Selbstverantwortung und Schuld

„Ich bin so wütend“, schmetterte mir kürzlich eine Frau bei einem Seminar entgegen. Ich war gerührt und gleichzeitig beeindruckt. Denn es offenbarte sich ein aristotelischer Fehlschluss, von dem ich hoffte, er sei ausgestorben.

Es ging um die Verantwortung des Helfers, der nur Gutes beabsichtigt – aber dennoch Negatives auslöst. Das könnte eine Intervention im Betrieb sein, wenn einem Kollegen Ungerechtes widerfährt und man damit anderen eine Schuld zuweisen muss. Das könnte die Beratung eines Freundes sein, wenn man sein Leid sieht und ihm helfen will – und übersieht, dass er zwar ein momentanes Missgeschick löst, dafür aber kein ehrliches Feedback bekommen hat. Und es könnte das Handeln in einem Notfall sein, wenn man schlicht das Falsche tut.

Die Erwartung der wütenden Frau war, dass man von den negativen Folgen ent-schuldigt würde, da man doch nur helfen wolle. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass Schäden dann anders gewertet und sanktioniert werden müssten, wenn man fern bösen Willens eine negative Folgewirkung ausgelöst und verursacht hat. Die Frau erwartete Absolution.

Selbst wenn das eigene Handeln eher einem Unfall gleicht, so ist doch die eigene Existenz das entscheidende Zutun für eine negative Wirkung. Man kann sich davon nicht befreien. Es gehört zur Verantwortung, auch die misslichen Folgen eigenen Handelns anzunehmen und auszuhalten.

In Erste Hilfe-Kursen ist diese Haltung Standard. Dort wird den Freiwilligen versichert, ihr Handeln sei straffrei, ihr Nicht-Handeln aber eine illegale Unterlassung. Das ist für jeden bequem: Engagement gegen absolute Straffreiheit.

Ein Arzt hat diese Chance nicht: er muss dafür gerade stehen, wofür er sich als Behandlung entscheidet. Daran ist er rechtlich gebunden; aber auch sein Gewissen muss damit klarkommen. In allen anderen Professionen gibt es einen Feldzug für die Fehlerkultur: in der Medizin aber ist das nicht erlaubt; hier darf sich der Arzt keinen Fehler erlauben. Begeht er einen Fehler, so trägt er – nach Meinung der Gesellschaft – Schuld.

Schuld und seine Verarbeitung / Verdrängung waren einst große Themen der Literatur und somit Kinder ihrer Zeit. Man denke nur an Jane Austin oder Dostojewski. Ich habe den Eindruck, dass dies kaum mehr der Fall ist. Öffentlich zur Schau getragene, ja demonstrierte Stimmungen, sind Enttäuschung und Wut. Vielleicht tun wir uns deswegen so schwer damit.

Ich selbst habe Schuld und Sühne durch meine Eltern, aber auch den Fußball gelernt. Beim Fußball war es einfach: wer gegen die Regel verstößt, muss sich verdienen, indem er regelkonform weiterspielt; sonst fliegt er raus.

Vorstellen könnte ich mir, dass das Bewusstsein von Schuld und somit die Kompetenz zur Verarbeitung von Schuld weniger stark ausgebreitet sind. Denn zu sehr übernehmen andere, vor allem Technologie und öffentlichen Systeme die Verantwortung für unser eigenes Tun. Das bedeutet, dass man selbst immer weniger Gelegenheit hat, Fehler zu machen. Ein Schutzschild spannt sich vor menschlichen Fehlern auf.

Zudem könnte sein, dass Eltern jetziger Kinder und Jugendlicher die Ausbildung von Selbstverantwortung konsistent eindämmen – wenn auch wohl nicht beabsichtigt. Bildlich zeigt sich das schon damit, die Kinder zur Schule zu bringen. Doch im Kern handelt es sich um das Aufspannen eines Sicherheitsnetzes für alle Lebensbereiche.

Das auf sich Nehmen von Schuld will gelernt sein: zunächst muss man akzeptieren, dass man im Leben nicht umhinkommt, einer Situation dieser Art zu begegnen. Dann muss man Schuld auch annehmen. Schließlich heißt es, sie zu verarbeiten.

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