Bei ‚loss mer singe‘ erspähte ich einen Mann, der mir ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte: er war offensichtlich ein Neuling, überrascht von den seltsamen Gesängen der jecken Karnevalisten. Er stand da unvorbereitet und ungläubig, als ob es ihn angenehm übermannen würde. Er war völlig offen für das, was da war.
Das Seltsame an Karneval ist ja das andere Benehmen jenseits der Normalität. Es gibt ja gar Paare, die sich in den jecken Tagen trennen, um ihre Partnerschaft nicht zu gefährden. Es sind Dinge geduldet, die im bürgerlichen Alltag mit der öffentlichen Ordnung in Konflikt treten. Die Karnevalisten haben dem Phänomen mit dem Begriff der fünften Jahreszeit guten Ausdruck verliehen.
Deswegen polarisiert Karneval so sehr: die einen hassen es; die anderen lieben es. Es ist ein wenig wie Yorkshire Pudding: either you hate it or you love it.
Und sich genau in diesem Zwiespalt zu bewegen und offen zu bleiben, sich nicht entscheiden zu müssen, ist heutzutage schon auffällig. Daher nahm ich diesen Mensch eher mittleren bis höheren Alters genau in den Blick. Denn erst mutmaßte ich, dass ein Mensch in seinem Erstaunen in eine Art Erstarrung gefallen wäre.
Warum mich das berührt hat? Nun, ich sehe fast nur noch Menschen, die sich sofort entscheiden und dann auf diesem Urteile verharren – indem sie erst dann Argumente pro und contra finden. Es ist dieses Verhalten, was vielleicht im Netz seine radikalste Ausprägung mit Kiels erfahren hat. Aber es kommt nicht dorther. Es war immer schon da.
Wie schön ist dann, sich dem Entweder zu entziehen oder einfach nicht zu sein. Lasst uns die Menschen vorurteilsfrei annehmen – und schauen, was sie so treiben. Lasst uns beobachten statt zu werten. Lasst uns auch länger beobachten und aushalten, Dinge nicht einzuordnen.
Es mag esoterisch klingen, da man auch eine Verbindung zur Mediation und ihrer nicht Entscheidung unterstellen könnte. Jedenfalls ist genau diese Anleihe auch furchtbar, da man in dem Zustand des Nicht-Bewertens größeren inneren Frieden spüren könnte.