Selbst‘einschätzung‘

Ich begegne immer mehr Menschen, die mir ihren Stand der Überlegungen zu sich Selbst offenbaren. Sie reden vom Status ihrer Entwicklung, ihren Wünschen und den Einschätzungen ihrer selbst.

Das erlebe ich privat seltener, da ich weniger Kontakt zu jüngeren Menschen als Gleichaltrigen habe. Beruflich beobachte ich Kollegen, die ‚einfach so‘ zum Vorgesetzten gehen und sich eine Einschätzung über sich abholen. Sie wollen sich spiegeln; sie wollen wissen, wo sie stehen; sie wollen eine warme Bemerkung.

Herrlich! Das ist, was zwei Generationen zuvor die Progressiven forderten: endlich kehren die Menschen ihr Innerstes hervor und reflektieren. Sie spiegeln sich und teilen es mit; zeigen Emotionen; lassen andere an ihren Selbsteinschätzungen teilhaben; und beziehen sie somit ein. Haben wir also nun den Gipfel erreicht, da die eigene Persönlichkeitsentwicklung nach außen gekehrt wird?

Ich bin zwischenzeitlich davon reichlich genervt. Denn Gespräche drehen sich um einen der Gesprächspartner. Anders ausgedrückt: Sie monopolisieren das Thema; sie herrschen; sie machen andere abhängig.

Ein Bekannter erzählte mir einst, er sei zu einem Abendessen eingeladen worden, bei einem ihm gut bekannten Paar. Sie waren jedoch gerade in Trennung. Beide versuchten, den Gast auf ihre Seite zu ziehen. Das bedeutet, für ihre Interpretation der Trennung einen Fürsprecher zu finden.

Man könnte es auch ‚sich aufdrängen‘ nennen. Denn will man wirklich wissen, sich anhören, beraten – was einem kein eigenes Thema ist? Da hilft es kaum, wenn der andere vorab fragt, ob es ok ist, ein Gespräch zu führen. Denn der Antworter fühlt sich durch seine Werte gebunden, sich bereitzustellen.

Wahrscheinlich ist das ‚normale Mass‘ der gute Freund. Man teilt Interessen, Werte, Hobbies – sukzessive auch Erlebnisse, Vergangenheit u.a. Nur in Notlagen und Entscheidungssituationen holt man sich den Ratschlag des Freundes. Der kennt schließlich die eigenen Bedürfnisse, und kann so aus einem anderen Kopf die Situation zu verstehen versuchen – mit dem Mehrwert eines anderen.

Ein anderes Maß könnte die Großmutter oder (gütige) Onkel sein, bei denen überwiegt, aus Dankbarkeit über das Leben die eigenen Lehren weiterzugeben. Auch sind sie zu Ratschlägen und Einschätzungen willig, da sie Zeit mitbringen, gerne soziale Kontakte pflegen und auch das Gefühl bekommen, weiterhin gebraucht zu werden und von Nutzen sein können.

Nun scheint der fragende Blick des Enkels und Freundes jedoch Umstand aller Lebenslagen und jeden Alters zu werden. Ich erinnere mich noch an die Frage einer jüngeren Bekannten: „willst Du mein life Coach werden?“ Sie meinte das wohl ernst.

Wie machten das wohl Menschen in früheren Zeiten? Ich denke, dass sie schlicht zu ihren Geistlichen gingen. Und wenn die nicht da waren, dann beteten sie und baten den Herr um Rat. Und zuvor schauten die Menschen wohl einfach Tiermägen an.

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