Das jährliche Festival der progressiven IT-Beweger in Berlin – die re publica – hatte 2019 ein Motto, das als Kampfansage an die Zeiten der analogen bildungsbürgerlichen Gesellschaft verstanden werden kann. Denn es formulierte programmatisch, dass längere Texte und Leserei aus der Zeit geraten seien.
Ich beobachte – wie wir alle – die Rückentwicklung der Konzentrationsbereitschaft und der Fähigkeit auszuhalten. Steht man in einer Schlange, ist das kaum mehr zum auszuhalten. Zwischenzeitlich werden selbst in Supermärkten kleine Fernseher aufgehängt, um dem Menschen zu ersparen, es mit sich auszuhalten. Man könnte davon reden, dass sich unsere Aufmerksamkeitsspanne als Erwachsener dem im Kindesalter nähert.
Auch andere Phänomene deuten auf eine gleichförmige Entwicklung hin:
– ein Video darf nicht länger als 1,5 Minuten sein. Sonst wenden sich die Zuschauer ab.
– auch die Länge der Lieder nimmt ab, wie der Spiegel kürzlich berichtete.
– liest man einen geschriebenen Beitrag im Netz, gibt das Magazin die mittlere Lesedauer an.
Man könnte nun den Untergang des Abendlandes ausrufen: die Menschen sind nicht mehr in der Lage, es mit sich selbst auszuhalten. Sie brauchen die stetige Abwechslung. Sonst werden sie – wie ein Süchtiger – nervös.
Wahrscheinlich gibt es so etwas wie einen Break Even Point, ab dem der Informationsgehalt nicht mehr in der Kürze des Textes wiedergegeben werden kann. Irgendwann wird der erreicht sein. Dann wird man sich zwischen Information und Abneigung des Lesens entscheiden müssen.
Ob das Lesen an sich etwas mir der Leistungsbereitschaft zu tun hat, ist damit nicht gesagt. Vielleicht geht es ja gar nicht um die Anstrengung des Lesens, sondern das Lesen an sich. Dann müsste allerdings eine Alternative zur Informationsaufnahme gefunden werden. Das kann ja noch kommen.