Skala des guten Gefühls

Kennen Sie die Nachfrage des Arztes, wo es wehtut? Das begleitet uns ein ganz Leben lang.

Ich persönlich unterscheide zwischen Sensationen, Beschwerden über Schmerzen. Bei Schmerzen gibt es dann noch Skalen, die die Ärzte ins Spiel bringen: wie würden Sie ihre Schmerzen auf eine Skala von 1 bis 10 einordnen?

Und wenn wir dann ein gewisses Alter erreichen, dann können wir uns trefflich über unsere Maläsen austauschen: „also mein Arzt hat mir gesagt, dass meine Werte weiter so und so sind.“ Und es beginnt ein wahrer Wettlauf um den größten Opferstatus: bis hin zur Nacherzählung, man sei knapp dem Tode von der Schippe gesprungen.

Es stellt sich die Frage, ob es diese Art von Klimax auch auf der Seite des Guten gibt. Unterhalten wir uns im Café einfach einmal so darüber, wie gut es uns geht? Also gestern führte ich mich einmal wieder pudelwohl; und vorhin hatte ich den Eindruck, dass es mir nie besser ging.

Die Schweden haben diese eigentümliche Eigenheit, bei Beginn eines Satzes zu seufzen. Dann hat man als Zuhörer stets den Eindruck, dass es dem Gegenüber nicht gut geht oder ihn etwas bedrückt. Vielmehr erklären die Schweden ihren Tick damit, dass sie nicht zugeben wollen, dass es ihnen gut geht; sie wollen künftiges Leid damit kompensieren.

Wenn Menschen auf Nachfrage von ihrem Wohlbefinden künden, dann bekommt man oft den Eindruck, sie würden etwas verbergen wollen. Mir fällt dann immer Hugh Grant ein, der mit ‚excellent‘ etwa Unangenehmes übergehen will.

Aber ernsthaft: haben sie, lieber Leser, so etwas wie eine Skala des guten Gefühls? Mir fehlt es heute an nichts; Mir geht es heute richtig gut; Bis hin zu: ich fühle mich heute glücklich. Mir geht es ebenso. Doch will ich daran arbeiten. Denn ich könnte dann selbst besser einschätzen, wann ich mit wohl fühle. Ich könnte die Zustände vergleichen. Und ich könnte dem auf die Spur kommen, was mich glücklich macht. Das wäre doch etwas;-)

Stärke als Schwäche

Wie oft habe ich schon von der These gehört, dass die Menschen mit autoritärem Auftreten eigentlich nur unsicher seien und kein Selbstbewusstsein hätten! Die Linie der Argumentation dürfte lauten: man muss nach außen ein tough guy sein, um die eigene Unsicherheit zu überspielen.

Dieses Argument wird auch immer wieder gegen Führungskräfte angeführt: aggressives und vehementes Auftreten ist nur eine Art des Überspielens inhaltlicher Schwächen und einer mangelnden persönlichen Selbstsicherheit.

Es ist vermutlich für die Nutzer der These sehr erleichternd, die überwältigende und einschüchternde Stärke in Schwäche umzudeuten. Dadurch ließe sich – schon rein abstrakt – eine Art Gleichgewicht und Augenhöhe schaffen, um das empfundene Ungleichgewicht ausgleichen zu können. Gleichzeitig schwingt auch ein wenig Rache mit, indem man die Macht des anderen in dessen eigene Ohnmacht umdeutet.

Reframing ist ein Wort, das mit umdeuten übersetz werden könnte. Im therapeutischen Kontext ist dies ein gängiges Instrument, um sich von schädigenden Glaubenssätzen eines Menschen lösen zu können. Dann muss das Schreien des Vaters eben keine Aggression gegen das Kind gewesen sein; sondern nur die Verzweiflung über seine eigene psychische Situation.

Mich erinnert das auch an den elterlichen Rat, man solle sich die bösen anderen im Nachthemd vorstellen: dann nämlich würden sie auf einmal schwach und lächerlich erscheinen. Das nimmt Angst und stärkt Zuversicht.

Es ist fraglich, ob dieser Topos objektiv ‚richtig‘ ist. Subjektiv wirksam ist er aber allemal. Es entspricht geradezu einem anthropologischen gedanklichen Topos, der Sicht vom Gleichgewicht unter einander. Man nehme die Kritik an den Mächtigen und Vermögenden: der ‚kleine Mann‘ hat darauf immer mit Häme und Unterstellungen reagiert. Die Oberen würden sich delegitimieren, da sie ja das Geld der anderen nehmen würden, um persönlich zu profitieren. Die Mächtigen würden das Schwert benötigen, da sie sich sonst nicht durchsetzen könnten.

Im Kern sind der verbale Protest und die innere Revolte ein natürliches Aufbegehren gegen die Ungleichheit, die eben nichts anderes bedeutet als den materiellen und Statusvorteil des anderen abzulehnen sowie den Diebstahl der eigenen Freiheit und Möglichkeit, etwas aus seinem Leben zu machen.

Doch stimmt die Begründung wirklich? Ist das Verhalten des anderen wirklich schwäche? Oder einfach nur banale Macht? Bedeutet die Umdeutung nicht auch, dass man den Missstand akzeptiert statt ihn aktiv anzugehen? Ist die Schwäche nicht wirklich Schwäche? Handelt es sich dabei nicht wie bei der Funktion des Schmerzes darum, dass etwas nicht in Ordnung ist?

Unbedingte Menschenfreundlichkeit

Bei ‚loss mer singe‘ erspähte ich einen Mann, der mir ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte: er war offensichtlich ein Neuling, überrascht von den seltsamen Gesängen der jecken Karnevalisten. Er stand da unvorbereitet und ungläubig, als ob es ihn angenehm übermannen würde. Er war völlig offen für das, was da war.

Das Seltsame an Karneval ist ja das andere Benehmen jenseits der Normalität. Es gibt ja gar Paare, die sich in den jecken Tagen trennen, um ihre Partnerschaft nicht zu gefährden. Es sind Dinge geduldet, die im bürgerlichen Alltag mit der öffentlichen Ordnung in Konflikt treten. Die Karnevalisten haben dem Phänomen mit dem Begriff der fünften Jahreszeit guten Ausdruck verliehen.

Deswegen polarisiert Karneval so sehr: die einen hassen es; die anderen lieben es. Es ist ein wenig wie Yorkshire Pudding: either you hate it or you love it.

Und sich genau in diesem Zwiespalt zu bewegen und offen zu bleiben, sich nicht entscheiden zu müssen, ist heutzutage schon auffällig. Daher nahm ich diesen Mensch eher mittleren bis höheren Alters genau in den Blick. Denn erst mutmaßte ich, dass ein Mensch in seinem Erstaunen in eine Art Erstarrung gefallen wäre.

Warum mich das berührt hat? Nun, ich sehe fast nur noch Menschen, die sich sofort entscheiden und dann auf diesem Urteile verharren – indem sie erst dann Argumente pro und contra finden. Es ist dieses Verhalten, was vielleicht im Netz seine radikalste Ausprägung mit Kiels erfahren hat. Aber es kommt nicht dorther. Es war immer schon da.

Wie schön ist dann, sich dem Entweder zu entziehen oder einfach nicht zu sein. Lasst uns die Menschen vorurteilsfrei annehmen – und schauen, was sie so treiben. Lasst uns beobachten statt zu werten. Lasst uns auch länger beobachten und aushalten, Dinge nicht einzuordnen.

Es mag esoterisch klingen, da man auch eine Verbindung zur Mediation und ihrer nicht Entscheidung unterstellen könnte. Jedenfalls ist genau diese Anleihe auch furchtbar, da man in dem Zustand des Nicht-Bewertens größeren inneren Frieden spüren könnte.

Von guten und schlechten Verschwörungstheorien

Matrix und Illuminati haben uns fasziniert. Es ist die Rede von dunklen Parallelwelten, die Dinge beeinflussen, die wir uns sonst nicht erklären können.

Man denke an Blow up, diesen herrlichen Film aus den 1970er Jahren. Dort war ein Journalist auf der Spur nach einem Mord, der jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Überhaupt sind politische Thriller meist diesem Generalthema gewidmet: der Amtsmissbrauch gegen die kleinen – und vermeintlich ehrlichen – Leute.

Ist nicht die Gründungsthese der Linken an sich schon eine Verschwörungstheorie? Man denke an den international kooperierenden Kapitalismus, den Marx und seine Mitstreiter als eine Bewegung begriffen, die Welt unterzuordnen. Tatsächlich fallen einem auch die Parallelen zur These des internationalen Judentums ein, das sich gegen den Rest der Menschheit verschwört.

Nun kommen die ‚Rechten‘ mit ihren immer neuen Thesen und Geschichten. Ist das dann wirklich rechts? Oder einfach nur doof?

Ist es nicht eher ein psychologisches Phänomen? Reifen solche Ansichten nicht vor allem unter denjenigen, die sonst keinen Überblick, zu wenig Weltwissen haben? Ist es richtig – und fair, diese Menschen in eine rechte politische Ecke zu stellen? Muss man sie vielleicht eher therapieren?

Die neuesten Verschwörungsthesen sind anders als in der Vergangenheit. Am Anfang steht natürlich immer die Verschwörung, mit der die Unterjochung einhergeht. Aber zwischenzeitlich verlieren die Gebäude nun vollends den Anspruch, Theorien sein zu dürfen. Es sind unzusammenhängende illogische Bausteinkästen. So ist beispielsweise QAnon so etwas wie der derzeitige Champion unter den neuesten Theorien – wohl auch, weil er am meisten Aufmerksamkeit in den Medien gewinnt. Er wabert ziellos durch die Weiten des Internets. Klar ist nur, dass dort etwas Ungeheuerliches passiert, was niemand sehen will.

Die Gemeinschaft der Gläubigen bastelt sich so ein Weltbild zurecht, wie es die Nationalismen in den 19. Jahrhundert taten. Nur eben weit irrationaler. Einem story telling und Strukturen von Geschichten werden die Phantasien kaum mehr gerecht. Daher lässt sich sagen, dass sie in eine Phase des Wahns vorstoßen, bei dem das Produkt der Irrungen keinen Sinn mehr gibt, sich eben nicht mehr an Geschichten anlehnt. Ein happy end haben sie alle nicht, auch kaum Helden, sondern nur Misstände und böse Mächte.

Insoweit produzieren die neuesten Theorien immer weniger Schuldige und Gegenspieler. Die Anhänger gehen völlig in dem Prozess auf, sich der Bewegung zugehörig zu fühlen und ein aktiver Teil ihrer zu sein. Es geht nicht um das Erreichen von Zielen, schon gar nicht mehr um konkrete politische Zielsetzungen, wie der Sturz einer Regierung, als vielmehr um den Rückzug in die Glaubens- und Phantasiegemeinschaft. Verschwörungsbewegungen haben sich neutralisiert – sie entziehen sich einfach nur noch der Wahrheit.

Empörung

Empörung, so las ich, kam in den 1980er auf die Welt. Dann müsste sie eigentlich schon erwachsen sein – ja! Doch Empörung scheint den Menschen zu Kopf zu steigen: es gibt so gut wie nichts mehr, worüber man sich nicht empören könnte.

Früher noch war man misslaunig, dann hat man sich aufgeregt. Heute aber ist man empört. Oder aber: in den 1980er gehörte Coolness zum Zeitgeist, heute ist es die Empörung.

Eigentlich will es jedoch niemand sein, von außen empört zu werden. Man möchte sich schon selbst dafür entscheiden dürfen. Das zeigen diese belustigenden Sprüche, die heutzutage auf vielen Bechern und sonstigen Utensilien sollen stehen: „Bevor ich mich nun empöre, ist es mir schon egal.“ Oder: „eigentlich müsste ich mich gerne empören; aber worüber eigentlich?“

Und man muss Empörung auch demonstrieren, gar inszenieren: alle müssen es mitbekommen. Ich kann mich erinnern, wie in meiner Jugend die Zuschauer wild gestikulierend und schimpfend den Zuschauerraum des Theaters verließen, um gesehen zu werden. Dieses öffentliche Statement machte Eindruck, gehörte zu diesem exklusiven Milieu. Heute jedoch muss jeder und überall die Möglichkeit haben.

Empörung ist einigen Zielgruppen besonders nah, wie den Eltern. Natürlich haben die aufgrund ihres biologischen Alters auch noch wesentlich mehr an Energie, ihrer Empörung Lautstärke und sonstige Verve zu verleihen. Leidtragende sind die Eltern der anderen Kinder und das Schulpersonal.

Empörung richtet sich meist gegen die Politiker; jedenfalls immer gegen andere. Es ist ein wenig der Besserwisser und moralisch überhöhte Klugscheißer, der sich in der Empörung ganz zu Hause fühlt. Aber auch der bigotte Kleinbürger tendiert genau dazu.

Übrigens ist kein Vorgang oder Detail zu klein, Anlass einer Empörung zu werden. Es könnte der Pflasterstein sein, der herausragt: „das ist doch eine Schweinerei!“

Was heißt das eigentlich auf Englisch und Französisch? Immerhin hat der US-amerikanische Schriftsteller Philip Roth 2008 ein Buch dazu vorgelegt. Im Original heißt es indignation. Und die französische Übersetzung ist dieselbe. Das zeigt, dass es einen lateinischen Archetypus gibt. Auf der Seite des Digitalen Wörterbuches der deutschen Sprache zeigt sich, dass dieses Wort lange schon in Gebrauch ist, und meist moralisches Naserümpfen ausmachte: https://www.dwds.de/wb/Indignation.

Seltsam: denn Empörung ist dann doch wie ein lebendig gewordener Pranger, an dem das Schlechtverhalten angezeigt wird. Hat denn das in einer Welt in Liberalität, der Überzeugung größtmöglicher Vielfalt und einem essentiell demokratischen Bürgersinn noch einen Platz?

Wer nie geben kann, verliert auch die Fähigkeit zu nehmen

Es gibt Menschen, die nur fordern – und sonst nichts. Sie haben ein ganz eigenes Gefühl für einen Anspruch. Sie gehen davon aus, dass die Umwelt sie bestrafen will. Sie vermuten gar einen höheren Willen, eine Art von konspirativem Geist gegen sie.

Das las ich kürzlich in einem Beitrag über eine Frau, die über 15 Jahre die Rentenbezüge von einem Mann in Anspruch nahm, den sie selbst getötet hatte. Sie wütete nach der Verurteilung, dass ihr das Geld sehr wohl zugestanden hätte.

Vielfach habe ich das auch wahrgenommen, als 2015 die Flüchtlingswelle Deutschland überrollte: es hieß dann, dass Kanzler Kohl ihnen doch etwas versprochen habe – was ihnen andere jetzt wegnehmen wollten.

Doch habe ich das auch im privaten Umfeld mitbekommen, i.e. Mitmenschen, die von ihrem Umfeld etwas, aber auch ihren Lebenserfolg einfordern – und darüber ent-täuschen. Die müssen mir doch helfen.

Gerade bei objektiv Gescheiterten sieht man diese emotionale Muster – frei nach der Logik: „wenn ich scheitere, kann das ja nicht nur an mir liegen; da müssen schon andere mitgespielt haben.“ Und so zeigt sich in sozial prekären Situationen, dass man anderen nicht gönnt, was man selbst für sich beansprucht. Doch ist das wohl nur bei den Gefallenen und Enttäuschten so: denn die traditionell Armen und Vernachlässigten müssen mit ihrer Armut nicht hadern, sie nehmen sie einfach hin. Und dann können sie auch geben, und Gastfreundschaft zeigen. Überhaupt auch frei ihr Haus anbieten – ohne in das Verlangen zu geraten, etwas im Gegenzug fordern zu müssen.

Das ewige Opfer zu sein, ist vermutlich so schwer, ebenso wie eine antisoziale und schwere Straftat begangen zu haben. Zäune und Mauern lassen uns keinen Weg mehr in die Normalität finden, also einen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft. Eine Resozialisierung ist so schwierig wie eine Entgiftung für einen Süchtigen – schließlich ist das Mantra, der zentrale Topos der Erklärung für den jetzigen Zustand des Lebens ein Anker für Weltsicht und Selbstwirksamkeitsgefühl.

Und plötzlich entsteht so eine Art Stolz, die hinter jeder milden Gabe auch eine Bettelei wähnt: ich werde erniedrigt, wenn ich nehme.  Ich will doch keine Almosen!

Das habe ich nie verstanden: denn man mag doch eigentlich Geschenke. Man fühlt sich wie ein Held, wenn man ein Schnäppchen gemacht hat.

Es löst sich wohl mit den Grundgedanken. Denn der Futterneid ist die Grauzone: der zu kurz Gekommene will genau das, was der andere auch hat. Es steht ihm schließlich zu. Doch will er auch nicht bevorteilt werden. Er will einen vermutlich gerechten Kampf um die Beute – wie der auch immer aussieht. Er schließt ein hohes Maß an Gefühle von Gerechtigkeit und Wettbewerb ein.

Am Ende könnte die Geste des Gebens wichtiger sein als das, was gegeben wird – es sei denn, es ist lebenswichtig: dann greift frei nach Brecht nicht mehr die Moral, sondern nur noch das Fressen.

Falsche Erinnerung

Als über 50-jähriger ist man ja immer schon ein wenig im Schattenreich der Erinnerung. Also muss man sich gelegentlich ich die Frage stellen, ob man sich eigentlich immer auf seine Erinnerung, die einem das eigene Archiv bereitstellt, verlassen kann. Ist das, was uns die schemenhafte Erinnerung von Dingen, Bezeichnungen und Szenen anbietet, wirklich so gewesen?

Mir geschah kürzlich folgendes: Ich sah einen Krimi von 2017. Und ich wähnte im Verlauf des Filmes, ihn zuvor in Teilen angeschaut zu haben. Ich kannte in meinen Erinnerungen die Charaktere (den Hauptdarsteller und die Konstellation von Figuren; die Örtlichkeit des Geschehens; die miese bis dunkle und aggressive Stimmung usw.). Durch einen der Darsteller fühlte ich mich plötzlich erinnert, dass er der Täter war. In diesem Fall hatte er einen Jungen missbraucht und unwillentlich getötet. Ich erinnerte mich allein an die Szene auf einem Parkplatz, wo sich Kleidungsstücke des vermissten Kindes wiedergefunden hatten. Der Showdown des Filmes war dort gewesen.

Und was passierte? Es war ein anderer Täter, weil es auch ein anderer Film war als den, den ich vermutete, schon gesehen zu haben!

Ich war ziemlich erschrocken. Doch erinnerte ich mich dann der Lektüre von fehlerhaften Erinnerungen, der Problematik von Zeugenaussagen und der grundsätzlichen Konstruktion von Gedächtnis. Tja, ich war herein gefallen, wie ich es gestern hatte. Und es handelte sich nicht um eine self fufilling prophecy.

Wie elend müssen sich dann Menschen fühlen, die an Demenz erkranken und denen zunächst die aktuelle Umwelt und schließlich auch die vertraute vergangene Welt entschwindet. Die nämlich trauen sich dann nicht mehr. Wie auch? Ist das überhaupt wahr, was in meinem Kopf ist? Und kann ich dann überhaupt noch anderen in meiner Gegenwart trauen?

Schlimmer dürfte noch die Ahnung sein, nicht mehr selbstbestimmt und -wirksam durch das Leben gehen zu können. Denn man verliert dann die Kontrolle und somit auch Weltvertrauen. Wehe dem, der sich über Menschen belustigt fühlt, die so erkranken.

Ich kann doch nicht jedem etwas geben

Gelegentlich einem Bedürftigen etwas zuzustecken, ist für viele Ehrensache und Pflicht. Dies adressiert vor allem das eigene Gewissen. Denn es ist wohl gleichgültig, wer eine Gabe schließlich bekommt. Hauptsache ist, man hat es gemacht und eine gute Tat begangen – der eingebildete Status des Samariters ist für den Moment gerettet.

Wenn man nun in einer U-Bahn beispielsweise länger unterwegs ist, kann es dem innerstädtisch Reisenden schon unterkommen, mehrmals aktiv angebettelt zu werden. Dann regt sich plötzlich Widerstand: das ist jetzt zu viel; vorhin habe ich doch schon meine Pflicht erfüllt; kann sich denn nicht jemand anderes darum kümmern usw. Es werden die seltsamsten Gedanken provoziert, die jedoch sehr unterschiedlicher Aussage sein können.

Was wohl würde ein Franziskaner tun müssen? Er würde das Bedürfnis des anderen zu seinem ersten Anliegen machen. Es wäre gleichgültig, wie viel da wären: jedem einzelnen gebührte die Zuwendung. Denn genau der Bedürftige ist das Benchmark, nicht das eigene Gewissen.

Dieses Drama vollzieht sich um das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Dort nämlich gibt es 12.000 bedürftige; die Beobachter nehmen es wahr, Dich wollen sie es nichtig offen und ehrlich zugeben, da sie dann zum Handeln gezwungen wären. Stattdessen muss kosmetisches Handeln herhalten, um das eigene Gesicht zu wahren: den Bedürftigen unter den Bedürftigen wird geholfen; dann wird erklärt, das mehr nicht geht.

Ich sehe das zwischenzeitlich mit größerer Klarheit – und bin dennoch inkonsequent: auch ich gebe nicht jedem Bettler (es gibt keine Synonyme dazu) eine Gabe. Aber ich habe mein Verhalten geändert: ich trage nun immer Münzen mit mir, um überhaupt geben zu können; und um keine Ausflucht zu ermöglichen, nicht zu geben. Meine Entscheidungsfindung ist Gemeinwohl immer noch an einer Kette gereiht: die besonders Bedürftigen bediene ich.

Doch er sind die? Die so aussehen, sich nicht helfen zu können? Die vollständig verwahrlost sind? Die krank und gestört erscheinen? Ich versuche, das zu durchkreuzen: so sehe ich eben auch hinter dem osteuropäischen Trinker auf der Straße einen armen Teufel (und hinter dem Diogenes an meiner Laufstrecke sehe ich eben auch einen Verlierer unserer Umstände.

Eigentlich heißt es richtig: ich kann nicht jedem etwas geben; aber will mehr als einem etwas geben.

Vermisstenanzeigen

Kürzlich war ich auf Rügen im Auto unterwegs. Es ist schön, neben der Beachtung des Verkehrs in die Landschaft zu blicken. Aber auch das wird langweilig – und so hört man Radio.

Vermutlich passieren auf Rügen nicht so viele Dinge, um Nachrichten zu füllen, die ein breites Interesse befriedigen. Daher werden die Sendezeiten für anderes genutzt, wie zu Aufrufen durch die Polizei. Also lauschte ich Vermisstenmeldungen, für die die Polizei zur Unterstützung der Bevölkerung aufruft.

Und diese Nachrichten waren dann doch mindestens rührend bis mitleidenswert: denn es handelte sich durchweg um Personen, die sich aufgrund ihrer Schwäche wohl nicht aus eigener Kraft nicht helfen konnten. Einmal war es ein Pilzsammler, dann ein Angler und ein älterer. Man hatte sofort vor Augen, dass man diesen Personen eine Hilfe geben würde.

Dieses Hören bringt einen Menschen näher, die man nicht kennt. Sie erinnern uns aber auch an ganz konkret Menschen in unserem Umkreis, denen Ähnliches passieren könnte.

Natürlich hat alles auch mit Geheimnis, mit Verbrechen und mit Spannung zu tun. Und das trifft natürlich auch alle human interessant Stories, die sich um eine potentielle Anteilnahme drehen.

Und man fragt sich natürlich auch, was aus diesen Menschen dann wohl wird. Tauchen sie wieder auf? Was ist ihnen widerfahren? Und sind sie wohlauf?

Jedenfalls zaubern Vermisstenanzeigen den adressierten Menschen echte emotionale Wärme hervor, wenn die angemessenen Opfergruppen die richtige sind – bei Kindern ist dies natürlich offensichtlich.

Anti-feminismus

Ich bin einer dieser alten weißen Männer, von denen man sich dieser Tage abwendet. Man warnt eben auch bei diesen, da sie nur ihre Geschlechterinteressen im Kopf hätten. Sie haben ein wachsend schlechteres Image.

Es gibt die Erwartungen von Protagonisten des Zeitgeistes, dass ich mich als einzelne Person verantworte und so auch schämen muss. Bildlich gesprochen soll ich in meinem Spiegelbild die hässliche Fratze des traditionellen Mannes sehen.

Doch das gelingt mir nicht. Natürlich wehre ich mich erst einmal pauschal gegen einen Vorwurf an sich. Dann zweifele ich daran, ob ich überhaupt mit einem generalisierten Bild vermengt werden darf. Und dann stellt sich mir auch noch die Frage, ob ich mich persönlich schuldig gemacht habe. Besitze ich all‘ diese Eigenschaften? Habe ich diesen gesellschaftlichen Status, der andere verdrängt?

Meine eigene Erfahrung kontrastiert mit den Annahmen der anderen: denn ich hatte nie etwas gegen Gleichstellung; des x hatte aber auch nie einen Spirit, sie zu forcieren. Meine Generation der 1964er hatte vielmehr das zentrale Problem, überhaupt in der Gesellschaft anzukommen. Denn wir mussten uns gegen viele durchsetzen; und wurden auch nicht gefördert (s. Bafög). Im Arbeitsleben angekommen, wurden vielmehr die jungen Frauen von Vorgesetzten umgarnt. Auch hatten sie bessere Startchancen, da sie auch damals schon die besseren Schulnoten vorweisen konnten – vielleiht auch weil sie eben braver waren?

Nun bezeichnete ich kürzlich eine Politikerin als ‚alte Zicke‘, weil ich ihren Stil ablehne. Auch hörte ich, wie sie persönlich mit Mitarbeitern umgeht. Doch eine Kollegin beschallte mich daher: „das kann auch nur einen Mann sagen! Und ‚wie‘ Sie das sagen!“ Bei mir dachte ich, dass sie weltfremd und ferngesteuert um in ein Feindesschema zu passen: „Aber was will die eigentlich?“ Dass ich niemals mehr eine Frau kritisiere? Mich aus dem sozialen Leben zurückziehe, um meine persönliche historische Schuld zu zelebrieren?

Tja, ich sehe mich eigentlich nicht als Anti-Feminist! Und auch nicht als Bösewicht. Aber ich lerne, dass ich das eben in den Augen anderer doch bin und bleibe.