Vom Werten und nicht-Werten

In meiner eigenen Familie gab und gibt es zwei Fraktionen: die Werter werten rasch und berufen sich auf ihr Gespür. Meine Mutter habe ich noch mit einer Aufforderung im Kopf, dass ich mir schon eine Meinung bilden solle.

Mein Vater ist Kopf der Nicht-Werter. Als Phänotyp würde man vielleicht Zögerer und Zauderer meinen. Doch ist er tatsächlich jemand, der Menschen zwar an-wertet, aber dann keine weiteren Kategorisierungen unternimmt.

Meine Mutter verband starke Emotionen mit Personen und Sachverhalten. Einzelne Prominente konnte sie im TV nicht ertragen, wie Spitzensportler oder Politiker. Dann verließ sie den Raum oder wechselte das Programm. Bei Scheidungen war sie allergisch, unterstellte stets dem Mann, er habe sich eine Geliebte zur neuen Frau genommen.

Mein Vater hingegen kann sich über Personen, die er ablehnte, amüsieren, indem er die Unfertigkeit des Menschen entlarvte. Sein Schmunzeln ließ ihn jedoch weiter zuhören, wenn die Person etwas äußerte.

Ich selbst wollte meiner Mutter den Gefallen tun, zu allem eine Ansicht einnehmen zu können. Jedoch traf ich auf Probleme. So irritierte mich zunächst meiner Mutters heftige Ablehnung von einzelnen Prominenten; dann nervte mich zunehmend jedoch die stets gleiche Beurteilung mit den immer gleichen Worten.

Auch schien mir der Satz meiner Mutter ein Paradigma: „Ich weiß sofort eine Person einzuschätzen, wenn ich ihr erstmals begegne.“ Ich versuchte das und wurde durch meine eigenen Annahmen später ent-täuscht, da sie sich als falsch heraustellten.

Schließlich muss ich eingestehen, dass Menschen sich ändern. Was hilft dann schon eine erstmalige kategorische Beurteilung? Als ich auf dem 20igsten Klassentreffen anwesend war, redete ich mit drei Personen, die anregend und freundlich waren. In der Schulzeit hatten Sie keinen Wert für mich.

Also laufe ich nun in das Lager der nicht-Werter über – wegen meines Scheiterns, stets gut und angemessen werten zu können.

 

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