Ein Voyeur politischer Dramatik zu werden – oh je. Das will niemand, der sich als anteilnehmend und solidarisch versteht. Und doch: es passiert. Blicke ich zurück, so sehe ich mich selbst auf Reisen in einem seltsamen Drama. So fuhr ich in diesem Jahr durch Belfast und ließ mich von den sog. Friedenszäunen faszinieren. ‚Thrill‘ wäre wohl das richtige Wort. Auch habe ich dies in südafrikanischen Kapstadt bei dem Besuch des Erinnerungszentrums für die Apartheid erlebt.
Als Deutscher ist man dieser Erinnerungskultur über: denn zu lange wurden die Gräuel der eigenen Vorfahren, ob Eltern oder Großeltern-Generationen, gezeigt. Der Deutsche der Nachkriegszeit ist durch diese ‚Schule‘ gegangen. Das Seltsame jedoch: im Gegensatz zu gleichaltrigen Franzosen oder Engländern wurde man gedrängt, sich schuldig zu fühlen. Irgendwann beginnt dagegen die innere Gegenwehr, da es eine eigentümliche Situation ist, ständig gesagt zu bekommen ’seid Eurer Schuld bewusst‘ und ‚achtet auf die Anzeichen einer Wiederholdung‘.
Nur selten erreicht der Grusel das eigene Empfinden. Mir ging es als junger Erwachsener so, als ich mich von einer Besuchergruppe in den Anlagen des Ex-KZs in Auschwitz entfernte. Plötzlich stand ich inmitten eines Raumes mit Haaren der Ermordeten. Sofort fuhr mir der Schrecken in die Glieder. Ebenso ergeht es mir gelegentlich, wenn ich verschämte oder anklagende Erzählungen von Bekannten und Prominenten höre, dass ihre Grosseltern zu Würdenträgern der Nazis gehörten. Auch erschrak ich, als ich einst einen Bericht über die Folter in Osttimor las. Es ging dabei um die Folterung eines Mannes in der Zelle nächst zu der seiner Frau. Sie musste das Stöhnen, Schreien und Klagen, schließlich das Verstummen und Sterben ihres Mannes hören. Schließlich erinnere ich mich an die Schicksale derjenigen Helfer, die bei den ersten Nachkriegswahlen Bosnien-Hercergowinas den freiwilligen Wahlhelfern halfen. Ihre persönlichen Geschichten über die Grausamkeiten ließen den Zuhörer nur noch verstummend.
Vor Ort sieht man sich plötzlich dem Konflikt und seinen Spuren gegenüber. Im Fernsehen lässt sich das fast tagtäglich verfolgen, wenn man nur die Nachrichten verfolgt. Doch die Nähe ist eine andere Qualität! Denn man befindet sich an genau dem Ort des Schreckens, kann die Örtlichkeit begehen oder gar anfassen. Dann schießen Fragen und Bilder in den Kopf, die einem bedeuten, dass die einen böse sind, die anderen aber nicht. Man sieht sich gezwungen, Stellung zu beziehen. Ich frage mich stets, ob dies jedem Betrachter so geht.
Kinder beginnen schon zu weinen, wenn sie nur einen Menschen hinfallen sehen. Der Erwachsene hingegen erstarrt und versucht zu sortieren, was denn die angemessene Reaktion auf sichtbare Grausamkeit ist. Man sieht die Grausamkeit und die Folgen der körperlichen Gewalt geradezu vor sich. Man will dies aber nicht wirken lassen. Vielleicht greift man als Tourist auch deswegen dann zur Fotokamera. Vielleicht lässt sich so verstehen, dass gar Selfies in KZ-Anlagen gemacht werden.
Doch was macht man aus dem Unbehagen? Man versteckt sie rasch in der Urlaubserinnerung und den Photos, die entstanden sind. Es verhält sich wie mit einer physischen Berührung: die Sensation der Berührung verflüchtigt sich schnell.