriegszeit in Verbindung gebracht werden. Doch denke ich, dass der Begriff dort seinen Platz hat, vielleicht gar der Ursprung seiner massenhaften Verbreitung ist.
Die ‚moralische Integrität’ ist ein säkularer Begriff. Denn sonst würde das Adjektiv wohl anders lauten, i.e. mit Bezug auf irgendeine spezifische Religion, z.B. christliche Integrität.
Erstaunt war ich, als ich die Kandidatin für den CIA-Posten in der Anhörung am 10.05.2018 äußern hörte, sie habe einen guten moralischen Kompass. Schließlich war bekannt, dass sie in der Vergangenheit für Folter verantwortlich war.
Wenn ich mir nun vorstelle, welche Moral diese Integrität verpflichtet ist, fällt mir das schwer: zu unterschiedlich sind in unserer Gesellschaft die Moralsysteme der vielen kleinen und größeren Gruppen. Wie kann man den allem entsprechen? Oder gibt es eine höhere Moral, die alle anderen einschließt und integriert? Und hätte die einen Kanon, den man konkret benennen kann?
Integrität heißt für sich alleine, nicht zu quatschen, was einem ein Fremder oder Freund anvertraut hat. Es heißt, vertrauensvoll sein zu können – somit auch verlässlich. Es heißt, keinerlei politisches Kapital aus intimem Wissen zu schlagen.
Die Vokabel klingt klasse. Daher könnte ich mir überlegen, mich damit zu schmücken. Doch frage ich mich, ob in mir selbst irgendeine Integrität steckt. Vermutlich könnte ich nur sagen, dass ich in Gruppen meist die Wahrheit über den Zustand von Gruppen anspreche. Meine berufliche Gruppe ist beispielsweise reichlich genervt von genau dieser aktiven Wahrheitsfindung. Denn es bedeutet, Stellung zu beziehen.
Und sonst? Auch trage ich sicherlich in mir einen kleinen Gauner herum. Ein Beispiel: ich bin Läufer. Ist bei einem Wettkampf auf der Strecke ein 90 Grad-Winkel zu laufen, kürze ich gerne ab. Ich vermute dahinter ein komplexes Entscheiden. Es geht mir nicht um die schnellere Zeit, eher schon um die Abkürzung der Anstrengung. Auch finde ich lächerlich, diese kleinsten Korrektheiten zu bedienen. Außerdem ist anstrengend, sich mit all‘ den korrekten Läufern am Winkel der abbiegenden Straße den Laufweg zu teilen.
Vielleicht nähert man sich einem solchen Konzept, wenn man eine Person auswählt, der man moralische Integrität zuschreibt. Das ist nicht leicht. Denn schon ein Joachim Gauck würde Widerspruch erfahren: wie nur ist er mit seiner ersten Ehefrau und seinen Söhnen umgegangen? War er nicht selbst ein Wendehals? Nervt nicht dieser dauernd belehrende Ton? Wäre das mit Margot Käßmann nicht genau dasselbe Spiel? Die trinkt doch!
Natürlich könnte man auch verklärte Größen wie Buddha, Martin Luther King, Gandhi oder Mandela anführen. Doch die historische Figur verdeckt den gefeierten Menschen dann im Alltag.
Wäre der sich benehmende Lehrer oder Pfarrer einer, dem man das Konzept unterstellen könnte. Wohl lässt sich das nicht für ganze Berufsgruppen pauschalieren. Vielmehr bleibt tatsächlich offen, was moralische Integrität bedeutet.
Der Anspruch impliziert auch, in jeder Situation mit seinem Verhalten jeglicher Kritik erhaben zu sein. Es handelt sich hierbei um ein logisches Missverständnis: denn das geht nicht. Der Beurteiler jedoch verleiht dem Handelnden das Kompliment. Es liegt also im Auge des Betrachters.