Wie oft habe ich schon von der These gehört, dass die Menschen mit autoritärem Auftreten eigentlich nur unsicher seien und kein Selbstbewusstsein hätten! Die Linie der Argumentation dürfte lauten: man muss nach außen ein tough guy sein, um die eigene Unsicherheit zu überspielen.
Dieses Argument wird auch immer wieder gegen Führungskräfte angeführt: aggressives und vehementes Auftreten ist nur eine Art des Überspielens inhaltlicher Schwächen und einer mangelnden persönlichen Selbstsicherheit.
Es ist vermutlich für die Nutzer der These sehr erleichternd, die überwältigende und einschüchternde Stärke in Schwäche umzudeuten. Dadurch ließe sich – schon rein abstrakt – eine Art Gleichgewicht und Augenhöhe schaffen, um das empfundene Ungleichgewicht ausgleichen zu können. Gleichzeitig schwingt auch ein wenig Rache mit, indem man die Macht des anderen in dessen eigene Ohnmacht umdeutet.
Reframing ist ein Wort, das mit umdeuten übersetz werden könnte. Im therapeutischen Kontext ist dies ein gängiges Instrument, um sich von schädigenden Glaubenssätzen eines Menschen lösen zu können. Dann muss das Schreien des Vaters eben keine Aggression gegen das Kind gewesen sein; sondern nur die Verzweiflung über seine eigene psychische Situation.
Mich erinnert das auch an den elterlichen Rat, man solle sich die bösen anderen im Nachthemd vorstellen: dann nämlich würden sie auf einmal schwach und lächerlich erscheinen. Das nimmt Angst und stärkt Zuversicht.
Es ist fraglich, ob dieser Topos objektiv ‚richtig‘ ist. Subjektiv wirksam ist er aber allemal. Es entspricht geradezu einem anthropologischen gedanklichen Topos, der Sicht vom Gleichgewicht unter einander. Man nehme die Kritik an den Mächtigen und Vermögenden: der ‚kleine Mann‘ hat darauf immer mit Häme und Unterstellungen reagiert. Die Oberen würden sich delegitimieren, da sie ja das Geld der anderen nehmen würden, um persönlich zu profitieren. Die Mächtigen würden das Schwert benötigen, da sie sich sonst nicht durchsetzen könnten.
Im Kern sind der verbale Protest und die innere Revolte ein natürliches Aufbegehren gegen die Ungleichheit, die eben nichts anderes bedeutet als den materiellen und Statusvorteil des anderen abzulehnen sowie den Diebstahl der eigenen Freiheit und Möglichkeit, etwas aus seinem Leben zu machen.
Doch stimmt die Begründung wirklich? Ist das Verhalten des anderen wirklich schwäche? Oder einfach nur banale Macht? Bedeutet die Umdeutung nicht auch, dass man den Missstand akzeptiert statt ihn aktiv anzugehen? Ist die Schwäche nicht wirklich Schwäche? Handelt es sich dabei nicht wie bei der Funktion des Schmerzes darum, dass etwas nicht in Ordnung ist?