Zu viel an Introspektion

Wie sehr wir doch dieser Tage darauf achten, dass wir unser Empfinden ausleben können. Es ist der Zeitgeist! Menschen, Lesern und Zuhörern wird empfohlen, ihrer inneren Stimme zu folgen. Sie sollten vor allem ihre eigene Entwicklung im Blick haben. Man solle sich bloß nicht an den Erwartungen anderer orientieren, wie es Generationen zuvor getan haben. Sie sollten den Beruf ergreifen, der ihnen Spaß macht.

Damit einher geht auch der implizite Appell, sich durchzusetzen. Der andere, der Bekannte, der Freund, das Familienmitglied werden daran gemessen, wie viel sie umsetzen. Geht das gut, ist es gut.

Ein fundamentaler Wechsel der Haltung geht damit einher. Denn zuvor galt der Satz ‚was sollen denn die Nachbarn denken?‘. Man sollte sich benehmen. Dafür musste man die vielen informellen Regeln befolgen. Eigentlich wurde man dadurch zum austauschbaren Element.

Ich kenne eine Person, die sich diesem Trend mehr als geöffnet hat: Sie lebt ihn. Es ist ihre Weltanschauung. Einige Beispiele aus ihrem Repertoire: hätte ich Kinder, würden die nicht diese Freiheiten bekommen; nach einem halben Jahr habe ich eigentlich kein Interesse mehr an neuen Bekannten; meine Busenfreunde werden mir allmählich fremd, da sie sich von unseren Gemeinsamkeiten weg bewegen.

Natürlich gibt es viele Reflektionen zur Individualisierung. Verstanden hatte ich bislang, dass dies eine eigene Gestaltung des Lebens meinte, in etwa so, dass man seine Wohnung so einrichten würde, wie man wollte. Doch geht mit dem Konzept vielmehr einher: denn es fordert von der Umwelt, bei der Gestaltung des eigenen Lebens konstruktiv und positiv mitzuwirken.

Am Beispiel der Berufsbildung, der Berufsorientierung und der Wahl des Arbeitgebers zeigt sich das exemplarisch. Es gibt dann den Wunsch, sich den Arbeitsplatz vorzustellen und die Kollegen zu konstruieren, die man erwartet. „Ich kann mir vorstellen, dass die Kollegen aus aller Herren Länder kommen, dort unterschiedliche Sprachen gesprochen werden und wir flexible Arbeitsplätze und -zeiten haben.“

Gleichzeitig erhebt man Ansprüche an die Organisation der Prozesse des Arbeitgebers, intern wie extern. So sollte der Chef auf Du und Du sein. Die Prozesse sollten Fehlerkultur erlauben und auch Personalentwicklung befördern. Man sollte in der Hierarchie schnell aufsteigen können. Auch das Produkt oder die Dienstleistung sollten nachhaltig sein, – und sich dennoch verkaufen lassen. Die Arbeit muss sinnvoll sein und die Welt voranbringen.

Ein bisschen erinnert das an Pippi Langstrumpfs Motto „ich mach‘ mir die Welt so, wie sie mir gefällt‘. Aber das Szenario lässt sich auch mit dem Mantra des Kommunismus assoziieren, jeder solle nach seinen Bedürfnissen und Talenten leben können.

Neben diesen objektiven Wünschen existiert die subjektive Haltung, die anderen mögen doch dem entsprechen, was das Innere benötigt. Es ist richtig und wichtig, diesem Anspruch zu folgen. Es ist ebenso und mit der derselben Bedeutung wichtig, die Mitmenschen so zu behandeln.

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