Michelsen

In meinem Haus wohnte einst ein Ruheständler, der irgendwie recht jung geblieben aussah. Man begegnete ihm meist auf dem Innenhof. Er grüßte leise, ja geradezu zaghaft. Ich hatte immer das Gefühl, das er bloß nicht auffallen wollte. Dieser Mann war vielleicht 60 Jahre alt. Ich habe ihn in den zwei Jahren, als ich ihn wahrnahm, niemals mit einem anderen Menschen sprechen sehen. Er ging leicht nach vorne über gebeugt, vielleicht auch weil er oft Jutetaschen über den Schultern hingen hatte. Er hatte rotblondes Haar, das sich recht zerzaust auf seinem Kopf formierte. Seine Augen waren blau, dieses blau, von dem man denkt, aus ihm würden Ehrlichkeit und Traurigkeit sprechen. Ich dachte nur ein paar Mal bewusst an ihn. Das war 2 x an Silvester, als wir von der Straße zurückkehrten und die Ballerei hinter uns ließen. Dann schaute er aus dem Fenster seiner Wohnung in den Innenhof, wo es für ihn eigentlich nichts zu sehen gab, da es dunkel war und man nicht in die Weite schauen konnte. Dann hoben wir kurz die Gläser und prosteten ihm zu.

Herr Michelsen, so sein Name, ist tot. Nachbarn informierten mich bei einer Versammlung mit Pflicht erfülltem und leicht angewidertem Gesicht: „das war der Alkoholiker aus dem ersten Stock.“ Trotz des Programms während der Versammlung dachte ich damals bei mir ‚oh Gott, nun ist er vermutlich einfach ganz alleine in seiner Wohnung gestorben’. Sein Schicksal verband ich mit der Vorstellung einer totalen und absoluten Einsamkeit, hatte ich ihn doch nur als Einzelgänger wahrgenommen.

Wer nur gedenkt seiner? Es ist dieses finale Verschwinden, was im Tode entscheidet, wie schrecklich er sein kann. Alle Trauergedichte, die ich kenne, sprechen von einem Weiterleben in den Gedanken und Erinnerungen von Angehörigen und Mitmenschen. Was aber passiert, wenn man nicht nur einsam gestorben ist, sondern auch vereinsamt war?

Was eigentlich hat ein Mensch zu tun, wenn er keine Arbeit mehr hat, wenn vermeintlich alle Pflichten seines Lebens verschwunden sind? Dann ist das schon wie der Tod, der diesen Menschen allmählich fester umarmt. Die Sicht und die Aussicht auf das Nichts sind keine Entbehrung, sondern eine radikale Entmenschlichung.

Jeder von uns hat so einen Herrn Michelsen in seiner Nachbarschaft wohnen. Mindestens sollte man ihn an Silvester oder einem anderen Feiertag zu einem Bier oder Kaffee bitten. Das habe ich mir fest vorgenommen!

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