Napoleon

Auf einer Reise in den 1980er Jahren machte ich mich schuldig, auch wenn mir das damals unbewusst war und erst später klar wurde.

Mit Studienkollegen bereisten wir Polen. Aus irgendeiner Quelle hatten wir von der Möglichkeit einer Übernachtung gehört, die sich in einem alten Pfarrhaus bei einem alten Mann bot. Dort klopften wir schließlich an und wurden äußerst freundlich aufgenommen.

Unser Gastgeber lebte dort alleine. Er betreute wohl weiter seine Gemeinde, auch wenn er wohl mehr von seiner Gemeinde gestützt und versorgt wurde. Er war schon recht zerbrechlich, aber angetan und fast aufgekratzt von unserem Besuch. Er wollte unbedingt ein guter Gastgeber sein und offerierte uns so, was sein Haushalt hergab. Für ihn war das sicherlich körperlich anstrengend.

Wir ergriffen die Chance und stürzten uns die Unterhaltung mit ihm, da er von dem Leid der zurückgebliebenen Deutschen nach der Vertreibung und Flucht erzählte sowie von der politischen Eiszeit der 1970er Jahre, als Polen wie ein Klotz im sozialistischen Ostblock feststeckte. Noch spannender jedoch war seine Erzählung von Napoleons Russlandfeldzug, der dem Haus eine besondere Bedeutung gab. Denn Napoleon selbst soll in den Gemäuern geschlafen haben.

Schließlich gingen wir ermattet wie geistig satt und angereichert schlafen, was nötig war, da die räumlichen Gegebenheiten nicht geradezu einluden.

Nächsten Tag zogen wir weiter, ohne den alten Mann verabschieden zu können. Wir wollten auch nicht nach ihm sehen, um wohl auch den faszinierenden Abend nicht mit Ernüchterung teilen zu müssen.

Erst zwei Wochen später erfuhren wir, dass der Mann verstorben war. Mich gruselte vor der Vorstellung, durch unser Gespräch den freundlichen alten Mann überfordert zu haben. In den Sinn kam mir aber nicht, dass er vielleicht auch während der Nacht verstorben war und so sich nicht mehr am Morgen hatte zeigen können.

Erstaunlich ist, dass mir erst nun beim Schreiben in den Kopf kommt, dass ich mit einem Menschen seinen letzten Lebens’abend’ geteilt habe. Vielleicht konnten wir zwei ihm ja gar etwas geben, das er sonst nicht erfuhr. Vielleicht haben wir seine Stimmung gehoben und etwas Freude in ihm ausgelöst. Das hätte er dann ja auch während seines Ablebens vor Augen haben können.

Ich weiß es schlicht nicht, egal wie ich mich zu erinnern versuche. Dennoch ist ein schöner Abend auf einmal mit einer Bedeutung aufgeladen, die mir unheimlich wird. Denn man spürt dann, dass man ihn hätte seiner Bedeutung gemäß auch hätte würdigen müssen. Doch das ist wiederum unsinnig, da man über die Bedeutung des Augenblicks für den Verlauf eines Lebens selten weiß und wissen kann – wies sollte man das für die Zukunft vorhersagen können? Es gibt Menschen, die glauben, das zu spüren. Ich habe jedoch ein wenig Argwohn, ob dies nicht eine Konstruktion ist, die man im Lichte des Verlaufs der weiteren Ereignisse dann vornimmt.

Nur eines beruhigt mich, dass ich bei der Erinnerung an diesen Abend erst an den freundlichen Mann denke – und dann erst, mit dem Geist Napoleons die Stube geteilt zu haben.

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