Geschichten-Erzähler sind verdächtig. Denn sie bürden uns die Entscheidung auf, ob wir uns gerne in den Geschichten wohlfühlen oder sie hinterfragen.
Geschichten haben im Kindesalter eine bedeutende Rolle. Sie bereiten uns auf die Welt vor. Sie erzählen mit einem emotionalen Spannungsbogen, welche Regeln herrschen. Sie schärfen die Sinne für gut und böse.
In der Vergangenheit gab es ein großes Heer von unterschiedlichen Geschichtenerzählern, die wichtig für die Verbreitung von Informationen waren, wie beispielsweise die Bänkelsänger. Nachrichten verbreiteten sich mit den Handeltreibenden oder dem fahrenden Volk – eben allen, die mobil waren.
Es gibt viele Geschichtenerzähler,
wie Reiseleiter
wie Geistliche
wie Künstler
wie Journalisten.
Zwischenzeitlich gibt es angepasst Formate, selbst für die trockenen Themen, wie Wissenschafts-Comics oder Science Labs.
Einige Beispiele, wie ich sie kürzlich erlebte:
– Homosexualität bei Herrschern ist absichtlich, um die Bevölkerung vor vermehrtem Wachstum zu bewahren.
– ‚ein Geschäft machen’ kommt aus dem Gespräch von römischen Besuchern einer Latrine. Die trafen dort wirtschaftliche Vereinbarungen.
– Geld stinkt nicht = non olet: Sklaven holten die Münzen aus den Abwasserkanälen, die als Gebühr dienten. Kaiser Vespasian wollte seinem Sohn beweisen, dass Geld nicht stinkt.
– ‚halt die Klappe’ kommt von Klappstühlen, die die orthodoxen Geistlichen während der langen Gottesdienste am Stehen hielten.
Geschichten sind per definitionem geschlossene Erzählungen mit Anfang und Ende. Sie beinhalten eine Wahrheit, die der Autor einem größeren Publikum bekannt machen will. Gleichzeitig setzt aber auch der einzelne Geschichtenerzähler darauf, die Aufmerksamkeit als der Erstverbreiter zu erlangen. Es ist wie der Marathon-Läufer, der die Geschichte vom Sieg über die Perser berichtet; aber auch wie der moderne Journalismus, der mit einer Geschichte zuerst aufmacht.
Zwischenzeitlich werden Psychologen und Kognitionsforscher jedoch auch der Gefahr gewahr, die mit einer Erinnerung verbunden ist: denn sie wird immer wieder neu konstruiert. Den Effekt sehen wir, wenn wir stille Post spielen: das Anfang der Kette korrespondiert fast nie mit ihrem Ende. Auch eine einzelne Person kann dieser Gefahr unterliegen, weil sie immer wieder die Lücken schließen muss, die die Vergesslichkeit reißt. Und so verfälschen sich die Geschichten über die Zeit wie von selbst.
Die Geschichte an sich korrespondiert mit der Erwartung des aktuell zuhörenden Publikums mehr als mit den faktischen Ereignissen von damals. Es ist ja auch die Interpretation, die an sich den Wert für die Zuhörer ausmacht. So ist es auch mit der Geschichtswissenschaft, die eher eine Geschichtsschreibung ist.
Aber: in jeder Geschichte steckt ein Körnchen Wahrheit, wie der Volksmund sagen würde. Also lassen sich auch nicht vollständige Unwahrheiten seriös verkaufen – oder eben erfinden.
Und so gibt es einen riesigen Graubereich zwischen der Übertragung von Informationen und der Unterhaltung mit Geschichten. Man benötigt als Zuhörer eine gewisse Mündigkeit, um damit umgehen zu können. Geschichten sind nicht nur Lüge, und Wahrheit ist immer auch bisschen Interpretation.