Wieso eine Depression so schlimm sein soll, verstehe ich noch immer nicht. Denn sie ist doch wie jede andere Erkrankung.
Es gibt wohl eine Weggabelung zur Beurteilung: eine Schwäche damit zu verbinden, heißt, sich nicht selbst aus dem Schlamassel ziehen zu können. Dann ist sie schlecht. Es ließe sich aber auch eine typische Form des erzwungenen Mitleids erwirken, indem man sich als Kranker darstellt. Diese Zuwendung ist eigentlich gut.
An sich aber geht man aus einer Depression gestärkt hervor: denn man gewinnt an Reife. Krisen-Erfahrungen führen nach dem Überstehen dazu, die Kleinigkeiten des Alltags besser tolerieren zu können. Der Bewertungsmaßstab hat sich verschoben. Das setzt aber auch voraus, dass die Krise abgeschlossen ist, zumindest beherrscht wird. Es stellt sich ein Moment der Einsicht ein, stark zu sein: immerhin hat man ja die Krise überwunden!
Der Mensch ist auch seinen aktuellen Launen ohnmächtig ausgesetzt: so kann er schlecht drauf sein, müde, einen Kater haben oder anderes. Auch Schwindel kann man zugeben. Selbst in vornehmen Kreisen ist es nicht anrüchig gewesen, sich blümerant zu fühlen.
Und auch in der Literatur war ein Zustand größerer Sensibilität und Feinfühligkeit die melancholische Stimmung, die vermutlich zumindest eine depressive Verstimmung war.
Wieso dann also diese Tabuisierung der Depression? Vor allem zeigen die Zahlen doch, dass sie so etwas wie eine Volkskrankheit ist. Wollen wir demnächst auch Rückenleiden verschweigen?
Zudem leben wir in einer Zeit exponentieller Enttabuisierung. Homosexualität ist normal geworden. Diskriminierte und belächelte Minderheiten erhalten einen besonderen Schutz.
Es gibt rational keine Begründung mehr, nicht an einer Depression leiden zu dürfen. Nur das deutsch-preußische Ethos der persönlichen Stärke hält uns davon an. Wollen wir das?